Begegnung mit der Cartoonistin Safaa Odah
Die anhaltenden Offensiven des israelischen Militärs gegen die Hamas im Gaza-Streifen zwingen die Palästinenser:innen immer wieder zur Binnenflucht. Die Ohnmacht der Menschen spiegelt sich in den Arbeiten der dort lebenden Künstler:innen. Zu ihnen zählt die Zeichnerin Safaa Odah. Zehn Tage nach dem Versuch, Kontakt mit ihr über Internet aufzunehmen, kann ich ihr endlich ins Gesicht sehen. Über ein Video, das sie aus dem Gaza-Streifen auf mein Handy schickt.
Safaa trägt ein buntes Kopftuch. Schwarzen Kaftan bis zum Boden. Mit dem Finger zeigt sie auf Plastikplanen über ihrem Kopf. Sie böten kaum Schutz vor der sengenden Sonne, Wind und anhaltender Kälte nachts, erzählt sie auf Arabisch. Ihre Stimme spricht gegen das Röhren der Drohnen an, die am Himmel unaufhörlich brummen und alles überwachen: »Nach der Vertreibung meiner Familie aus Rafah bin ich jetzt in Al-Mawasi, einem Vorort von Khan Younis im südlichen Gaza-Streifen. Ich lebe hier in einem Zelt, einer Notunterkunft.«
Ausgehende Essensvorräte und ständige Angst
Die israelische Kriegsführung drängt immer mehr Menschen in abgelegene Landstreifen wie in Al Mawasi. Safaa Odah hat mit ihrer Familie mehrfach die Unterkunft wechseln müssen. »Ich lebe in ständiger Angst«, erzählt sie, »manche Einschläge und Detonationen sind ganz nah. Militärfahrzeuge, die ich sehen kann, sind weniger als einen Kilometer entfernt. Die Ernährungslage ist katastrophal und verschlechtert sich mit jedem Mal, wenn der Krieg sich wie jetzt zuspitzt.«
Dann steht Safaa auf, stützt sich auf einen Stapel von Matratzen: »Ich lebe hier mit meinen Eltern und weiteren zwanzig Personen auf engstem Raum. Unsere Essensvorräte gehen zur Neige. Wir wissen nicht, was wir essen sollen, wenn sie aufgebraucht sind.«
Hunger als Waffe? Israel steht deshalb am Pranger. Den Krieg gegen die Hamas zahlt vor allem die Zivilbevölkerung. Safaa Odah ist Mitte 20. Genauer nachzufragen ist aus kulturellen Gründen für mich nicht passend, sagt mir Nadia Hodali, die Übersetzerin der kleinen Texte in ihrem Cartoon-Buch, die in Ramallah, im Westjordanland lebt.
Kostbares Zeichenpapier, fehlendes Tablet
Safaa hat einen Master in Psychologie. Zeichnerisch ist sie Autodidaktin. Vor dem Krieg besaß sie ein Tablet. »Ohne mein Tablet zeichne ich jetzt nur noch auf Papier. Ein Fehler kostet mich jedes Mal ein ganzes kostbares Blatt Papier. Früher konnte ich Zeichenfehler sekundenschnell digital ausradieren, Farben einsetzen und korrigieren oder alles wegwischen und neu anfangen. Jetzt geht nichts mehr davon. Das zermürbt mich«, erzählt sie seufzend.

Gerade ist ihr erstes Cartoon-Buch erschienen. Erwerbbar auf der Kunsthandel-Internetseite Etsy. Auf dem Einband ihres Cartoon-Buches heißt es »Zeichen-Tagebuch von Oktober 2023 bis Dezember 2024«. Darin gibt es ein Selbstportrait: Ein Mädchen im Schlaf, Koffer in der Hand, Rucksack auf dem Rücken. Auch nachts und im Schlaf, suggeriert die Botschaft des Cartoons, gilt es jederzeit gerüstet zu sein für den Notfall.
Eine andere Zeichnung zeigt einen Engel, der heruntergestiegen ist zur Erde und mit Nadel und Faden versucht, den Körper eines Opfers wieder zusammenzuflicken. Utopisch und sehr menschlich zugleich.
In dem etwa 30 Quadratmeter großen Zelt leben mehrere Familien dicht an dicht. Der Krieg treibt Safaa vor sich her. An immer neue Orte der Binnenflucht. »Jedes Mal, wenn wir gezwungen sind, weiterzuziehen, beginnt ein neues Leben. Man sucht seine Routine darin, soweit das möglich ist. Jeder hat seine Aufgaben: Ich muss kochen. Handys aufladen gehen an Ladestationen, die oft Kilometer weit entfernt sind. Starke Winde zerfetzen derweil die Zeltplanen, Stangen brechen. Unsere Zeltstoffe bezahlen wir selbst, das sind alles keine Hilfsgüter.« Ihre Familie habe ein paar Rücklagen für solche Notfälle gebildet, erzählt sie. Einige bunte Kanister stehen in der Hitze, im Schatten der Zeltplanen. »Ich gehe Kilometer weit, um mein Handy und das der Anderen aufzuladen«, erzählt Safaa.
Wenn Zeichnen zur Gefahr wird
Wie gefährlich ist es, im Krieg Karikaturen zu zeichnen? Charlie Hebdo, die Toten von Paris und der Krieg der Karikaturen sind auf einmal in meinem Kopf. Nada Hodali, Safaas Übersetzerin in Ramallah, sagt: »Es ist gefährlich.« Safaas Arbeiten erscheinen in palästinensischen sozialen Medien, auf ihrem Facebook- und Instagram-Account. Ihre Zeichnungen kommen an, weil sie nicht politisch sind. Sie meinte unlängst: »Wie immer Andere über meine Arbeit denken, ich möchte meine Stimme zu Gehör bringen.«

Mohammad Saba’aneh ist eine Generation älter, auch palästinensischer Cartoon-Zeichner und lebt im Westjordanland. Er wurde vor dem aktuellen Krieg verhaftet und verfolgt wegen seiner Zeichnungen, von israelischer Seite wie von Hamas und anderen palästinensischen Gruppen, erzählt er. Er lobt Safaas Arbeit. »Ihre Cartoons leben von persönlichen Erlebnissen des Massakers, von Alltagserfahrungen im Gazastreifen. Sie vermag Bilder zu schaffen, die dem Grauen ein menschliches Antlitz verleihen. Mit wenigen Strichen. Berührend, eindringlich.« In Safaas Zeichnungen ist der Krieg zwar permanent spürbar. Aber ohne sichtbares Feindbild. Vielmehr zeichnet sie über die eigene Existenz und Not und über die ihrer Mitmenschen. Mild und mit einem lauten Schrei zugleich.
In ihrem Zelt in Al Mawasi in Khan Younis ist zur Zeit alles andere wichtiger als Zeichnen. Es gebe keinen Strom, kein fließend Wasser. Auch dafür müssen die Menschen oft kilometerweit gehen, erzählt sie. »Wir leben in einer schrecklichen Zeit. Dennoch zeichne ich weiter. Zeichnen bedeutet für mich Leben. Zeichnen heißt, dass ich noch am Leben bin. Es gibt mir Hoffnung inmitten all der endlosen Kämpfe.«
Martin Gerner ist freier Autor, Journalist und Filmemacher. Er lehrt zu Konflikten und Medien, berichtet aus Krisenregionen. Bekannt wurde er durch seine Arbeit über Afghanistan – nun richtet er den Blick auf Palästina.
Safaa and the Tent. Diary of a Cartoonints from Gaza Oct 2023 – Dec 2024
Das Buch auf der Website Etsy (englisch):
https://www.etsy.com/de/listing/1873916928/safaa-und-das-zelt-das-tagebuch-der