Zur Frage von sozialistischen Alternativen bei der deutschen Wiedervereinigung
Anlass für diesen Beitrag war eine Diskussion in der Lunapark-Redaktion über die Frage, ob im Schwerpunkt des letzten Heftes politische Alternativen zur kapitalistischen Einverleibung der DDR stärker hätten erkennbar gemacht werden sollen.
War die Entstehung dieser Bürokratie und die Defizite der von ihr kontrollierten Planwirtschaft eine unvermeidliche Folge der Abkehr von der Privat- und Marktwirtschaft? Oder waren und sind Alternativen im Sinne einer demokratischen Arbeiterkontrolle über die verstaatlichte Produktion möglich und denkbar? Das bleibt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Ostblockstaaten die Kernfrage linker Politik – nicht nur für eine Partei dieses Namens.
In diesen Ländern wurde zwar das Großkapital verstaatlicht und der in privatwirtschaftlicher Konkurrenz ermittelte Marktpreis als zentrales Steuerungsinstrument für die Wirtschaft abgeschafft. Das gilt auch für den Geschäftserfolg der Unternehmen als einzige Basis für die Zuteilung von Investitionsmitteln. Gleichzeitig hatte die nun allein herrschende Partei- und Staatsbürokratie dort allerdings auch sämtliche demokratischen Rechte für die Bevölkerung und damit jede andere Möglichkeit zerstört, die Mittel und Ziele der Produktion auf die Bedürfnisse von Produzenten und Konsumenten abzustimmen.
Überbetriebliche, konzernweite Planung und ein dafür verantwortliches Management sind auch in der Marktwirtschaft und in großen Unternehmen selbstverständlich. Beides wird durch die Digitalisierung sehr erleichtert. Allerdings gehorcht diese Produktionssteuerung dem privatwirtschlichen Profitprinzip und damit ausschließlich den Interessen einer Minderheit von Kapitalbesitzern. Diesem Grundprinzip sind auch die im Kapitalismus gewählten Belegschaftsvertretungen unterworfen.
Aber auch in der DDR hatte die Mehrheit der Bevölkerung nach der Verstaatlichung der großen Produktionsmittel keine Chance, ihre (Konsum)Bedürfnisse oder Widersprüche zu den betrieblichen oder kommunalen Entscheidungsträgern frei zu artikulieren und organisiert durchzusetzen. Unter diesen Bedingungen gerät jede zentral organisierte Planwirtschaft in die Hände einer bürokratischen Schicht, die an eigenen Privilegien orientiert ist und ohne demokratische Kontrolle und Rückkoppelung große, objektiv unnötige Ressourcenverluste hervorbringen kann.
Ansprüche
Die Folgen waren auch der Bürokratie bewusst und führten zu jahrelangen, eher fruchtlosen Debatten über die Frage, ob die Planung der Produktion in erster Linie zentralstaatlich oder in »Eigenverantwortung« der Betriebe stattfinden sollte. Was dabei damals und leider auch bis heute ausgeblendet wurde: Beide Optionen konnten nicht funktionieren, solange die arbeitende Mehrheit der Bevölkerung in diesen Betrieben, also die sog. »Basis«, die Betriebsleiter und die (über)regionalen Verantwortlichen weder wählen noch kontrollieren konnte. Die so entstandene Kommandowirtschaft war nicht dazu in der Lage, auf die differenzierten Anforderungen der entwickelten Produktion flexibel genug zu reagieren. Aus der politischen Entrechtung folgte unweigerlich auch die gesellschaftliche Entmachtung der Arbeiterschaft, selbst, was die Rückkopplung von Konsumwünschen und die effiziente Steuerung der Produktion angeht.
Damit hing der Anspruch dieser »Kommunisten«, durch Verstaatlichungen die Produktivkräfte erstmals in der Geschichte in die Hände der gesellschaftlichen Mehrheit zu legen und den Sozialismus sogar in einem halben Land verwirklichen zu können, in der Luft. In solchen Vakuen entwickeln Planungsbehörden stets Eigeninteressen und Privilegien, die sich in Osteuropa zwar nicht auf privates Eigentum (und damit auf Vererbungsrechte) stützen konnten, die aber unter dem Druck des dominierenden kapitalistischen Weltmarkts die Bürokratie in die Enge trieben. In Russland ebnete dies nach 1991 unter Präsident Jelzin den Weg für den Ausverkauf der verstaatlichten Betriebe an einheimische Oligarchen und westliche Konzerne. Ohne den Rückhalt der sowjetischen Bürokratie waren auch die Tage der DDR-Bürokraten gezählt – nur dass hier der Ausverkauf des staatlichen Eigentums an das Kapital erst nach der staatlichen Einverleibung durch die Bundesrepublik organi siert wurde.
In der Diskussion darüber, ob mit dem Untergang des Stalinismus auch alle anderen Alternativen zum Kapitalismus gescheitert sind, wird oft übersehen, dass die Forderung nach scheinbar selbstverständlichen, demokratischen Rechten in Osteuropa eine viel explosivere Wirkung als in den Ländern entfalten konnte, wo sich das Kapital eine freie Meinungsäußerung und politische Demokratie, gestützt auf ökonomische Machtpositionen insbesondere in der Aufschwungphase nach dem Weltkrieg noch besser »leisten« konnte, obwohl auch diese Rechte erkämpft werden mussten.
Im Vergleich zur BRD, die beim Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Industrie das Potential der kapitalistischen Produktionsweise zunächst weitgehend krisenfrei ausschöpfen durfte, konnte die von Reparationen pro Kopf höher belastete und extrem bürokratisierte DDR unter diesen Bedingungen nicht mithalten.
Vor die Wahl: DDR-Bürokratie oder BRD-Kapital gestellt, hat sich die Mehrheit der Bevölkerung in Ostdeutschland für das kapitalistische Original und gegen dessen bürokratische Kopie entschieden. Das heißt aber nicht, dass alles andere von vornherein unmöglich gewesen wäre.
Eine (partei)politische Alternative, welche die demokratischen Freiheiten in der BRD mit den Errungenschaften der verstaatlichten Industrie in der DDR, insbesondere, was die Sicherheit der Arbeitsplätze angeht, verbinden könnte, war für die aufständische DDR-Bevölkerung nicht in Sicht – auch wenn sie objektiv und in den historischen Perspektiven der Arbeiterbewegung durchaus zur Verfügung stand.
Die blühenden Landschaften, die Kohl der DDR-Bevölkerung versprochen hatte, entpuppten sich erst später unter der Treuhand als Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit, von denen nur die westlichen Konzerne profitierten. Die Enttäuschung über diese faulen Nebenprodukte der politischen Revolution in der DDR verursacht noch heute eine verzweifelte Suche nach scheinbaren (System)Alternativen, als die sich die AfD aus Verbitterung über das Versagen der traditionellen Arbeiterpartei SPD und in Ermangelung von glaubwürdigen, sozialistischen Auswegen zur doppelten Sackgasse des geteilten Deutschland nicht ganz erfolglos anbiedern kann.
Erkenntnisse
Die damals wie heute vorhandene Alternative einer demokratisch kontrollierten Planwirtschaft, die in den DDR-Betrieben ja durchaus diskutiert wurde, aber in der West-Linken nur wenig unterstützt und aufgegriffen wurde, sollte im Rückblick auf die verpassten Chancen der deutschen Wiedervereinigung nicht unerwähnt bleiben. Schon weil diese nach der Einführung der DM als stumpfer Anschluss an die BRD vollzogen wurde, anstatt den gesellschaftlichen Umbruch für eine neue Verfassung Gesamtdeutschlands zu nutzen.
Die SPD präsentierte sich auch mit Lafontaine nicht als sozialistische Alternative zu den »Vorbildern« DDR und BRD, sondern stand nur für Verzögerungen bei der Übernahme der DM. Erst mit der WASG wurde die in diesen falschen Frontstellungen verkrustete, parteipolitische Nachkriegslandschaft kurzfristig aufgebrochen, um bald darauf mit Lafontaine mit den Resten des SED/PDS-Apparates vereinigt zu werden und nach kurzem Aufschwung schwere Verluste durch Regierungsbündnisse mit bürgerlichen Parteien zu erleben.
Doch zurück zur Grundsatzfrage, ob die im letzten Lunapark-Heft nüchtern festgehaltenen Wahrheiten über die Bilanz des »Nominalsozialismus« – bei aller Trauer über die »verpassten Chancen« der Wendejahre – keineswegs ein Abgesang auf die historischen, sozialistischen Ziele der Arbeiterbewegung sein müssen, deren Kern eine von den Produzenten selbst kontrollierte, vergesellschaftete Großindustrie bleibt.
Selbstverständlich sind demokratische Rechte, also die freie individuelle und organisierte Meinungsäußerung mit unabhängigen Gewerkschaften und Institutionen, welche die Bedürfnisse der Produzenten auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene unabhängig von den Profitinteressen privater Eigentümer repräsentieren können, keine Garantie für Produktionsentscheidungen, die nachhaltig die Interessen der Gesamtgesellschaft und nicht nur die der jeweiligen Belegschaft zum Ausdruck bringen. Die Verstaatlichung schafft nur die notwendige Voraussetzung für eine an den Interessen der Gesellschaft anstelle von Privatprofiten orientierte Produktion und entsprechende Verwaltungen, sind aber dafür nicht hinreichend.
Denn die Entscheidungen von demokratisch gewählten und abrufbaren Institutionen sind alles andere als unfehlbar, was die bürokratischen Vertreter des »Nominalsozialismus« immer behauptet und mit brutalen Mitteln der gesamten Gesellschaft aufgezwungen hatten. Eben deshalb ist ja der Meinungspluralismus und das Recht auf Kritik in Betrieben und in den Verwaltungsorganen der Planwirtschaft so unverzichtbar: Nicht nur als moralischer Ausdruck von Menschenrechten, sondern aus Gründen ökonomischer Effizienz (und Fehlerkorrektur) bei der Zuordnung von Produktivkräften in einer Planwirtschaft, die z.B. die überbetrieblichen Anforderungen des Umweltschutzes gerecht werden kann.
Eine gesamtdeutsche Verfassung, in der die Vergesellschaftung der großen Konzerne kein Tabu mehr ist, hätte die Chance geboten, die extremen Ungerechtigkeiten in der Einkommensverteilung zu beseitigen, auch um den Besitz an Produktionsmitteln als Erpressungshebel gegen eine soziale Steuerpolitik aufzuheben.
Sozialistische Forderungen, Bewegungen und Parteien können auch heute noch für große Teile der arbeitenden Bevölkerung attraktiv und mehrheitsfähig bleiben oder werden, wenn wir sie von ihrer Diskreditierung durch die im »Nominalsozialismus« allein herrschende Bürokratie befreien können.