Ein Votum für einen neuen europäischen Imperialismus?

Das Bundestagswahlergebnis und seine Folgen

Egal, ob sie Positives erreichen oder Negatives verhindern wollten, die Wahlberechtigten haben die Bundestagswahl am 23. Februar 2025 sehr ernst genommen. Die Beteiligung lag bei 82,5 Prozent, über 49,6 Millionen Menschen gaben eine gültige Stimme ab. Da es keine Wahlpflicht gibt, haben sie sich alle aus eigenen, unterschiedlichen politischen Gründen aufgemacht.

Die Initiative für die beiden prägenden Ereignisse des Wahlkampfes gingen von (groß)bürgerlichen Parteien aus. Am Anfang stand der Austritt der FDP aus der Ampelregierung. Auf offener Bühne beging die Partei Selbstmord aus Angst vor dem Tode. Ihre tiefe Verwirrung wird daran deutlich, dass sie ausgerechnet die Einhaltung der Schuldenbremse zum Scheidungsgrund machte. Parteiübergreifend wird überall nach Möglichkeiten gesucht, dieser Einschränkung der staatlichen Handlungsfähigkeit zu entkommen – aber die kleine FDP will alle auf sie vereidigen? Das war weder glaubwürdig noch zukunftsträchtig.

Zweieinhalb Monate später gelang es der CDU/CSU, der Endphase des Wahlkampfes einen ganz neuen Charakter zu geben. Sie versuchte, mit einer ausländerfeindlichen Agenda der AfD Stimmen abzujagen – während sie zugleich mit der Zustimmung der AfD die SPD und Grüne erpressen wollte. Das ist gescheitert. SPD und Grüne verweigerten die offene Kapitulation. Massendemonstrationen gegen Rechts füllten wieder – wie Anfang 2024 – Straßen und Plätze, auch jenseits der Großstädte. Abweichler in den Reihen der Union und der FDP erhielten von Angela Merkel, der »Oma gegen Rechts« (taz), öffentliche Rückendeckung. »Die Linke« im Bundestag hatte eine große Stunde. Selbst die Zustimmung der AfD und des BSW konnten dem Zustrombegrenzungsgesetz zu keiner Mehrheit verhelfen. Eine erfolgreiche Schandtat kann Zuspruch mobilisieren, ein gescheiterter Coup aber nicht. Die Union blieb unter 30 Prozent.

Elfmeter verwandelt

Für die Linkspartei war das letzte Jahr eine Nahtoderfahrung. Aber die Partei hat sich nach dem Austritt des BSW aufgerappelt. Schon im September, als der Vorstand der Grünen Jugend zurück- und mehrheitlich aus der Partei austrat, kündigten sich neue Perspektiven an. In ihrem sehr aktiven Wahlkampf konzentrierte sich die Linkspartei auf soziale Fragen wie Mieten und Preissteigerungen. Sie hat ihre Mitgliedschaft und ein Umfeld mobilisieren können. Das war die Basis, wichtig, aber allein nicht entscheidend. Der Wahlkampf hätte für sie auch ganz anders ausgehen können. Dann aber legte Friedrich Merz am 29. Januar den Ball auf den Elfmeterpunkt, »Die Linke« konnte verwandeln und wurde am Wahltag reich beschenkt. Für viele, die im letzten Jahr gegen Rechts demonstriert hatten, war endlich ein Bezugspunkt auszumachen.

Nun sind die Wahlen vorbei und die Frage bleibt, ob es der Linkspartei wie den Lottogewinnern ergeht, die ihren Gewinn wieder verspielen. Historische Analogien finden sich immer. Für die PDS wäre es die Berliner Abgeordnetenhauswahl 2001, für »Die Linke« die Bundestagswahl 2009. In beiden Fällen jubelte die Partei über die Vergrößerung ihrer politischen Möglichkeiten und übersah die unveränderten gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Für die aktuelle Lage müssen wir nur Spiderman etwas abwandeln: »Aus größerer Kraft folgt größere Verantwortung.«

Die nächste Regierung

Mit der lautstarken Verabschiedung der Ära Merkel hatten Merz & Co. ihre eigene Zeitenwende ausgerufen. Doch die CDU hat nicht gewonnen. Sie hat nur die Wahlverlierer beerbt. Am Tag danach erinnerte die Vorgängerin an das Wahlergebnis der rechten Konkurrenz am Ende ihrer Amtszeit: 2021 lag die AfD bei 10,3 Prozent. Am 23. Februar 2025 sind es 20,8 Prozent geworden.

Die rechnerische Mehrheit von Union und AfD im Bundestag ist keine politische Mehrheit. Die Forschungsgruppe Wahlen meldet, das aktuell 67 Prozent der Befragten in der AfD »eine Gefahr für unsere Demokratie sehen«. Nach der Allensbach-Umfrage unter den deutschen »Eliten« wollten im Januar 2025 stolze 64 Prozent der Befragten in der Präsidentschaft Donald Trumps »eine Chance« erkennen. Bei einigen ist diese Antwort nur Ausdruck der Hoffnung, weiter in den USA gute Geschäfte zu machen. Bei anderen ist es Ausdruck der Hoffnung, in einem autoritären Staat weniger Rücksicht nehmen zu müssen: auf Beschäftigte, auf Gewerkschaften, die Umwelt und Konsumentenrechte. Nach Jahren der Stagnation macht sich die Kapitalseite ernsthaft Sorgen um ihren Standort Deutschland. Auch hierzulande suchen einige Unternehmenslenker nach »vernünftigen Leuten« von ganz rechts.

Das heißt aber nicht, dass man in größerem Umfang mit der AfD gemeinsame Sache machen kann. Ein Exportland, das sich von der Welt isoliert, wird nicht gut funktionieren. Jeden Tag liefert die Regierung Trump Gründe, sich von der einstigen Führungsmacht der freien Welt zu emanzipieren. Angesichts neuer geopolitischer Konflikte ist das Programm von Merz ein erfolgreiches Deutschland in einer erfolgreichen EU, ein neuer europäischer Imperialismus. Viele politische, wirtschaftliche und militärische Voraussetzungen dafür müssen erst noch geschaffen werden.

 Im Kampf um die Regierung hatte die CDU/CSU 2023 erfolgreich das Bundesverfassungsgericht angerufen, um den »Klima- und Transformationsfonds« der Ampelregierung zu verhindern. Damals ging es um 60 Milliarden Euro, heute um ganz andere Summen – aber auch um andere Zwecke. Eine massive Aufrüstung soll von den Auflagen der Schuldenbremse ausgenommen, daneben in zehn Jahren 500 Milliarden in verschiedene Bereiche der Infrastruktur gesteckt werden. Die SPD wird mittun. Seit Hartz-IV strukturell mehrheitsunfähig, befindet sie sich als kleinere Ergänzung zur CDU in einer babylonischen Gefangenschaft.

Ein Denkmal für St. Florian

Die meisten deutschen Wahlberechtigten sind älter als 50 Jahre. Man kann davon ausgehen, dass ihnen ein Spruch geläufig ist, der sich in ländlichen Gebieten noch an manchen Hauswänden findet: »Heiliger Sankt Florian / Verschon’ mein Haus, zünd’ and’re an!« Eine eingängige Formulierung für das Prinzip des Privateigentums: Jede/r sich selbst der oder die Nächste.

Eine politische Folge dieses Denkens ist auf den Karten mit den Wahlergebnissen zu sehen: Der ganze Osten um Berlin ist bei den Erststimmen »blau«, von Kap Arkona bis Plauen, von drei Wahlkreisen abgesehen. Und auch in Berlin ist es der AfD erstmals gelungen, ein Direktmandat zu erreichen (in Marzahn-Hellersdorf). Warum? In Frankreich hat es die Linke 2024 hinbekommen, einen Durchmarsch des Rassemblement National zu verhindern. Durch die Bildung einer gemeinsamen Plattform, durch Wahlabsprachen und vor allem durch eine sehr aufmerksame Wähler:innenschaft, die Prioritäten gesetzt hat. Die Rechten nicht zu wählen war ihnen wichtiger als der jeweils eigene Kirchturm. Hierzulande scheint so etwas nicht zu gehen. Das heißt etwas.

Selbstverständlich ist hier nicht nur »Die Linke« in der Verantwortung. Doch das »Der hat aber angefangen!«-Argument gehört in den Buddelkasten und wird der politischen Lage nicht gerecht. Der Wahlerfolg der AfD im Osten ist ein Denkmal für St. Florian.

In den sechziger Jahren schrieb der Politikwissenschaftler Karl W. Deutsch: »Macht hat in einem gewissen Sinne derjenige, der es sich leisten kann, nichts lernen zu müssen.« Er brachte damit ein wichtiges Argument für die Begrenzung von Macht und gegen autoritäre Modelle aller Art auf den Punkt: Leute, die zu viel Macht haben, müssen nichts lernen. Bis irgendwann der Punkt kommt, an dem ihre Macht allein zum Machterhalt nicht mehr ausreicht – aber bis dahin geht meist viel kaputt. Karl W. Deutsch hat damit zugleich den kleinen Leuten eine Mahnung mitgegeben: So anstrengend Aufklärung, Lernen und Wissenschaft auch sind – und sie sind anstrengend – sie können es sich gar nicht leisten, darauf zu verzichten. Solange sie versuchen, sich nur um ihre eigene kleine Welt zu kümmern, wird die große Welt mit ihren Umbrüchen alle Lebenspläne durcheinanderwirbeln. Am 23. Februar haben sich Millionen Menschen aufgemacht, um Positives zu erreichen oder  Negatives zu verhindern. Jetzt kommt es darauf an, was sie mit den Folgen ihrer Wahlentscheidung anfangen.