Interview mit Reimar Heider
Reimar Heider ist Arzt, seit vielen Jahren Menschenrechtsaktivist und seit 25 Jahren aktiv in der Internationalen Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«. Er hat eine Reihe von Büchern von Öcalan übersetzt.
In seiner Stellungnahme vom 25. Februar 2025 erklärt Abdullah Öcalan, die Voraussetzungen der Entstehung der PKK seien in den 1990er Jahren entfallen, weshalb die PKK wie andere Organisationen »ihresgleichen« aufgelöst werden sollte. Das legt nahe, dass die PKK ihre Existenzberechtigung schon vor mehr als 25 Jahren verloren hat.
In der PKK fand seit Ende der 1980er Jahre eine Auseinandersetzung um die sozialistischen Staaten statt, die revolutionäre Bewegungen nicht unterstützten und einen Mangel an Freiheit und Demokratie im Inneren aufwiesen.
Seit dem ersten Waffenstillstand mit dem türkischen Staat 1993 versuchte die PKK, von den Strukturen der realsozialistischen Vorbilder wegzukommen, besonders davon, dass eine Partei eine ganze Gesellschaft bestimmt und dominiert.
Von Öcalan kam 2002 der Impuls, die PKK aufzulösen, was dann auch geschah. Das war der Versuch, vom Avantgarde-Partei-Modell überzugehen zu einem Kongress-Modell all der damals bestehenden kurdischen Organisationen.
Hauptproblem nach 2002 waren die Beharrungskräfte, die mit der kurdischen Bewegung und ihrer Tradition entstanden waren. Die PKK war zum Symbol geworden. Der eher rechte Flügel der Bewegung versuchte die Umbruchsituation zu nutzen, um eine Reihe von Prinzipien über Bord zu werfen: Sozialismus, Frauenbefreiung, den Kampf gegen kurdischen Nationalismus.
Dagegen wurde 2005 die Notbremse gezogen. Die PKK wurde wiedergegründet mit einer veränderten Programmatik. Diesen Prozess schildert Öcalan in seinem Buch »Jenseits von Staat, Macht und Gewalt«, geschrieben in der Zeit, als es die PKK nicht gab. Darin hat er Gedanken und theoretische Impulse des US-amerikanischen libertären Sozialisten Murray Bookchin aufgenommen.
Es geht vordringlich um die Organisierung von Zivilgesellschaft in basisdemokratischen Strukturen – Abschied vom Avantgarde-Konzept einer leninistischen Partei, Aufgabe eines kurdischen Nationalstaates als Ziel.
Also weg von der Eroberung der Staatsmacht?
Ja, stattdessen, ausgehend vom Rätegedanken, eine Selbstorganisierung der Bevölkerung auf kommunaler Ebene, ein Zusammenschluss von Konföderationen. Dabei sind drei Punkte zentral: 1. Die Befreiung der Frau und als Bedingung dafür eine umfassende Selbstorganisierung der Frauen. 2. Die Ökologie, die sozialistische Bewegungen sehr vernachlässigt haben mit ihren Fortschritts- und Industrialisierungs-Modellen. 3. Das Bekämpfen eines kurdischen Nationalismus.
Denkst Du, dass es gelungen ist, solches Herangehen in den Köpfen der bewegten Menschen zu verankern?
Ich glaube, diese politischen Konzepte sind schon gut verstanden worden und weitgehend akzeptiert. In den 2010er Jahren fanden in der Türkei viele Kämpfe für die demokratischen Rechte der Kurd:innen statt. Unter den neuen Vorzeichen eine Strategie Richtung autonomer Strukturen, die nicht mehr eine territoriale Autonomie zum Ziel hatte, wurde trotz extremer Repression seitens des Staates versucht, von der Basis her alternative politische und soziale Strukturen aufzubauen.
Daraus ist ein Selbstvertrauen entstanden und ein Bewusstsein, dass die kurdische Bewegung mit ihrer Transformation einen wichtigen Beitrag geleistet hat zur weltweiten Diskussion um einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Ich glaube die kurdische Freiheitsbewegung hat größere Ansprüche als andere, wirklich zukunftsweisende Ideen und Beispiele zu deren Umsetzung beigesteuert zu haben.
In Nordostsyrien mit seiner heterogenen Bevölkerung bestehen enge Verbindungen zwischen der Partei der Demokratischen Union PYD und der PKK. Welchen Einfluss hatte die Praxis in Rojava auf die Politik der PKK?
In Rojava ist es gelungen, wegzukommen vom Bild einer kurdischen nationalen Befreiungsbewegung. Das hätte schon nicht funktionieren können, weil das bei der arabischen und bei den anderen Bevölkerungen Angst erzeugt hätte. Die Zusammensetzung der Bevölkerung gleicht dort einem Mosaik. Es ist der kurdischen Bewegung mit dem Konzept des demokratischen Konförderalismus gelungen, die verschiedenen Gruppen einzubeziehen, auch die religiösen.
Das zeigt auch die Benennung der Region, es wird von Nordost-Syrien gesprochen, nicht von West-Kurdistan. Die heutigen Strukturen dort mögen maßgeblich von der PYD initiiert worden sein, sind aber von Anfang an mit dem Ziel einer multikulturellen, multiethnischen, multinationalen Demokratie angelegt gewesen.
Kannst Du noch etwas sagen zur ökonomischen Grundlage dessen, was in Nord-Ost-Syrien geschieht?
Die ökonomische Struktur im syrischen Staat beruhte auf einer regionalen Teilung: In den landwirtschaftlich genutzten Gebieten entlang der Grenze zur Türkei, die mehrheitlich von Kurd:innen bewohnt werden, wurden ausschließlich Nahrungsmittel angebaut. Die Weiterverarbeitung zu Mehl, Brot oder Konserven fand in den syrischen Zentren statt. Somit hat kein Landesteil eine eigene wirtschaftliche Basis, um zu überleben. Die gesamte Wirtschaft soll nun auf Basis von freiwilligen Kooperativen mit dem Ziel der Selbstversorgung neu organisiert werden.
Vieles dreht sich darum, das türkische Handelsembargo entlang der 800 Kilometer langen Grenze zu umgehen. Immer wieder wird die Grenze auch von der irakischen Seite geschlossen. Lebensnotwendige Güter zu beschaffen, ist also ein aufreibendes Geschäft, verbunden mit vielen kleinen und größeren lokalen Kompromissen.
Eine Einnahmenquelle ist das Erdöl. Aber auch das kann nur mehr recht als schlecht gefördert, nicht aber in der Region verarbeitet werden – es gibt keine Raffinerien.
Wie sieht die Türkei auf die Umwälzungen seit dem 7. Oktober 2023?
Die Türkei hat das Problem, das im Nahen Osten gerade eine neue Ordnung geschaffen wird, in der Israel eine sehr viel größere Rolle spielt als die Türkei. Die Türkei hat Angst, überrollt zu werden. Der sogenannte Indian Middle East Corridor, dieses gigantische Infrastrukturprojekt – Energie, Pipelines und Handelswege –, dass von Indien und westlichen Staaten als Gegenstück zu Chinas Neuer Seidenstraße vorangetrieben wird, findet unter Ausschuss der Türkei statt. Die Pipelines vom Persischen Golf führen an der Türkei vorbei. Die von ihr beanspruchte Schlüsselrolle in der Region rückt in weite Ferne.
Der Krieg gegen die Kurden führt für die Türkei auch zu ökonomischen Problemen. Und die massiven Menschenrechtsverletzungen lassen die Türkei international schlecht dastehen. Wenn sich der türkische Staat mit einem großen Teil seiner Bevölkerung versöhnen würde, könnte das eine positive Wirkung im gesamten Nahen Osten entfalten.
Das Regime Präsident Erdoğans hat in der Türkei seit 2015 jede Krise zum Ausbau des autoritären Staates genutzt. Welche Vereinbarungen sind mit der Regierung Erdoğan möglich?
Eine demokratische Gesellschaft entsteht in der Türkei nicht dadurch, dass Erdoğan auf einmal demokratisch wird. Eine politische Lösung der kurdischen Frage aber würde per se eine Demokratisierung bedeuten – weg von dieser nationalistisch-chauvinistischen Unterdrückung großer Teile der Bevölkerung. Wenn dieses Konfliktfeld wegfällt, öffnet das auch Raum für andere, demokratische Forderungen durchzusetzen.
Das Interview für Lunapark21 führte Joachim Römer.