Kapitalistische Krise unter kommunistischer Führung
Als die Welt angesichts der rasanten Entwicklung Chinas noch den Atem anhielt, erklärte Xi Jinping, Wachstum sei nicht seine Hauptsorge. Das war im Jahr 2017 und schien einen Paradigmenwechsel anzukündigen.
Im Jahr darauf ließ Xi die Begrenzung seiner Amtszeit als Staatspräsident aus der Verfassung streichen. Nun steht er seit über elf Jahren an der Spitze des riesigen Landes und wird über Haupt- und Nebensorge manches gelernt haben.
China erlebt die schwerste Wirtschaftskrise seit den Reformen Deng Xiaopings vor gut vierzig Jahren. Mit dem Zusammenbruch der Baukonzerne Evergrande und Country Garden, mit unbezahlten Schulden in Höhe von einer halben Billion Dollar, endete der Bauboom, den China mit einem gigantischen Investitionsprogramm zur Überwindung der Finanzkrise nach 2008 initiiert hatte. Allein zwischen 2011 und 2013 verbrauchte China mehr Zement als die USA im gesamten 20. Jahrhundert.
Zirka 90 Millionen Wohnungen im Wert von etwa 18 Billionen Dollar stehen leer, die meisten in Geisterstädten. Nicht allein Wüsten von Bauruinen bleiben zurück, auch mit erheblichen sozialen Konsequenzen ist zu rechnen. Immerhin stand die Baubrache für über 20 Prozent der chinesischen Wirtschaftsleistung, zu erheblichem Teil von Wanderarbeiter:innen ohne Vertrag erbracht, deren ohnehin prekäre Lage sich noch verschlimmert. Prekär sieht es auch für viele Wohnungseigentümer:innen aus, deren Immobilie extrem an Wert verloren hat und somit ihren Hypothekenkredit nicht mehr ausreichend besichert. Das ist auch kritisch für Banken, die in der Immobilienfinanzierung engagiert waren und nun etliche Kredite in den Büchern haben, die sie werden abschreiben müssen. Oft dienten die Kredite sogar der Vorfinanzierung, wenn der Kaufpreis nicht Zug um Zug, sondern vor Fertigstellung der Wohnung zu zahlen war, eine in China verbreitete Praxis. Ihrer Ersparnisse samt Darlehen verlustig, werden Millionen Menschen ihre Immobilie wohl niemals beziehen können.
Der Crash des Immobiliensektors hat Schwächen in der ökonomischen Struktur des Landes bloßgelegt. Die hohen Wirtschaftswachstumsraten vergangener Jahrzehnte sind vor allem der Exportindustrie geschuldet, zu Lasten des heimischen Konsums, dessen Anteil sich zuletzt auf 53 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) belief, gegenüber 72 Prozent im globalen Durchschnitt.1 Selbst unter Schwellenländern nimmt China eine Sonderstellung ein. Im Vergleich zu Brasilien etwa produziert China pro Kopf 40 Prozent mehr, sein Pro-Kopf-Verbrauch2 aber fällt um 7 Prozent geringer aus. Gemessen an seinem eigenen Bedarf, hat China riesige Produktionsüberkapazitäten aufgebaut. Das konnte zum Teil durch die Immobilienwirtschaft kompensiert werden, bis die Blase platzte.
Balance halten
Chinas Entwicklungsmodell, rasantes Wachstum durch einen hohen Grad an Ausbeutung zu erzeugen – also den Menschen von den von ihnen erarbeiteten Produkten nur wenig zukommen zu lassen, und möglichst viel in die Ausweitung der Produktionsanlagen zu stecken –, ist aus der Balance geraten.
Schon eine Auslastung von 80 Prozent der chinesischen Autoindustrie würde 15 Millionen Fahrzeuge mehr produzieren, als der Binnenmarkt aufnehmen kann, und mehr als der jährliche Gesamtbedarf in Europa ausmacht. Bereits 2016 hatte die Europäische Handelskammer in Peking festgestellt, dass in China doppelt so viel Stahl hergestellt wurde wie in Japan, Indien, den USA und Russland zusammen, obwohl die Werke nur zu 70 Prozent ausgelastet waren. Ähnlich groß waren die Überkapazitäten für Glas und Aluminium. Inzwischen produziert das Land auch genügend Lithium-Batterien, um den Weltbedarf zu decken. Gut 30 Prozent der globalen Güterfertigung findet in China statt.
Zur Ausbalancierung der Sektoren benötigte China ein Konsumwachstum von rund zehn Prozent im Jahr. So versprach denn auch Premierminister Li Qiang im Januar auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, der chinesische Markt werde »eine bedeutende Rolle zur Ankurbelung des globalen Verbrauchs spielen«. Nichts Neues. Seit 20 Jahren künden chinesische Politiker von einer ökonomischen Entwicklung zu mehr Konsum und weniger Export. Im Jahr 2004 lag der Anteil des Konsums am BIP bei 55 Prozent, also in etwa wie heute.
Den Konsument:innen aber schlägt die Krise gehörig auf den Magen. Chinas neue Mittelklasse der Dreißig- und Vierzigjährigen hat bisher nur eine boomende Wirtschaft gekannt. Die drastischen Restriktionen während der Pandemie, die Unternehmen zwangen, die Löhne zu senken und Personal einzusparen, schließlich der Zusammenbruch der Baubranche, haben ihr Vertrauen erschüttert. Vor allem Angehörige dieser bislang prosperierenden Schicht schränken ihre Konsumausgaben trotz gesunkener Preise ein. Spareinlagen sind auf Rekordstand.
Die Deflation wird auch von den Verkaufsplattformen im Netz getrieben. Nicht nur, dass ihre Algorithmen untereinander Preise vergleichen und die günstigsten Angebote vorn positionieren. Die sehr erfolgreiche Site Pinduoduo mailt sogar seine Hersteller an, sobald ein Konkurrenzprodukt billiger ist und fordert zur Preissenkung auf, ein enormer Druck, da die Mehrzahl der chinesischen Konsumenten E-Kommerz nutzen.
Um den Menschen das Gefühl von Sicherheit zu geben, wäre es nötig, Sozialversicherung und Gesundheitsfürsorge zu stärken. Aber Xis Menschenbild beruht auf Strenge und Genügsamkeit. Statt die Konsument:innen zu ermutigen, forderte er im vergangenen Jahr, vor allem die jungen Leute sollten weniger gepampert werden und bereit sein, »Bitternis zu schlucken«. Inzwischen müssen Millionen junger Schulabsolventen Bitternis schlucken; über 20 Prozent betrug die Arbeitslosenquote unter den 16- bis 24Jährigen im Juni.
Preiskampf
Um 5,2 Prozent hat Chinas Wirtschaft 2023 zugelegt. Und, Krise hin oder her, um fünf Prozent sollten es auch in diesem Jahr werden, doch das Ergebnis wird um gut einen halben Prozentpunkt niedriger ausfallen.
Chinas Haushalte, seine Unternehmen und seine Regierung können nicht verbrauchen, was die Wirtschaft des Landes produziert. Der Überschuss muss exportiert werden.
Dem weltweit zunehmenden Protektionismus begegnen die chinesischen Hersteller mit konkurrenzlos billigen Produkten, auch dank staatlicher Subventionen, die um ein Mehrfaches über den europäischen liegen. Angesichts derart aggressiven Dumpings stellt sich die Frage, ob die chinesische Exportindustrie überhaupt noch Profite erwirtschaften oder wenigstens die Kosten einspielen kann. Ein europäischer oder US-Konzern würde in solcher Lage Einsparungen vornehmen und Personal abbauen. Selbst VW scheut sich nicht mehr, Entlassungen anzukündigen. In einem KP-geführten Land darf es Massenarbeitslosigkeit aber eigentlich nicht geben. Die Bevölkerung sähe die Partei in Verantwortung und die ihre Autorität beschädigt und ihren Führungsanspruch in Frage gestellt.
Die massive Exportsubvention stößt im Ausland auf Widerstand und könnte auch den chinesischen Staatshaushalt über Gebühr beanspruchen, zumal weitere hohe Investitionen geplant sind. Die Militärausgaben sollen 2024 um sieben Prozent steigen, deutlich stärker als das Wirtschaftswachstum.
Für die Förderung von Forschung und Technik hat der Nationale Volkskongress sogar ein Plus von zehn Prozent geplant. »Neue Produktivkräfte« zu entwickeln hat Xi Jinping gefordert, und der Begriff ist zum allzeit wiederholten Motto geworden. Zwar ist China bei der Energiegewinnung aus erneuerbaren Quellen führend und bei der Herstellung von Elektroautos und Batterien, bei E-Kommerz, Finanzwesen und Hochgeschwindigkeitszügen an vorderster Front, hinkt aber in einigen zentralen Bereichen wie der Halbleitertechnik hinterher und ist auf Importe angewiesen.
Die Deutsche Bundesbank hat erkannt, dass Chinas „Potenzial für Produktivitätsfortschritte durch Technologieadaption geringer geworden ist. Von maßgeblicher Bedeutung dürfte daher sein, inwieweit dem Land die Transformation zu einer innovationsgetriebenen Wirtschaft gelingt… Entscheidend wird auch sein, ob China auf den Weltmärkten weiterhin Zugang zu den fortschrittlichsten Technologien hat.“
Bremsklötze
In diversen Bereichen ist China technisch fortgeschritten. Der jahrelange Medienhype um Chinas Erfolge lässt jedoch vergessen, dass das Land nicht reich ist. Das BIP pro Kopf der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt liegt bei nur einem Drittel des deutschen und unter dem Mexikos. Alte, wenig profitable staatliche Betriebe dominieren nach wie vor die chinesische Wirtschaft. In mehreren Provinzen fehlt das Geld für Reparaturen von Straßen und Infrastruktur, Gehälter für Lehrer:innen stehen aus.
Der Aufholprozess gegenüber dem großen Konkurrenten USA geriet ins Stocken. Das Bruttoinlandsprodukt fiel nach der Covid-Pandemie von drei Viertel des US-BIP auf zwei Drittel, und das bei einer vier Mal größeren Einwohnerzahl Chinas. Allerdings kämpft China infolge seiner Ein-Kind-Politik zwischen 1979 und 2015 mit sinkender Beschäftigtenzahl, während die der USA wächst.
Die Krise treibt die Krise. Die Auslandsinvestitionen nehmen ab; Investoren verkaufen Anteile und repatriieren Gewinne und Dividenden, so dass die chinesische Führung schließlich gezwungen war, gegenzuhalten. Im September senkte die Zentralbank, die People‘s Bank of China, Kredit- und Hypothekenzinsen, verringerte die für Banken geltenden Mindestreserven, was zusätzliche Kredite in Höhe von 140 Milliarden Dollar ermöglicht. Eine Erhöhung der Schuldenquote sollte zu verkraften sein. Wenn es auch um die Finanzen der Regionalregierungen schlecht steht, so liegen Staats- und private Schulden in Relation zum BIP momentan im Durchschnitt der Euro-Zone. Laut Umfragen sind aber nur wenige Firmen an Krediten interessiert. Trotz niedriger Zinsen fürchten viele, den Schuldendienst nicht bedienen zu können infolge der gesunkenen Produktpreise – Indiz unzureichender Unternehmensgewinne.
Es ist nicht auszuschließen, dass China einen Kipppunkt erreicht hat. Ob dem Land der angestrebte Anschluss an die weitest entwickelten Volkswirtschaften gelingen wird, ist noch offen. Es kommt wohl darauf an, dass China dem Dilemma entgeht, das schon die Entwicklung anderer Schwellenländer stocken ließ. Deren Aufschwung beruhte zunächst auf dem Konkurrenzvorteil niedriger Löhne. Mit zunehmender Prosperität erwächst eine Mittelschicht. Konsum, Preise und Löhne nähern sich dem ausländischen Niveau, bevor die inländische Industrie die Produktivität der entwickelten Ökonomien erreicht hat. Insofern könnte eine Deflation sogar von Vorteil sein, verlangte der Bevölkerung aber sehr viel ab – mehr vielleicht, als die Menschen bereit sein würden, zu ertragen.
Ohnehin ist ein Übergang von schnellem Wachstum zu einem moderateren Pfad schwierig und hat in Japan in den 1990er Jahren zu einer langdauernden Stagnation geführt. Das Beispiel mag ein Grund sein, warum Xi auf Wachstum und Export um fast jeden Preis setzt, entgegen seiner 2017 bekundeten Maxime.
Auch ein zentral regiertes Land wie China scheint nicht in der Lage, sich den kapitalistischen Gesetzen von Konkurrenz und Akkumulation zu entziehen. Aufgabe von Politik wäre es aber doch, den Laden nicht länger dadurch am Laufen zu halten, indem sie die Bedingungen kapitalistischer Verwertung organisiert. Stattdessen gilt es, Inhalt und Umfang der materiellen Produktion in den Griff zu bekommen. Auch der chinesischen Führung ist bekannt, dass die heutige Produktionsweise nicht nachhaltig ist. Jedoch vor die Entscheidung gestellt, entweder das Wirtschaftssystem oder die globalen Lebensbedingungen zu erhalten, scheinen China und der Rest der Welt Ersterem den Vorzug geben zu wollen.
André Geicke, Jahrgang 1955, lebt in Hamburg und war journalistischer Mitarbeiter des Soz-Magazin und des Spiegel. China kennt er nicht aus eigener Anschauung. Der Artikel stützt sich wesentlich auf die Berichterstattung in: Economist, Wall Street Journal, New York Times, Le Monde Diplomatique, Berichte der Deutschen Bundesbank, National Bureau of Statistics of China, Der Spiegel, The Straits Times, Institut für Weltwirtschaft – Kiel.