Editorial Heft 59

Liebe Leserin, lieber Leser,

in diesen Monaten, Wochen und Tagen hat man den Eindruck, dass uns immer neue verstörende und zerstörerische Dinge um die Ohren fliegen. Das Cover dieses Heftes verwendet ein Foto einer raumplastischen Nachbildung einer explodierenden Granate im Militärhistorischen Museum in Dresden.*

Hitzesommer, Waldbrände, kein Wasser im Po-Tal, Niedrigwasser im Rhein, und, ganz allgemein, das Erreichen drohender Klimakipppunkte; dann die Expansion des Ukraine-Kriegs mit neuen nuklearen Drohungen, ein türkischer Präsident, der gleich an drei Fronten (Nordirak, Rojava, Ägäis) militärisch interveniert oder zu intervenieren droht; der Sieg des rechten und neofaschistischen Lagers bei der Parlamentswahl in Italien, Inflationsrekorde, neue Rezessionsängste, drohende nächste Eurokrise…

Und das ist noch lange nicht alles. Lunapark21 bemüht sich zwar, dieses breite Spektrum an Horrornachrichten zu berücksichtigen bzw. darauf mit Berichten und Analysen – und auch mit Mut-Machendem – einzugehen. Ganz gelingen kann uns dies indesssen nicht; zu zahlreich sind die Negativ-Entwicklungen.

Die Documenta 15 in Kassel, die am 25. September die Tore schloss, wurde in vielen deutschen Medien fast ausschließlich unter dem Aspekt „Antisemitismus“ „abgehandelt“. Dass der Vorwurf „Antisemitismus“ seit vielen Jahren als Vorwand dafür genutzt wird, um fortschrittliche Positionen – und insbesondere berechtigte Kritik an der völkerrechtswidrigen Politik der Regierungen in Tel Aviv gegenüber der palästinensischen Bevölkerung – auszugrenzen, ist nicht neu. Im konkreten Fall ging es vor allem darum, dass die auf der Kasseler Kunstausstellung präsentierten vielfältigen Positionen aus dem globalen Süden, die Vorwürfe von Kolonialismus und Rassismus, nicht auf die politische Tagesordnung gelangen sollten. Inwieweit die deutschen Verantwortlichen für die Documenta mit mehr Fingerspitzengefühl der Totschlagkeule Antisemitismus hätten ausweichen können, sei hier dahingestellt. Die krasse Ungleichgewichtung, mit der der Antisemitismus-Vorwurf im Fall der Documenta vorgetragen wurde, ist jedoch augenfällig. Da reichten zwei oder drei problematische Darstellungen in Wimmelbildern für den Vorwurf aus, die gesamte Ausstellung mit ihren Tausenden Exponaten sei von Antisemitismus geprägt. Das wurde auch weiter so vorgetragen, nachdem diese Bilder abgehängt worden waren. So gut wie keine massive öffentliche Reaktion gibt es dann dort, wo in Deutschland von offizieller Seite Antisemitismus ungeniert zur Schau gestellt wird. Vier Tage vor Eröffnung der Documenta hatte der Bundesgerichtshof die Klage eines Juden abgewiesen, der sich von einem Relief an der Außenwand der Stadtkirche von Wittenberg beleidigt sieht. Das Relief zeigt Juden, die sich an den Geschlechtsorganen einer Sau zu schaffen machen. In Deutschland gibt es an mehr als drei Dutzend Kirchen solche „Juden-Säue“. Nur in Wittenberg wurde dies öffentlich kritisiert und problematisiert – mit dem Ergebnis, dass das dafür letztinstanzlich entscheidende Gericht feststellt, öffentlich zur Schau gestellter Antisemitismus sei eben kein Antisemitismus, sondern irgendwie kulturgeschichtlich zu verstehen. Es war die FAZ, die schrieb: Dieser „Text des höchstrichterlichen Urteils liest sich wie die Vorlage für die Erklärung des Künstlerkollektivs“ (auf der Documenta).

Lunapark21 hat seit Gründung 2008 immer einen Schwerpunkt im Bereich Verkehr und Bahn. Im Zeitraum 2009 bis 2019 erschienen – ergänzend zu den Quartalsheften – 16 LP21-Extrahefte, von denen knapp die Hälfte verkehrspolitischen Themen gewidmet war. Auch wenn die Extrahefte vor zwei Jahren aufgegeben wurden, setzen wir die Tradition nun im Oktober 2022 fort. Wir publizieren in Ergänzung zum „normalen“ Quartalsheft ein Sonderheft, in dem wir die Referate der Konferenz „Klimabahn statt Betonbahn“, die am 14. und 15. Mai in Stuttgart stattfand, dokumentieren. Das Heft geht als „Bonus“ an alle unsere Abonnentinnen und Abonnenten. Es kann auch getrennt über unsere Bestelladresse bezogen werden.

Dieses Heft ist ein Doppelheft (Nr. 59/60). Der Grund: eine ernsthafte Erkrankung meinerseits. Bei der ist erst Ende dieses Jahres abzusehen, wie es weitergeht. Mit der Bitte um Verständnis und in der Hoffnung auf ein Weitermachen und Wiedersehen, dann Anfang 2023. Eine erkenntnisreiche Lektüre wünscht: Winfried Wolf

* Das Foto für unser Cover machte Jürgen Bönig im August im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden. Das raumplastisches Gebilde einer explodierenden Granate entstand nach einem Konzept von Merz/Holzer Kobler (hgmerz.com u. holzerkobler.com).