Doppelstandards und Blindheit in der historischen Rückschau
An viele der Krisen und Kriege seit dem Zweiten Weltkrieg erinnern wir uns kaum, oder wir haben sie verdrängt, vergessen oder wollen sie als Beiträge zu Frieden, Freiheit, Demokratie und Sicherheit wahrnehmen.
Thilo Bode, langjähriger Chef von Greenpeace und bis Ende vergangenen Jahres Geschäftsführer von Foodwatch International erinnerte sich im Mai im Zeit-Interview an einen Besuch im Jahr 1969 bei seinem Vater, der damals Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Singapur war. Die Faktenlage und der Standpunkt respektive das väterliche Narrativ bezüglich des Vietnamkriegs stimmten überein: „Der Vietnamkrieg ist ein verbrecherischer Krieg der USA.“ Für den 22-Jährigen wie für den heute 75-Jährigen Bode gilt diese Übereinstimmung von Fakten und Narrativ ebenfalls für den aktuellen Ukraine-Krieg: „Der russische Angriffskrieg ist ein schreckliches Verbrechen“.
Der Historiker, Politikwissenschaftler und Professor der Hamburger Universität im Ruhestand, Bernd Greiner, hat aus der Vielzahl seiner Einzelstudien und Forschungen zu den Schwerpunkten US-amerikanische Geschichte des 20. Jahrhunderts und Geschichte des deutsch-amerikanischen Verhältnisses einige Monate vor Beginn des Krieges Russlands gegen die Ukraine eine Überblicksdarstellung veröffentlicht, in der es um den Widerspruch geht, als Weltmacht von 1945 bis heute einerseits „die meisten Kriege geführt, wiederholt Angriffskriege vom Zaun gebrochen und das Völkerrecht mit Füßen getreten zu haben“, und andererseits als Weltmacht zu gelten, die für Frieden, Freiheit und Sicherheit sowie für universal gültige Menschenrechte eintrete: „Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben“, so der Titel des im vergangenen September erschienenen Buches.
Für den Regensburger Historiker und Professor für American Studies, Volker Depkat, ist es „ein Schwarzbuch der US-Außenpolitik vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die unmittelbare Gegenwart“, in dem Greiner fakten-, zitat- und literaturgesättigt nachweise, dass die US-Regierungen in Lateinamerika, Südostasien und im Mittleren Osten nur Unheil angerichtet und im Vollzug ihrer aggressiv-interventionistischen Außenpolitik einen von der Exekutive auf Kosten der Legislative dominierten Sicherheits- und Geheimdienststaat aufgebaut hätten, dazu die Mechanismen der Gewaltenteilung außer Kraft setzend.
Unter den insgesamt neun Kapiteln des Buches, in denen Greiner an die verschiedensten kriegerischen Interventionen der USA erinnert, soll hier auf drei Abschnitte näher eingegangen werden.
Zu Guatemala und zum Iran
(Aus dem Kapitel „Unter anderem Guatemala“): „Innerhalb eines knappen Jahres, vom August 1953 bis zum Juni 1954, machten beide Staaten aus einem einzigen Grund Schlagzeilen – weil die Regierung in Washington der Meinung war, dass die künftige Ordnung der Welt von einer politischen Flurbereinigung in Guatemala und im Iran abhing. Und weil der amerikanische Geheimdienst den Vorsatz auf seine Weise realisierte – indem er zwei demokratisch legitimierte Regierungen aus ihren Ämtern putschte.“ Und warum? Die guatemaltekische Regierung unter Jacobo Árbenz hatte eines ihrer zentralen Anliegen, die vom Parlament verabschiedete Landreform, in die Tat umgesetzt, indem sie Landbesitzer mit mindestens 90 Hektar gegen Entschädigung gemäß den von diesen erklärten Steuerschätzwerten dann enteignete, wenn sie mehr als ein Drittel nicht bewirtschafteten. 100.000 verarmte Familien kamen so innerhalb von 18 Monaten in den Besitz von 600.000 Hektar Land.
Die völkerrechtswidrige Methode, souveränen lateinamerikanischen Staaten eine eigenständige Innen- und Außenpolitik abzusprechen und ihre Botmäßigkeit mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu erzwingen, hatte spätestens mit der Monroe-Doktrin 1823 eine definierte Gestalt angenommen, wonach man etwa Kuba und Puerto Rico 1898 zur exklusiven Einflusszone erklärte und Kolumbien 1903 die Abtretung von Land für den Bau eines Kanals zwischen Atlantik und Pazifik verweigerte und stattdessen mittels Einsatz von Kriegsschiffen die Abspaltung des Zwergstaates Panama erzwang.
Gegen Panama und dessen bis dahin als engen Gefolgsmann behandelten De-facto-Regierungschef Manuel Noriega führten die USA 1989 die größte militärische Luftlande-Operation seit dem Zweiten Weltkrieg durch. Dabei hatten US-Medien bereits 1986 enthüllt, dass Noriega seit mindestens zehn Jahren auf der Gehaltsliste der CIA stand. Da Waffen über Panama an die Contra-Rebellen in Nicaragua gingen, die die linksgerichteten Sandinisten stürzen sollten, schloss die CIA im Gegenzug die Augen vor Noriegas Geschäften mit dem Medellín-Kartell. In Ungnade fiel er erst, als seine Geschäftsinteressen mit denen der USA kollidierten. „Wer Unabhängigkeit anstrebt, ist von einem politischen Virus befallen und muss in Quarantäne“, diagnostiziert Greiner.
1909 hatten US-Marines Nicaragua besetzt und blieben 24 Jahre, in Haiti fielen sie 1914 ein. Immer wieder und bis in die Gegenwart ging und geht es um die wirtschafts- und weltpolitischen Ziele der USA. Im Iran ging es um neokoloniale britische Erdölinteressen, die Premierminister Mohammad Mossadegh, wie auch die iranische Nationalversammlung und der Senat, nicht bedingungslos weiter bedienen wollten und eine Verstaatlichung der anglo-iranischen Ölgesellschaft beschlossen, verbunden mit dem Angebot von Ausgleichszahlungen. Mit den Erlösen des Erdölexports sollten Sozialprojekte und eine Landreform zugunsten der ärmeren Bevölkerung umgesetzt werden.
Die amerikanische Regierung fürchtete, der Iran könnte in Richtung Blockfreiheit gehen, so wie Indien unter Nehru und Argentinien unter Perón. Mit der Operation Ajax, benannt nach dem populären Haushaltsreiniger, lieferte die CIA „ihr Gesellenstück ab. Auf Geheiß des Weißen Hauses wurden seit März 1953 eine Million Dollar an die Außenstelle in Teheran zur freien Verwendung überwiesen. Kermit Roosevelt Jr., Enkel des früheren Präsidenten Theodore Roosevelt und geheimdienstlicher Statthalter im Iran, nutzte das Geld für eine Denunziationskampagne gegen die Regierung.“ Mit der „erkauften Illoyalität ausgewählter Offiziere und Polizeikommandeure“ gelang der Coup. Nach seiner Verhaftung resümierte Mossadegh: „Mein einziges Verbrechen bestand darin, dass ich die iranische Ölindustrie nationalisierte und das Netzwerk des Kolonialismus zerschlagen habe.“
Zum Krieg in Vietnam
(Aus dem Kapitel „Gewinnen um jeden Preis“): „Zu keiner anderen Zeit und an keinem anderen Ort wurden derart viele Vernichtungsmittel eingesetzt. Allein in den Jahren 1966 bis 1968 klinkten Kampfflugzeuge der USA und ihrer Verbündeten 2.865.808 Tonnen Bomben über Vietnam, Laos und Kambodscha aus – gut 800.000 Tonnen mehr als auf allen Schauplätzen des Zweiten Weltkrieges.“ Mindestens 1.353.000 Menschen kamen im Vietnamkrieg um. Manche Statistiken weisen laut Greiner mehr als zwei Millionen Todesopfer aus, der überwiegende Teil Zivilisten.
Die amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, Lyndon B. Johnson und Richard Nixon führten diesen verheerenden Krieg, weil sie, so Greiner, gleichermaßen einer machtpolitischen Auffassung und vermeintlichen Einsicht folgten: „Im Grunde verspielt eine Weltmacht ihre Glaubwürdigkeit, sobald Zweifel an ihrer Gewaltbereitschaft geduldet werden – an ihrem Willen zum Risiko und ihrer Bereitschaft zum Krieg.“ Johnson drückte es so aus: „Vietnam als solches war nicht bedeutend. Was am Beispiel Vietnam zählte, war, dass Freunden und Verbündeten demonstrativ amerikanische Unterstützung und unseren Feinden amerikanische Willensstärke vor Augen geführt wurde.“
Zum Krieg in Afghanistan
(Aus dem Kapitel „Verbrannte Erde“): In einem nach europäischem Verständnis funktionierenden Rechtsstaat hätte 9/11 nach dem Kapern von vier zivilen Flugzeugen durch vier islamistische Terrorgruppen und den Anschlägen auf die Zwillingstürme des World Trade Center, zu einem zwischen Geheimdiensten und Polizei koordinierten Einsatz für die Ergreifung der Täter und ihrer Hintermänner führen müssen, nicht aber zum Krieg gegen Afghanistan. Denn dieser Staat hatte die USA nicht angegriffen. So habe der auf unbegrenzte Zeit angelegte „War on Terror“ begonnen, in dem es den USA nicht um Nation Building, sondern um ihr Verständnis von Gerechtigkeit gegangen sei. Von den 132 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau Afghanistans seien zwar Hilfen auch im Gesundheits- und Bildungswesen angekommen, aber der Löwenanteil sei in den Händen von Warlords verblieben, sei in der Bürokratie oder in nicht nachhaltigen Projekten versickert.
Und als noch keine drei Monate nach dem 11. September bereits Pläne reiften, statt der Taliban einen anderen Feind ins Visier zu nehmen, sei deutlich geworden, dass es ein substantielles Interesse seitens der Administration unter George W. Bush an einem funktionierenden afghanischen Staatswesen und dem Auskommen seiner Bewohner:innen nicht gegeben habe. Stattdessen wurde das Pentagon beauftragt, einen Krieg gegen den Irak des Saddam Hussein vom Zaun zu brechen.
Das Lügengeflecht, das zur Begründung des Irakkrieges 2003 USAußenminister Colin Powell der Uno vorgetragen hatte, klärte dieser Jahre später nach seiner Amtsaufgabe selbst auf. „Am 20. März 2003 begann der völkerrechtswidrige Angriffskrieg unter dem Codenamen ›Operation Iraqi Freedom‹, wozu der Verteidigungsminister Rumsfeld an den Befehlshaber des Irak-Einsatzes, Tommy Franks, schrieb: ›Es muss so aussehen, als wären wir zu allem fähig und bereit, um unserer nationalen Interessen willen alles zu riskieren. Wenn wir hehre Ziele erreichen wollen, müssen wir bereit sein, auf die schäbigste Weise zu handeln‹.“ An dieser propagierten Vorgehensweise, so Greiner weiter, hätten die Regierungen der USA weder im Irak-Krieg bis 2011 noch im 20 Jahre andauernden US-Nato-Krieg in Afghanistan den geringsten Zweifel gelassen.
In Anbetracht Hunderter oder Tausender Kriegsverbrechen, die die USA seit 1945 in über 30 Kriegen zu verantworten haben, beantwortet Greiner die Frage, welche Sicherungen es nach der Wahl von Donald Trump 2016 in den USA „gegen einen am Rande des Irrsinns taumelnden, selbst zu einem Staatsstreich fähigen Präsidenten“ künftig noch gebe, mit: Keine.
Das immer noch bestehende Gefangenenlager in Guantanamo wirft ein weiteres Schlaglicht auf die USA und deren Partner, die es unterlassen, auf eine Auflösung hinzuwirken und die es ebenso verabsäumen, sich gegen die Verfolgung von Julien Assange und Edward Snowden, die sich um die Aufklärung von Menschheitsverbrechen verdient gemacht haben, auszusprechen.
Die verbreitete Einstellung nicht nur der deutschen Bundesregierung gegenüber dem Ukrainekrieg beschreibt der Soziologe Stephan Lessenich als Ausdruck einer Strategie der Optimierung von Doppelstandards, indem Deutschland, die EU, die Nato-Staaten unter Führung der USA den „Krieg in Europa ächten, aber im Rest der Welt Krieg geschehen lassen“ oder auch selbst führen. Diese Haltung folgt dem in der Politik und in vielen Medien weithin herrschenden Narrativ wertegeleiteter Außenpolitik, ist aber unmittelbar und mehr denn je mit krudester imperialer Geopolitik seitens der westlichen Führungsmacht verbunden – und in vielen Fällen mit einer Art von nützlicher, politisch motivierter und selbst verordneter Blindheit im sogenannten westlichen Lager.
Jürgen Hahn-Schröder, Jahrgang 1952, Lehrer i.R. mit Auslandsschulerfahrungen, jahrzehntelanges Mitglied und ehrenamtlicher Aktivist der GEW, hat seine berufsbedingte Last des Korrigierens als Mitstreiter im LP21-Team zur Korrekturlust weiterentwickelt. Er betreut die Lunapark-Rubrik ›Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus‹.
Bernd Greiner: Made in Washington – Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben
München, 2021, C. H. Beck, 288 Seiten, 16,95 Euro