kolumne winfried wolf
Wir stehen inmitten einer neuen weltweiten Krise. Die vorausgegangene hatte ihren „Schwarzen Schwan“ in Gestalt der Pleite des Finanzinstituts Lehman Brothers am 15. September 2008. Die gegenwärtige hat ihren „Schwarzen Schwan“ in Gestalt des neuen Corona-Virus (Covid-19), über dessen Existenz zum ersten Mal am 7. Januar 2020 informiert wurde.
Doch in beiden Fällen schwammen diese „Schwarzen Schwäne“ deutlich dem Ereignis Krise hinterher. Die letzte Weltwirtschaftskrise hatte spätestens im Herbst 2007 mit dem Platzen der Subprime-Kredite in den USA begonnen. Die aktuelle Krise begann im Herbst 2019 in China. Anfang Januar 2020 waren die Weltautoproduktion gegenüber dem vorausgegangenen Höchststand bereits um knapp 9 Prozent, die Autoindustrie in China um 20 Prozent, der Absatz von Elektroautos in China um 30 Prozent und die deutsche Industrie um vier Prozent abgeschmiert (siehe Seiten 4f). Diese neue Krise wurde von Ökonomen wie Robert Shiller und Nouriel Roubini prognostiziert.1 Sie wurde auch in dieser Zeitschrift seit Ende 2018 vorhergesagt und beschrieben.2
Damit verblasst auch das „Besondere“, das für den vergangenen Zyklus immer wieder behauptet wurde, wonach wir einen „historisch einmalig langen Konjunkturaufschwung“ erlebten. Die neue Krise begann im Herbst 2019 – nach einem neun Jahre währenden, schwächlichen Wirtschaftswachstum. Die Länge des Zyklus 2009-2019 ist weitgehend identisch mit der Länge der Zyklen 1982-1990 und 1990-2000. Unsere Grundaussagen, dass die kapitalistische Weltwirtschaft spätestens seit 1974/75 ihren typisch zyklischen Verlauf nimmt, dass es diese zyklische Bewegungsform seit Anfang des 19. Jahrhunderts gibt und dass es lediglich Kriege und große Krisen waren, die diesen zyklischen Verlauf abänderten, bestätigt sich ein weiteres Mal.
Dennoch gibt es erneut ein Verwirrspiel bei der Bezeichnung der Krise. Am 2. März erklärte die OECD, die Prognosen für die Weltwirtschaft müssten „wegen des Corona-Virus und seiner wirtschaftlichen Folgen“ gesenkt werden. Es liegt auf der Hand, dass bald nur noch von einer Corona-Krise gesprochen wird. Vergleichbares gab es 1974/75. Damals erlebten wir die erste große Krise seit der Weltwirtschaftskrise 1929-33. Da nicht sein durfte, was tatsächlich stattfand, da eine Wiederkehr ordinärer kapitalistischer Krisen von den seit 1948 vorherrschenden Wirtschaftswissenschaften geleugnet wurde, war bald der Bösewicht identifiziert: Es waren der Ölpreis respektive die „Scheichs“, die die Welt ins Chaos gestürzt und die Arbeitslosenzahl allein in Westdeutschland von 250.000 im Jahresdurchschnitt 1973 auf mehr als eine Millionen 1975 hatten hochschnellen lassen. Tatsächlich hatte das OPEC-Kartell als Reaktion auf den Nahostkrieg die Öllieferungen an den Westen drastisch verknappt; der Ölpreis hatte sich verdreifacht. Doch bereits damals handelte es sich beim Ölpreis ebenso wie heute beim Corona-Virus lediglich um einen Nebenaspekt im Wirtschaftsgeschehen. Für das Publikum aber war der Begriff „Ölkrise“ ideal. Später bemühten sich die Medien bei fast jeder Krise, für diese eine spezifische Erklärung zu drechseln. Da gab es eine „Asien-Krise“, eine „Rubel-Krise“, eine „Tequila-Krise“, eine „IT-Krise“ und eine „Subprime-Krise“.
Nun also eine Krise, bei der eine Epidemie die Ursache sein soll. Tatsächlich gab es in den letzten zweihundert Jahren ein Dutzend Epidemien und einige Pandemien ohne größere Rückwirkungen auf die Ökonomie. Die „Spanische Grippe“ 1918/19 mit mehr als 25 Millionen Toten und die „Asiatische Grippe“ 1957/58 mit bis zu zwei Millionen Toten hatten keine größeren Auswirkungen auf die Weltwirtschaft.
All das Gerede von der „vernetzten Weltwirtschaft“, von der „Bedeutung der Chinesen für den Welttourismusmarkt“, von dem „stark gestörten Weltflugverkehr“ und den brachliegenden Container-Schiffen – nett und gut. Doch warum bloß stieg in der Sars-Krise die Nachfrage nach Autos drastisch an; insbesondere in China? Und warum bricht sie aktuell ein, erneut insbesondere in China? Weil wir 2002/2003 Jahre des Aufschwungs, nach der überstandenen „IT-Krise“, hatten beziehungsweise weil wir uns seit Ende 2019 inmitten dieser neuen Krise befinden.
Begriffe wie „Ölkrise“ und „Corona-Krise“ werden gewählt, weil man den Menschen eine Erklärung bieten will, die „von außen“ kommt, weil nicht sein darf, was der Fall ist: Wir erleben eine neue ordinäre kapitalistische Krise. Und diese könnte nochmals heftiger als die vorangegangene ausfallen.
Denn eines ist in der aktuellen Krise offensichtlich anders als 2008/2009: Damals begann die Krise mit einem Finanzcrash (Subprime, IKB, Lehman). Sie mündete erst 2009 in einen Einbruch der materiellen Produktion (u.a. mit der Pleite der Autoriesen GM und Chrysler). Dieses Mal beginnt die Krise eher klassisch als Überproduktionskrise in der materiellen Produktion. Sie hat erst Ende Februar die Börsen erfasst. Und sie wird den Finanzsektor erst noch erfassen. Das macht diese Krise besonders bedrohlich.
Diese Krise wird vier entscheidende Schauplätze haben, die sich in gefährlicher Wechselwirkung zueinander befinden. Da ist zunächst die zweitgrößte Ökonomie der Welt. Zum ersten Mal wird China nicht mehr als „Krisendämpfer“ wirken. Das Land mit all seinen Stärken (immer noch gibt es die erhebliche staatliche Einflussnahme auf die kapitalistische Ökonomie) und seinen Schwächen (der stark gestiegene Verschuldung, der großen Immobilienblase; den gewaltigen Schattenbanken) ist eines der Zentren der weltweiten Krise. Sodann wird die Weltautobranche von der neuen Krise besonders betroffen sein. Führende Konzerne in dieser Weltindustrie waren bereits mit „Dieselgate“ angeschlagen.
Die Branche als Ganzes befindet sich als Resultat der Klimakrise und des Versuchs einer teilweisen Umstrukturierung hin zu Elektroautos in einer Umbruchphase. Allein in dieser Branche sind aktuell mehr als eine Million Arbeitsplätze bedroht. Drittens droht eine neue EU-Krise und eine neue Euro-Krise.3 Die Entwicklung in Italien dürfte hier wichtig werden. Dieses Land befindet sich seit 20 Jahren im Krisenmodus; die Staatsschuld liegt mit 130 Prozent auf Rekordniveau. Die ökonomische Krise wird durch eine politische – Matteo Salvini ante portas – noch verstärkt. Und schließlich – viertens – dürfte diese Krise auch den Finanzsektor erfassen. Sie kann ihren Ausgang nehmen bei der gewaltigen Immobilienblase in Indien oder bei der angeschlagenen Deutschen Bank (siehe Seiten 62f) oder bei einem argentinischen Staatsbankrott. Sicher ist, dass heute der Finanzsektor vergleichbar labil ist wie vor der letzten großen Krise. Staatliche Auffangprogramme in der Größe, wie es solche 2008/2009 gab, sind im Rahmen der bestehenden Logik der Wirtschaftspolitiken und der politischen Strukturen nicht mehr zu stemmen.
Muss sich das zu einem Weltdebakel entwickeln? Nicht unbedingt. Die Menschen benötigen eigentlich nur: ausreichend Nahrung, gute Dächer über den Köpfen, Wärme und Energie. So what? Nahrungsmittel sind ausreichend vorhanden – in den OECD-Staaten wird rund ein Drittel vernichtet. Weltweit stehen als Teil der Immobilienblase mehr als 100 Millionen neu gebaute Wohnungen leer. Auch gibt es genügend Sonne, Wind und Potentiale durch die Gezeiten, um ausreichend Energie und Wärme bereitzustellen – und dies sogar auf eine Art und Weise, die die Belastung des Klimas massiv reduzieren würde.
Wie sagt es Jean Ziegler? Wir leben in einem „Imperium der Schande“. Deswegen werden diese Schätze nicht gehoben. Deswegen kann diese Krise Massenarbeitslosigkeit und massenhaftes Elend schaffen. Erinnert sei an den Slogan von 2008 und 2009: „Wir zahlen nicht für eure Krise!“ Dieser sollte das vereinigende Band von Gewerkschaften und Klimabewegung sein, um den Gefahren dieser Krise zu begegnen, einem drohenden Rechtsrutsch entgegenzuwirken und die Möglichkeiten für system change auszuloten.
Anmerkungen:
1 Siehe zuletzt z.B. das Interview mit Robert Shiller Die Rezession wird kommen, in: Handelsblatt vom 4. Dezember 2019.
2 Siehe Heft 44, Dezember 2018, Warten auf den großen Knall – Die Weltwirtschaft Anfang 2019 – ein gewaltiges Krisenpotential, Seiten 28-35. Und Heft 47, Herbst 2019, Die Weltwirtschaft vor der Krise. China wird es nicht nochmals richten, Seiten 20-33. Das erste Lunapark21-Heft erschien Anfang 2008 mit dem Titel Vorsicht Konjunkturschlag! Von einstürzenden US-Neubauten zur weltweiten Rezession.
3 Teil der neuen EU-Krise ist das Flüchtlingsdrama an der türkisch-griechischen Grenze, was in eine neue politische Krise wie 2015 münden kann. Teil der EU-Krise ist auch die Situation in Frankreich, wo Staatspräsident Macron am 2. März beschloss, die parlamentarische Debatte über das Rentensystem dadurch zu beenden, dass er mit einer Art Notstandsrecht das Vorhaben per Dekret durchsetzt. (Siehe Seite 14)
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