Selbstmorde wegen Zinsanstieg
Die Fotos von Menschen, die während des Börsenkrachs im Jahr 1929 aus oberen Stockwerken von New Yorker Wolkenkratzern in den Tod springen, sind ikonographisch. Vergleichbares dürfte sich nicht wiederholen – schließlich sind die Fenster in Hochhäusern nicht mehr zu öffnen und es gibt Absicherungen für finanzielle Risiken wie Festzins oder Fonds mit Papieren aus unterschiedlichen Branchen. Nun berichtete Anfang März der Gouverneur der Reservebank of Australia – der Zentralbank des Landes –, er erhalte „täglich Briefe von Verzweifelten“, die unter den ständig ansteigenden Kreditzinsen litten. Er kündigte an, die Selbsthilfegruppe für Suizidgefährdete zu besuchen, um sich Rat zu holen. Seit Mai 2022 wurde der Leitzins um 3,25 Prozentpunkte auf 3,6 Prozent angehoben. Dort, wo die Banken den Anstieg weitergeben, was so gut wie überall der Fall ist, steigt die Zinslast für einen landestypischen, 30 Jahre laufenden Immobilienkredit über 640.000 Australische Dollar (400.800 Euro) bei variablem Zins um rund 1200 Dollar monatlich.
Arme Länder werden ärmer
Die Lage der armen Länder hatte sich bereits 2021 verschlechtert. 2022 verstärkte sich diese Entwicklung. Der Schuldendienst dieser Gruppe – Zahlungen, die nach China und an westliche Gläubiger gehen – erhöhte sich um 35 Prozent auf 62 Milliarden Dollar. Damit sind bei dieser Staatengruppe die Kosten für Zins und Tilgung höher als die Entwicklungshilfe. Ein wachsender Teil der Exporterlöse dient allein dem Schuldendienst. Die Gefahr weiterer Staatspleiten ist groß (siehe die aktuellen Pleite-Kandidaten im folgenden Kommentar).
Weltbank-Präsidentwird ausgetauscht
Mitte Februar kündigte David R. Malpass an, als Chef der Weltbank vorzeitig zurückzutreten – offensichtlich auf Druck der US-Regierung. Sein Nachfolger soll der indisch-stämmige US-Bürger Ajay Banga werden, früher Vorstandschef von Mastercard. Der deutsche Finanzminister Christian Lindner und sein französischer Kollege Bruno Le Maire sind angetan von dem Neuen. Doch zu bestellen haben die beiden nullkommanull – der Weltbank-Chef wird „traditionell“ von der US-Regierung gestellt.
Der überraschende Wechsel wird damit begründet, der Noch-Weltbank-Chef sei „Klimaskeptiker“. Tatsächlich war Malpass ein Trump-Mann und zuvor Staatssekretär im US-Finanzministerium. Es könnte allerdings sein, dass Malpass von der Biden-Administration den Laufpass erhielt, weil er sich zu sehr mit der Situation der Ärmsten der Armen befasst hat. So sagte er: „Die Schulden (der einkommensschwachen Länder) müssen deutlich gesenkt werden.“ Und: „Ich glaube, dass die globale Wirtschaftspolitik die Konzentration von Reichtum erklärt. Diese Politik hilft reichen Leuten und reichen Ländern.“ (in: FAZ vom 11.2.2022). Christian Lindner und Ajay Banga liegen auf einer Wellenlänge. Ajay Banga ist aktuell noch Vize-Vorsitzender von General Atlantic. Deren Beteiligungen an Delivery Hero, AirBnB, Flix (-Bus) und Axel Springer dürften dazu beigetragen haben, dass Lindner sagt, mit dem neuen Weltbank-Chef verbinde er „die Hoffnung auf künf tig mehr private Investitionen“.
Drama Pakistan
Lunapark21 berichtete in Heft 59/60 über die Finanzkrisen in der Türkei und Sri Lanka und zuvor in Heft 58 über die Staatspleiten im Libanon und in San Salvador. Seit Anfang 2023 steckt mit Pakistan das fünftgrößte Land (Bevölkerung: 230 Millionen) in einer vergleichbaren Krise. Die ausländischen Schulden machen 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus; 40 Prozent der staatlichen Einnahmen müssen für den Schuldendienst ausgegeben werden. Die Währung des Landes, Rupie, ist gegenüber dem Dollar auf ein Rekordtief gefallen. Die Verbraucherpreise steigen rasant; die Armut weitet sich dramatisch aus. Die Hilfen, die geboten werden, gleichen der Wahl zwischen Pest und Cholera: Der IWF bindet einen in Aussicht gestellten neuen Kredit an „Reformen“, die das Land umsetzen muss (u.a. Senkung der Subventionierung von Treibstoff). China – Pakistan steht in Peking mit 30 Milliarden Dollar in der Kreide – will im Fall neuer Hilfen seinen geostrategis chen Einfluss ausbauen, unter anderem mit dem geplanten Ausbau des Hafen Gwadar und der Kontrolle über denselben. Dabei müsste Pakistan ein Fall für uneigennützige, massive Hilfe durch die Staatengemeinschaft sein: Das Land erlitt im Sommer und Herbst 2022 eine vier Monate andauernde Überschwemmung, die schlimmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Rund 2000 Menschen wurden getötet, 33 Millionen Menschen sind von der Katastrophe direkt betroffen; acht Millionen verloren Haus und Heimat. Die Bundeszentrale für politische Bildung bilanzierte: „Pakistan gehört zu den zehn Ländern, die am stärksten von den Folgen des Klimawandels betroffen sind. Als Verursacher des Klimawandels spielt Pakistan mit weniger als einem Prozent der globalen CO2-Emissionen eine geringere Rolle.“ Die deutsche Regierung hat Hilfen für Pakistan in Höhe von rund 70 Millionen Euro zugesagt. Das ist deutlich weniger als der Wert der genehmigten deutschen Rüstungsexpor te an Pakistans Rivalen Indien in den Jahren 2020/2021 – was mit dazu beiträgt, dass Pakistan weiterhin einen großen Teil der Staatsausgaben für Rüstung ausgibt.
Geburtentourismus für Reisefreiheit
Seit den neuen gegen Russland gerichteten Sanktionen hat sich ein russischer Geburtentourismus nach Südamerika entwickelt. So reisten allein im Zeitraum Dezember 2022 bis Februar 2023 6000 Russinnen nach Argentinien; der größte Teil von ihnen schwanger. Die meisten stammen aus guten bis sehr guten Verhältnissen, mieten sich Wohnungen in schicken Wohnvierteln von Buenos Aires und besuchen Privatkliniken, wo sie ihre Kinder zur Welt bringen. Ein vergleichbares Phänomen gibt es in Brasilien. In der südbrasilianischen Stadt Florianópolis wurden in jüngerer Zeit so viele russische Babys geboren, dass sich die Eltern zusammengeschlossen haben, um einen orthodoxen Priester für die Taufen einzustellen. Neugeborene in diesen Ländern erhalten automatisch die Staatsangehörigkeit des Geburtslandes. Hat ein Kind die Staatsangehörigkeit des betreffenden Landes erhalten, ist es für die Familienmitglieder relativ einfach, den Wohnsitz dort zu registrieren und a nschließend ebenfalls die Staatsangehörigkeit zu beantragen. Der argentinische und brasilianische Pass wiederum erlaubt die visumfreie Einreise in mehr als 170 Länder. Beantragt werden kann damit auch ein zehn Jahre gültiges Visum für die begehrte Einreise in die USA. Daraus hat sich ein Geschäftszweig entwickelt. Es gibt Netzwerke für die Organisation solcher Reisen. Von diesen wird laut argentinischer Bundespolizei eine Paketlösung für die erleichterte Einbürgerung im Eilverfahren angeboten. Kostenpunkt 35.000 Dollar.
Türkei und Islamofaschismus
Die Türkei hat wahrlich große Probleme. Das Land wird gebeutelt von einer Hyperinflation, einer tiefen Wirtschaftskrise und einem Erdbeben, bei dem Staatsversagen und Korruption eine große Rolle spielen. Während diese Fakten weitgehend bekannt sind, wird eher selten über den sich ausbreitenden Islamo-Faschismus im Land berichtet. Als am 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, in mehreren türkischen Städten Frauen auf die Straße gingen, waren in den ersten zehn Monaten dieses Jahres bereits 300 Femizide, Morde an Frauen, offiziell registriert worden. Die Demos wurden gewaltsam aufgelöst.
In der Auseinandersetzung um Frauenrechte, Frauenmorde und islamistisch „begründetem“ Patriarchat spielt die Sängerin Sezen Aksu eine wichtige Rolle. In Erinnerung an die großartige Edith Piaf, der „Spatz von Paris“, wird diese Ikone der türkischen Popmusik als „der kleine Spatz der Türkei“ bezeichnet. Weil sie auch eine Stimme gegen Männergewalt ist, wird sie offen mit dem Tod bedroht – durch den Staatspräsidenten persönlich. Anlass ist das aus dem Jahr 2017 stammende Lied „Das Leben ist wunderbar“, in dem es die Zeilen gibt: „Wir sind unterwegs in die Apokalypse / Grüßt mir die unwissenden / Eva und Adam“. Es handle sich, so die Religionsbehörde Diyanet, um „Lästerung der Religion“. Präsident Erdogan kommentierte den Song 2022 wie folgt: „Niemand darf unseren Propheten Adam beleidigen. Niemand darf unsere Mutter Eva beleidigen.“ Und fügte hinzu: „Tut das doch jemand, ist es unsere Pflicht, di eser Person die Zunge herauszureißen.“ Eine Gruppe von Mitgliedern der Erdogan-Partei AKP zog nun vor Gericht, um Anzeige gegen Sezen Aksu zu erstatten – erneut mit den Drohungen: „Wir werden ihre Zungen abschneiden! Wir werden ihre Köpfe zermalmen.“
Um- und Absturz
Am 10. März wollte ich mit dem ICE 516 von Köln nach Hamburg reisen. Abfahrt planmäßig um 18.11 Uhr, kündete die Bahnhofstafel. Die Anzeige am Gleis: „fünf Minuten später“. Die vergingen, dann Durchsage: „zehn Minuten später“ wegen Reparatur am Zug. Neue Ansage: „zwanzig Minuten später“ wegen eines umgestürzten Baumes. Keine weitere Durchsage. Schließlich kam der Zug mit halbstündiger Verspätung.
Gegen 20.20 Uhr erreichte der ICE 516 Münster. Nach längerer Standzeit ließ sich der Lokführer vernehmen, er habe noch keine Information, warum es nicht weiterginge. Zehn Minuten später wusste er auch nicht mehr. Etwa noch ein Baum auf die Strecke gekippt? Dann die Aufklärung: Kein weiterer Umsturz, stattdessen ein Absturz. Und zwar im Stellwerk Lengerich. Und bis der behoben, führe kein Zug.
Nach gut einer Stunde in Münster teilte der Lokführer mit, eine Umleitung gebe es nicht, die Freigabe der Strecke sei nicht abzusehen, Busse könnten leider nicht bereitgestellt werden, aber am Service-Point im Bahnhof würde man sicherlich helfen. Da ich im letzten Wagen saß, war ich als letzter am Service-Point. Zwei Damen am Schalter und hundert Personen in der Schlange. „Hotels ausgebucht.“
Um ein Uhr in der Nacht kam ich in Hamburg an, per Taxi aus Münster.
AG
Sweet child in time
You‘ll see the line
The line that‘s drawn between
Good and bad
See the blind man
Shooting at the world
Bullets flying
Oh, taking toll
Süßes Kind,
Mit der Zeit wirst du die Linie erkennen,
Die Linie, die gezogen ist
Zwischen Gut und Böse.
Schau auf den Blinden,
Der auf die Welt schießt.
Die Kugeln fliegen,
Oh, sie fordern Tribut.
Der „blinde Mann“ von 1969 hieß Richard Nixon und war Präsident der USA. Den Protestsong gegen den Vietnamkrieg „Child in Time“ schrieb die britische Rock-Band Deep Purple im Jahr 1969. Er erschien 1970 auf dem Album „Deep Purple in Rock“ und zählt zu den bekanntesten Liedern der Rockgeschichte. Der Song war Inspiration für unser Titelblild. Wir haben das Cover des 1970er Deep-Purple-Albums aktualisiert.