200 Jahre Karl Marx

Ein Rückblick auf die Debatte anlässlich des Jubiläums – ein Ausblick auf die Bedeutung marxistischer Theorie und Praxis

Alle Welt schrieb im letzten Jahr über „150 Jahre ´Das Kapital´“. Alle Welt schreibt in diesem Jahr über „200 Jahre Karl Marx“ – und auch über „170 Jahre Kommunistisches Manifest“. Deutlich weniger, aber immer noch viel, wird im kommenden Jahr die Rede sein von „200 Jahre Friedrich Engels“. Unsere Freundinnen und Freunde von der Basisinitiative Solidarität (BaSo) in Wuppertal jedenfalls wissen vom Letzteren ein Liedchen zu singen; sie fordern von der dortigen Stadtverwaltung, Friedrich Engels „Wert zu schätzen und nicht in Wert zu setzen“.[1]

Just dies tat in diesem Jahr zu Marxens 200. Geburtstag die Stadtverwaltung von Trier. Sie ließ sich von der Volksrepublik China eine 2,3 Tonnen gewichtige Marx-Statue schenken. Zwar wurde sie an einem eher nicht zentralen Platz aufgestellt. Doch in einem Sinn ist das Geschenk schon willkommen: Marx soll Geld in die Stadt, soll Touristenströme, soll Kapital, soll nicht zuletzt chinesisches Kapital in Marx´ Geburtsstadt bringen. Überhaupt ist „Das Kapital“ längst in Marx´ Geburtsstadt wohl gelitten. So gibt es in Trier vom Mosel-Winzer Maximin Grünhaus einen Wein, der „Das Kapital“ heißt. Dieser stammt laut des Weinbauern Eigendarstellung von der Parzelle, die einmal der Familie Marx gehörte. In der besten Weinstube Triers, im „Weinhaus“, wirbt Marx höchst selbst und mit Foto für Weingenuss im Allgemeinen und für den kapitalen Riesling im Besonderen.

Erhellend ist das, was anlässlich des Zweihundertsten Geburtstags über Karl Marx, den Marxismus und „Das Kapital“ geschrieben wurde, meist nicht. Interessant ist aber doch, wie sich die bürgerlichen Medien an dem Thema abarbeiteten, wie Marxens Schriften und Gedanken eben nicht – oder nicht mehr – „der nagenden Kritik der Mäuse“ überlassen bleiben.[2] Das geht so weit, dass ein gewisser Olaf Gersemann in der Ausgabe der Tageszeitung Die Welt vom 4. Mai 2018 wutentbrannt schrieb: „Wenn Außerirdische auf Deutschland blicken, müssen sie ob des Hypes um Karl Marx glauben, wir huldigten einem Seher, der ganzen Völkern den Weg in eine bessere, freiere, eine moderne Zukunft gewiesen hat.“ Für den Leiter des Ressorts Wirtschaft der Welt ist natürlich klar, dass das Gegenteil zutreffend sei; weiter im Zitat: „Nichts davon, natürlich, hat Marx getan. Ein Gros der Tyrannen, die ihre Völker im 20. Jahrhundert unterjochten, konnte sich guten Gewissens auf den Anti-Demokraten aus Trier berufen.“

Nun geht es uns von der Lunapark21-Redaktion nicht darum, uns mit den Hasstiraden der Herrschenden über Karl Marx auseinanderzusetzen, auch nicht darum, Karl Marx finanziell „in Wert zu setzen“. Uns geht es um die Wertschätzung, die wir diesem klugen Theoretiker und leidenschaftlichen Humanisten und seinem großzügigen und vergleichbar genialen Freund aus Wuppertal bzw. Manchester entgegenbringen, und darum, diese zu rekapitulieren.

Dies sei Folgenden auf zehn Ebenen versucht.

1

In der kapitalistischen Wirtschaftsweise ist nicht der Gebrauchswert eines Arbeitsproduktes entscheidend, sondern ausschließlich der Wert (und Tauschwert).

Womit wir bei der Rückseite der Lunapark21-Quartalshefte wären. Genauer: Bei inzwischen zweiundvierzig hinteren Umschlagseiten. Neuabonnierende wissen kaum, warum da immer etwas über ein Tisch zu lesen und zu sehen ist. Ganz einfach: Als „Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie“ starteten wir im Februar 2008 mit der Skizze eines Holztisches auf der Rückseite der ersten LP21-Ausgabe. Wobei der Tisch Kopf stand und die Schublade herausgesprungen, beinahe im Tanzen befindlich war. Dabei stand – verkürzt – ein Marx-Zitat, das im Folgenden vollständig wiedergegeben wird: „Die Form des Holzes z.B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.“[3]

Nehmen wir das „sinnliche Ding“ Klimaerwärmung: Sie ist zu spüren; hat handfeste Folgen. Der gesunde Menschenverstand, sagen wir der eines Tischlers, sagt: Es gilt, die das Klima schädigenden Emissionen zu verringern. Dafür böten sich banale politische Maßnahmen an: Beschränkungen und Rückgang der Förderung fossiler Rohstoffe, Energieeinsparung; Förderung regenerativer Energien, Tempolimits, Besteuerung von Kerosin, Aufhebung der Subventionierung von Diesel, Nachtfahrverbote für Lkw, Nachtflugverbote auf Airports, Rückbau von Straßen; Schließung von Airports; Verbot von Regenwaldrodung. Wird Klimapolitik jedoch zur kapitalistischen Dienstleistung, findet all das eher selten und stattdessen völlig Wunderliches statt. Klimapolitik erhält Wertform. Es werden „Zertifikate“ ausgegeben, die einen bestimmten Ausstoß an CO2-Emissionen erlauben. Die Zertifikate gehen in das Eigentum von Konzernen über und können auf „Verschmutzungsbörsen“ gehandelt werden. Das Handelsblatt konstatiert nüchtern: „Emissionsrechte sind damit Spekulationsobjekte – wie Schweinebäuche, Aktien oder Öl. Kraftwerksbetreiber und Stahlkonzerne handeln mit ihnen, aber eben auch Hedgefonds und Investmentbanken. Weltweit werden jährlich Emissionsrechte für 144 Milliarden Dollar umgesetzt.“[4] Wobei sich seither der Umsatz verdoppelt hat. Und die CO-2-Emissionen von Jahr zu Jahr steigen. Auch in der Bundesrepublik Deutschland.

2

Der Wert einer Ware wird bestimmt durch die in ihm steckende Arbeitszeit. Allein die menschliche Arbeit ist wertschaffend und nicht ein mysteriöses Zusammenwirken von „Arbeit, Kapital und Boden“.

Marx zerpflückte konsequent die „trinitarische Formel“ der Vulgärökonomie, wonach es „drei Produktionsfaktoren“ geben würde – das Kapital, die Erde und die Arbeit – die gemeinsam, gewissermaßen in einer Black box, Werte, Mehrwert, Profite, Bodenrente, Mietzins, Zinsen und Spekulationsgewinne usw. schaffen würden. Marx schrieb: „In dieser ökonomischen Trinität als dem Zusammenhang der Bestandteile des Werts und des Reichtums überhaupt mit seinen Quellen ist die Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise, die Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse […] vollendet: die verzauberte, verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt, wo Monsieur le Capital und Madame la Terre als soziale Charaktere, und zugleich unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk treiben.“[4]

Marx hatte diese Reduktion der kapitalistischen Ökonomie auf ihren Kern nicht erfunden. Er konnte damals mit seiner Werttheorie an großen Vorgängern anknüpfen. Er selbst schreibt dies offen: „Es ist das große Verdienst der klassischen Ökonomie“ – gemeint sind u.a. Adam Smith und Ricardo – „diesen falschen Schein und Trug […], diese Religion des Alltagslebens aufgelöst zu haben, indem sie den Zins auf einen Teil des Profits und die Rente auf den Überschuss über den Durchschnittsprofit reduziert (haben), sodass beide im Mehrwert zusammenfallen; indem sie […] im unmittelbaren Produktionsprozess Wert und Mehrwert der Waren auf die Arbeit reduziert.“[6]

Und heute? Die trinitarische Formel wird auch wieder verstärkt als entscheidend für die Wertschöpfung dargestellt. Den unproduktiven Sektoren, ja den Sektoren der Zirkulationssphäre, wird die Kraft der Wertschöpfung zugesprochen. Siehe der Begriff „Finanzindustrie“. Das geht soweit, dass das Kapital-Blatt Börsen-Zeitung in einer neuen „Würdigung“ von Karl Marx diesem selbst unterstellt, das Kapital als wertschöpfend angesehen zu haben. Dort heißt es: „Kapital und Arbeit stellen in seiner [derjenigen von Karl Marx; W.W.] Anschauung denn auch die zentralen Faktoren dar.“[7]

3

Die kapitalistische Wirtschaft bewegt sich in Zyklen. Die Zyklen münden in regelmäßige Krisen. Dabei erhöht sich die Krisenhaftigkeit periodisch und langfristig. Es entwickelt sich ein immer größeres zerstörerisches, ja selbstzerstörerisches Potential.

Die Untersuchung kapitalistischer Produktionszyklen auf nationaler und auf Weltmarktebene konnte von Marx und Engels aus naheliegenden Gründen – siehe das Alter bzw. die „Jugend“ des damaligen ausgebildeten Kapitalismus, siehe die unzureichenden statistischen Grundlagen – erst in grober Form geleistet werden. Doch sie wurde geleistet. Marx ging hinsichtlich der Länge der einzelnen Zyklen von sieben bis zehn Jahren aus – wie sich dies ja auch als zutreffend erweisen sollte. Er sah in der Zeitdauer der physischen Abnutzung der modernen Produktionsmittel bzw. in deren „moralischem Verschleiß“ einen wesentlichen Grund für diese Dauer der industriellen Zyklen.

Wobei Marx und Engels, wenn sie „Gesetzmäßigkeiten“ postulierten, ihre Erkenntnisse im Lichte weiterer Forschung und von Sonderfaktoren immer wieder neu justierten. So schrieb Friedrich Engels im August 1852 mit Blick auf ökonomische Vorhersagen im erst drei Jahre „alten“ „Kommunistischen Manifest“ an Marx: „Kalifornien und Australien sind zwei Fälle, die im Manifest nicht vorgesehen waren: Schöpfung großer Märkte aus nichts. Sie müssen noch hinein.“

Und heute? Wir erlebten in den vergangenen 28 Jahren die „Schöpfung“ riesiger „großer Märkte“ – durch die Integration von China und der Regionen der ehemaligen UdSSR in den Weltkapitalismus. Dieser welthistorische Prozess wirkt sich bis heute dahingehend aus, dass Krisentendenzen abgeschwächt und Konjunkturzyklen verlängert werden. Wir befinden uns aktuell im zehnten Jahr nach der bislang größten Wirtschaftskrise, die der weltweite Kapitalismus seit der Weltwirtschafskrise von Anfang der 1930er Jahre erlebt hat. Einiges – ja sehr viel – spricht dafür, dass wir uns im Vorfeld einer neuen Wirtschaftskrise, dann wohl einer neuen weltweiten Finanz- und Wirtschaftkrise befinden. In diesem Sinn gibt es durchaus Vorzeichen. So fordert die IWF-Chefin Christine Lagarde dazu auf, einen Sonderfonds für die Folgen der absehbar neuen weltweiten Krise einzurichten. Noch vor dem offenen Ausbruch des neuen Handelskriegs schrieb der Altmeister bürgerlicher Nationalökonomie Martin Wolf: „Times are god now, but the fragility is real“, die konjunkturelle Stimmung sei gut, doch gleichzeitig gäbe es die Gefahr eines Einbruchs.[8]

Weiß man, wann diese Krise eintreten wird und wie sie aussehen wird? Anders herum gefragt: Konnten Karl Marx und Friedrich Engels Vorhersagen zum konkreten Verlauf von Konjunktur und Krisen treffen? In einem Brief, den Marx am 8. Dezember 1857 an Friedrich Engels schrieb, dabei bezugnehmend auf den gemeinsamen Freund Wilhelm Wolff, der als „Lupus“ bezeichnet wird, heißt es ironisch und selbstkritisch: „Da Lupus beständig Buch über unsere Krisenvorhersagen führte, so erzähle ihm, dass der ´Economist´ vom letzten Sonnabend erklärt, die Endmonate von 1853, durch ganz 1854, Herbst 1855 und ´the sudden changes of 1856´[die schlagartigen Veränderungen von 1856´] habe Europa immer nur hair-breadth escape vom impending crash gehabt [sei Europa immer nur um Haaresbreite dem drohenden Krach entgangen]“.

4

Arbeit ist nicht nur zentral für die Werttheorie. Arbeit ist auch zentral für das Gattungswesen Mensch – und zwar Arbeit im Sinn von sich – ohne Zwang – zu vergegenständlichen. Daraus folgt: Lohnarbeit ist auch deshalb unmenschlich, weil sie in vieler Hinsicht mit Entfremdung verbunden ist.

Marx hat das Thema Entfremdung vor allem in seinen Frühschriften, den sogenannten „Pariser Manuskripte“, später auch in den „Grundrissen“ ausgebreitet. Er bezeichnete die freie, selbstbestimmte Arbeit als das „Sich-außer-sich-Setzen“ des Menschen, als dessen Selbstverwirklichung: „In der Bearbeitung der gegenständlichen Welt bewährt sich der Mensch erst als Gattungswesen. […] Durch sie erscheint die Arbeit als sein Werk und seine Wirklichkeit. Der Gegenstand der Arbeit ist daher die Vergegenständlichung des Gattungslebens des Menschen.“[9]

Dieses Ziel menschlicher Arbeit setzt drei Dinge voraus: Es handelt sich erstens um freiwillige und selbstbestimmte Arbeit. Zweitens haben die Arbeitsergebnisse einen erkennbar nützlichen Gebrauchswert; die Arbeitenden identifizieren sich mit diesen. Drittens gibt es eine direkte (persönliche) oder indirekte (über demokratische Strukturen vollzogene) Verfügbarkeit über diese Arbeitsprodukte durch die Produzierenden, also die Arbeitenden.

Diese drei Elemente sind bei Lohnarbeit nicht gegeben – zumindest nicht als Ensemble. Die Lohnarbeit erfolgt primär unter Diktat und Zwang; es handelt sich um „Maloche“, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Eine Verfügung über die Arbeitsprodukte besteht weder direkt noch indirekt. Im Gegenteil: Durch die Trennung der Arbeitenden von den Produktionsmitteln und durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln, konzentriert in den Händen von wenigen, schafft der Lohnarbeitende mit jedem Arbeitstag eine ihm fremde, ihm feindlich gegenüberstehende Macht und verstärkt seine Ohnmacht.

Die Identifikation mit der Arbeit ist oft nicht gegeben; bei vielen Bereichen des kapitalistischen Arbeitens kann es eine solche Identifikation grundsätzlich kaum geben (Rüstung; Werbung).

Das gilt auch heute für riesige Industrien. So arbeiten in der Welttextilbranche mehr als 25 Millionen Menschen – gut drei Mal so viel wie in der Weltautobranche. Zwei Drittel sind Frauen. Die Arbeit wird bekanntlich unter extrem miserablen Bedingungen verausgabt; es herrscht Manchester-Kapitalismus pur. Der überwältigende Teil der Textilproduktion ist gesellschaftlich unnötig; bereits nach wenigen Waschvorgängen sind ein großer Teil der Produkte Wegwerfware. Alles zielt auf die Befriedigung von „fast fashion“; Annette Jansen: „H&M stellt alle paar Wochen eine neue Kollektion vor; Walmart oder Aldi ordern ausschließlich einmalige Schnäppchenware […] Aber auch Edelmarken wie Hugo Boss oder Calvin Klein lassen in Bangladesch unter unmenschlichen Bedingungen produzieren. Im Schnitt wächst der weltweite Textilabsatz um durchschnittlich 3 Prozent jährlich [Das ist mehr als das 2,5fache des jährlichen Wachstums der Weltbevölkerung; W.W.] Der Kapitalismus nahm seinen Ausgang in der Textilindustrie. Von Anfang an gehörten katastrophale Arbeitsbedingungen […] dazu. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Nur die Orte der Ausbeutung liegen woanders.“[10]

5

Die Standardkritik, die die anlässlich des 200. Geburtstag von Karl Marx gegenüber Marx und Engels vorgebracht wurde, lautet: Die marxistischen Vorhersagen hinsichtlich einer Verelendung der Arbeiterklasse waren grundfalsch. Die kapitalistische Gesellschaft erwies sich als wesentlich stabiler als von Marx und Engels vorhergesagt. Diese Kritik ist im Kern dann als falsch zu erkennen, wenn die Geschichte des Kapitalismus seit Ende dem 19. Jahrhundert betrachtet und wenn der Blick nicht geographisch verengt wird.

Der bereits zitierte Olaf Gersemann argumentierte im seinem „Geburtstagsartikel“: „Der Kapitalismus hat gezeigt, was der in seinem Determinismus gefangene Marx ihm absprach: Wandlungs- und Widerstandsfähigkeit. Die von Marx beschriebene Krisenanfälligkeit des Kapitalismus wird in der gelebten Wirklichkeit überstrahlt von seiner Fähigkeit, Krisen – eine sachgerechte politische Begleitung vorausgesetzt – zu überwinden.“ Für den Autor gibt es nur ein Auf und Ab von Konjunktur und Krise, das jedoch irgendwie normal und auf alle Fälle beherrschbar sei. Er schreibt: „Auf Phasen des Überschwangs, das hat Marx richtig diagnostiziert, folgt regelmäßig die Malaise. Und die mag sich bis heute oberflächlich immer wieder als existenzielle Erfahrung anfühlen. Wobei wir wissen: Das schwitzen wir aus, auch dieses Mal. In Friedenszeiten sind die Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland in den zwei Jahrhunderten seit Marx´ Geburtstag nie länger als wenige Jahre gefallen. Auch hat die Verelendung der allergrößten Teils der Bevölkerung – der Kern des gesamten Marx´schen Theoriegebäudes – nicht stattgefunden, im Gegenteil.“

Ähnlich eine Bilanz in der Börsen-Zeitung: „Unterm Strich hat die Massenproduktion […] gerade nicht zur Massenarmut geführt, sondern vielmehr Massenwohlstand produziert.“ Die „moderne Ökonomie“ sei „viel wandelbarer, flexibler und gestaltbarer, als Karl Marx das annahm.“[11]

Diese Darstellungen berücksichtigen nicht oder bagatellisieren das gewaltige Ausmaß an absoluter Armut, das es auch heute in der Welt gibt. Ein Sechstel der Weltbevölkerung – mehr als eine Milliarde Menschen – hat auch heute pro Tag weniger als ein Dollar in lokaler Kaufkraft zur Verfügung; mehr als 40 Prozent der Weltbevölkerung haben pro Tag weniger als zwei US-Dollar in lokaler Kaufkraft zur Verfügung.

Nicht berücksichtigt wird dabei auch die Wiederkehr von struktureller Armut und Not und von unwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen auch in den hoch entwickelten Ländern. Millionen Menschen benötigen inzwischen auch in Deutschland oder Österreich zwei Jobs, um ein – meist sehr karges – Auskommen zu haben. In Deutschland gibt es eine Million und in Österreich 100.000 Leiharbeitskräfte. Die in dieser Branche lohnabhängig Beschäftigten verkaufen ihre Arbeitskraft an ein Unternehmen, inzwischen oft an einen Konzern, der diese weiterverkauft. In der BRD ist allein die Zahl der Leiharbeiter inzwischen um 20 Prozent größer als die Zahl derjenigen, die in der maßgeblichen Industriebranche, in der Autoindustrie, einschließlich der Zulieferindustrie, Beschäftigung finden. Das gesamte Prekariat (Leiharbeit, Minijobber, Midijobber, Ich-AGs, Scheinselbständige, working poor), das zweifellos Arbeitende sind, die von besonders großer Entfremdung betroffen sind, dürfte in Deutschland heute mehr als fünf Millionen Personen stark sein. Die vor uns stehenden Prozesse der Digitalisierung und die Ausdehnung der „Plattform-Konzerne“ wie Uber, Deliveroo, Flixbus usw. könnten dazu führen, dass diese neue Stufe der Entfremdung zum bestimmenden Moment des aktuellen Kapitalismus wird.

Die zitierten Darstellungen klammern die großen Kriege aus ihrer Betrachtung aus. Diese sind jedoch – wie bereits von Friedrich Engels mit Blick auf einen kommenden Weltkrieg vorhergesehen und von Rosa Luxemburg systematisch analysiert – logisches Ergebnis von Kapital, Konkurrenz, Expansion und Militarismus. Der damit verbundene Tod von Dutzenden Millionen Menschen und die Verelendung von 100 und mehr Millionen Menschen sind somit dem Kapital und seiner Wirkungsweise zuzuschreiben.

Die Behauptungen, dass die aktuellen Krisen „ausgeschwitzt“ werden könnten und die Unterstellungen, es handle sich hier um ein bloßes Auf und Ab, sind kühn und wirklichkeitsfremd. Die Weltwirtschaftskrise 1929-32 war eine enorme Erschütterung des Weltkapitals; Faschismus und Zweiter Weltkrieg waren zumindest in wesentlichem Maß durch diese kapitalistische Krise mit-bedingt. Während der weltweiten Krise 2007/2008 gab es auch nach Aussagen führender Kapitalvertreter mehrere Situationen, in denen die Welt erneut in den Abgrund eines Crashs blickte. Und hätte jemand vor zehn Jahren gesagt, es sei vorstellbar, dass heute ein EU-Land an den Rand des Staatsbankrotts gelangen und in diesem Zusammenhang verfassungs- und vertragswidrig die Arbeitseinkommen aller Normalverdiener und die Alterseinkommen um 30 und mehr Prozent gekürzt werden könnten, er wäre für unzurechnungsfähig erklärt worden. Genau dies ist jedoch in Griechenland im Zeitraum 2015 bis 2018 passiert. Vergleichbares droht aktuell Italien.

6

Kapitalismus heißt Klassengesellschaft, heißt Klassenkampf. Die Dynamik kapitalistischer Produktion – einschließlich der Krisendynamik – mündet in einer immer stärkeren Konzentration des Kapitals und des Reichtums. Diejenigen, die vom Verkauf ihrer Ware Arbeitskraft leben, die auf diesen Verkauf angewiesen sind, sind diejenigen, die das größte objektive Interesse an der Umwälzung der bestehenden Verhältnisse, die Interesse an umfassender Emanzipation – vulgo an Revolution – haben.

Es mag schon sein, dass die Struktur und Lage der Arbeiterklasse, des Proletariats, früher übersichtlicher war – jedenfalls im westlichen Europa und in Nordamerika. Die Behauptung jedoch, diese arbeitende Klasse sei am Verschwinden, ist unhaltbar – ist dann falsch, wenn wir „lohnarbeitende Klasse“ als Zusammenfassung derjenigen definieren, die zum Verkauf der Ware Arbeitskraft gezwungen sind – und die von diesem Verkauf im Wesentlichen nur ihren Lebensunterhalt, den ihrer Familien und die Reproduktion derselben finanzieren können.

Richtig ist, dass diese weiter existente und sich weiter absolut und relativ vergrößernde „Klasse an sich“ nur selten – und aktuell eher weniger – zur „Klasse für sich“ wird, dass die in dieser Klasse objektiv zusammengefassten Menschen sich ihrer Situation und potentiellen Macht bewusst werden. Die Zerklüftung und Aufspaltung der arbeitenden Klasse hat in den OECD-Staaten zugenommen. Und der subjektive Faktor Gewerkschaften, der einen entscheidenden Beitrag zur Bewusstwerdung – und zur SELBSTbewusstwerdung – dieser Klasse spielen müsste, ist geschwächt und vor allem in den neuen Schichten der arbeitenden Klasse – im Prekariat, in den IT-Unternehmen, in den Betrieben des Plattform-Kapitalismus, bei den Leiharbeitskräften – viel zu wenig präsent. Wobei betont werden muss, dass die Anstrengungen von verdi, bei Amazon, in Krankenhäusern, im Bereich des Pflegepersonals, bei den outgesourcten Sektoren auf den Airports Fuß zu fassen, usw. in die richtige Richtung gehen und begrüßt werden müssen.

Wobei hier der Weltkapitalismus in den Blick zu nehmen ist. Und wir dann zu einem anderen Bild gelangen. Auf Weltebene nimmt auch die Zahl derjenigen, die wir zur „klassischen Arbeiterklasse“ zählen, von Jahr zu Jahr weiter zu – insbesondere in den wichtigsten „emerging markets“, den „Schwellenländern“, allen voran in Indien und China, wo inzwischen ein Drittel der Menschheit lebt und wo die Beschäftigtenzahlen in der Landwirtschaft absolut und relativ massiv rückläufig sind, während die industrielle Arbeiterklasse absolut erheblich wächst und auch relativ ihr spezifisches Gewicht erhöht.

Natürlich trifft zu, was hundertfach in den aktuellen Kommentaren anlässlich des runden Geburtstags von Marx in den Mainstream-Medien zu lesen und zu hören war: Einiges in der Entwicklung des Kapitalismus wurde von Marx und Engels nicht vorhergesehen. Richtig ist jedoch auch: Einiges in der realen kapitalistischen Entwicklung übertrifft auch alles, was Karl Marx und Friedrich Engels vorhergesagt hatten. Die Börsen-Zeitung schreibt in der bereits zitierten Marx-Bilanz: „Die Relativierung der unternehmerischen Macht […] wurde letztlich durch Reformen erreicht.“ Ach ja? In der Weltautobranche beherrschen heute zwölf Autokonzerne 75 Prozent des Weltmarkts – dies hat sich übrigens nicht geändert, obgleich der rein physische Anteil der Autofertigung massiv nach Asien und weg von Nordamerika und Westeuropa verschoben wurde. In der IT-Branche beherrscht ein halbes Dutzend Konzerne 75 Prozent der IT-Software. Im Flugzeugbau beherrschen zwei Konzerne 95 Prozent des Weltmarkts mit großen Jets. Weltweit haben 44 Menschen ein akkumuliertes Vermögen, das größer ist als dasjenige der ärmeren Hälfte der Menschheit. Also 44 gleich größer als 3,6 Milliarden. Vergleichbares gilt, so errechnete jüngst das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), für Deutschland: Danach besitzen hier die 45 reichsten Haushalte so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Wobei der derart einmalig angehäufte Reichtum nicht abstrakt ist und keineswegs primär oder allein der Prasserei dient. Mit diesem ungeheuren Vermögen ganz Weniger haben diese Supereichen Macht über die Arbeitskraft von hunderten Millionen Menschen – teilweise in direkter Form, wenn sie als Unternehmer aktiv sind. In der Regel in indirekter Form, indem sie ihr Geld „anlegen“ auf Bankkonten, in Aktien, in Investmentfonds usw.

Am vergangenen 1. Mai wurde in kaum einer offiziellen Gewerkschaftsrede die Emanzipation der Arbeit gefordert; das Wort „Klassenkampf“ fiel so gut wie nie. Es ist heute oft die Gegenseite, die Klartext redet. Warren Buffet, einer der Reichsten auf dieser Welt, stellte kühl fest: „Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt. Und wir gewinnen.“ [12]

7

Es gibt ein Recht auf Revolte. Es gibt die Notwendigkeit der Revolution. Es gibt die Realität von Revolten und Revolutionen.

Vor dem Hintergrund ihrer Analyse des Kapitalismus als Klassengesellschaft und der Lohnarbeit als entfremdeter sahen Marx und Engels in den Widerstandsaktivitäten der arbeitenden Menschen immer das Große-Ganze: das Aufbegehren gegen den entmenschlichenden Kapitalismus, ein Stück soziale Revolution.

Bereits in dem Schlesischen Weberaufstand vom 4. bis zum 6. Juni 1844, der gemeinhin als „Hungerrevolte“ bezeichnet wird, erblickten Marx und Engels einen allgemeinen Aufstand der Arbeiterklasse gegen die kapitalistischen Unterdrücker. Wobei das keine Marotte von zwei Sektierern war. Dies wurde just auch von Heinrich Heine in seinem nur anscheinend romantischen Gedicht „Die schlesischen Weber“ so dargestellt.

Der „Fluch“ der Weber gilt dabei in einer Strophe „dem Gotte, zu dem wir gebeten“. Dann heißt es in der zweiten und in einer dritten Strophe:

Ein Fluch dem König, dem König der Reichen, / Den unser Elend nicht konnte erweichen, / Der den letzten Groschen von uns erpresst / Und uns wie Hunde erschießen läßt – / Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem falschen Vaterlande, / Wo nur gedeihen Schmach und Schande, / Wo jede Blume früh geknickt, / Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt – / Wir weben, wir weben! /

Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht, / Wir weben emsig Tag und Nacht – / Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch, / Wir weben hinein den dreifachen Fluch, / Wir weben, wir weben![13]

Wobei Heinrich Heine – man vergisst es ja leicht – in dieser Zeit eng mit Karl Marx befreundet war; der Dichter schrieb „Ich hab ein neues Schiff bestiegen mit neuen Genossen.“ Als Marx 1844 aus Paris ausgewiesen wurde, schrieb er an Heine: „Ich möchte Sie gern einpacken.“

Als 1871 in Paris die – überwiegend kleinbürgerliche und proletarische Bevölkerung – die Macht ergriff und die Pariser Kommune gebildet wurde, erfolgte auch dies eher als passive, als verzweifelte Maßnahme der Gegenwehr. Die Beschlüsse, die in der von preußischen und bürgerlich-französischen Truppen belagerten Stadt gefasst wurden, waren im Kern Notmaßnahmen. Marx sah auch hierin das Größere, das durch diesen Aufstand Hindurchscheinende. Er schrieb in der Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich“:

Ihr [der Kommune; W.W.] wahres Geheimnis war dies: sie war wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfes der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte. […] Die politische Herrschaft der Produzenten kann nicht bestehen neben der Verewigung seiner gesellschaftlichen Knechtschaft. Die Kommune sollte daher als Hebel dienen, um die ökonomischen Grundlagen umzustürzen, auf denen der Bestand der Klassen und damit der Klassenherrschaft ruht.“ Um daran direkt anzuschließen einen Satz, der erneut das Thema der Entfremdung aufgreift, indem er das Ende von Entfremdung mit der politischen Selbstbestimmung verknüpft: „Einmal die Arbeit emanzipiert, so wird jeder Mensch ein Arbeiter, und produktive Arbeit hört auf, eine klasseneigenschaft zu sein.“[14]

Und heute? In den vergangenen Wochen schrieb alle Welt auch über „50 Jahre ´1968´“. Oft sind die Rückblicke höchst demagogisch. Vielfach werden peinliche Autoren in Stellung gebracht (Alt-68er, die längst im vormals bekämpften System „angekommen“ sind). Diejenigen, die sich treu blieben – ich bezeichne sie im Gegensatz zu den Überläufern als „LANGläufer“ – werden kaum erwähnt.[15]

Vor allem aber gilt: Äußerst selten wird diese Revolte in den – zutreffenden und entscheidenden – Zusammenhang gestellt, in den einer Zeitenwende, in der sich verbanden:

  • weltweit der Antikriegsprotest – die Massenmobilisierungen gegen den US-Krieg in Indochina

  • eine weltweite Revolte von Studierenden gegen hierarchische Strukturen und gegen die Unterordnung von Studium und Forschung unter das kapitalistische Diktat

  • Massenstreiks von Millionen Arbeiterinnen und Arbeitern gegen die Kapitalmacht (allein in Frankreich rund zehn Millionen)

  • ein antibürokratischer, demokratisch-sozialistischer Protest, an dem sich jeweils Zehntausende in Warschau und Belgrad und Hunderttausende in Prag beteiligten; in der CSSR ausdrücklich mit dem Ziel der Verwirklichung eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, was ja im Grunde die Basics von Marx und Engels waren.

Es ist schon klar, warum es in den aktuellen Rückblicken auf „1968“ auch nicht die Andeutung eines Versuchs gibt, vergleichbare Zusammenhänge herzustellen: Weil damals schlicht und einfach kurz aufschien, dass sogar auf spontaner, zufälliger Basis es zu einer weltweiten Revolte für Demokratie und Sozialismus kommen kann. Und auch, weil man dann, wenn man diesen Zusammenhang herstellt, eingestehen muss, dass es zu einer solchen „Weltrevolte“ kommen kann, ohne dass irgendein kluger Kopf auf der Welt oder irgendein gut gesponserter Think tank „sowas“ vorhersehen kann.

8

Diejenigen, die sich für gesellschaftliche Emanzipation engagieren, müssen Theorie und Praxis verbinden. Das ist mit Leidenschaft und sehr oft mit Entbehrungen und sozialen Härten verbunden.

Marx hat nach seinem akademischen Abschluss in Berlin und „in absentia“ in Jena sein gesamtes Leben der wissenschaftlichen Arbeit und dem praktischem Engagement im Dienst der arbeitenden Klasse gewidmet und für die von ihm bald erwartete Revolution geschrieben – ja förmlich versucht, diese „herbeizuschreiben“. Die Bedingungen, unter denen dies erfolgte, werden heute meist ausgeblendet oder nur gestreift. In Wirklichkeit waren sie prägend für den größten Teil seines Lebens – und vor allem: sie waren schlicht fürchterlich.

Ein großer Teil der Marx´schen Korrespondenz mit Freund Engels betrifft die miserable finanzielle und häusliche Lage. Schon 1851 heißt es: „Zu Hause immer alles im Belagerungszustand, Tränenbäche ennuyieren mich ganze Nächte und machen mich wütend […] Meine Frau tut mir leid. Auf sie fällt der Hauptdruck, und au fond hat sie recht […] Trotz allem erinnerst Du Dich, dass ich von Natur très peu endurant und sogar quelque peu dur, so dass von Zeit zu Zeit mein Gleichmut verloren geht.“

Erst zwei Jahrzehnte später konnte Engels so viel zur finanziellen Lage von Marx und dessen Familie beitragen, dass diese unmittelbare Not nicht mehr existent war.

Sicherlich hätte Marx eine steile Karriere an einer europäischen – wohl kaum an einer preußischen – Universität „hinlegen“ können. Er hätte sich dann auch auf seine wissenschaftlichen Arbeiten konzentrieren und das eine und andere angefangene Werk vollenden können, vielleicht sogar Band II und III des „Kapital“. Unter den gegebenen Bedingungen musste er viele journalistische Beiträge – so für amerikanische Zeitungen – schreiben, um Geld im Überlebenskampf zu erhalten. Die unglaublich aufopferungsvolle – und keineswegs rein „traditionalistische“ – Rolle, die dabei seine Frau Jenny im Haushalt, für die Kinder, als Sekretärin und als Beraterin spielte, kann hier auch nicht ansatzweise gewürdigt werden. Klaus Gietinger veröffentlichte hierzu vor ein paar Wochen ein höchst originelles und äußerst belebendes Buch.[16]

Richtig ist aber auch: Die Tatsache, dass Karl Marx seinen Weg so konsequent – oft auch sektiererisch und erbittert – ging, verleiht ihm nicht nur als Wissenschaftler, sondern vor allem auch als Kämpfer für die gesellschaftliche Emanzipation seine Größe. Und vor allem seine Überzeugungskraft.

9

Der gegenwärtige Kapitalismus wird heute von einem sehr großen Teil der Weltbevölkerung, wenn nicht von deren Mehrheit, als nicht zukunftsfähig, als letzten Endes zerstörerisch und Leben verneinend erkannt.

Es war Joseph Schumpeter, der große bürgerliche Analytiker des „modernen“ Kapitalismus, ein Lobpreisender der neuen „Unternehmerpersönlichkeiten“ (was heutzutage ja die Start-ups, die Elon Musk, Jeff Bezos, Bill und Melinda Gates sind), der schrieb, dass dieser Kapitalismus keine Anziehungskraft mehr habe, ja, dass er abstoßend wirke. Schumpeter schrieb – allerdings am Ende seines Lebens, nach der Weltwirtschaftskrise, auf dem Höhepunkt des faschistischen Terrors in Europa und während des Zweiten Weltkriegs, für den, wie im Fall des Ersten Weltkriegs, das Kapital und seine Triebkräfte selbst die wesentlichen Verursacher waren:

Unter diesen Umständen kann es dahin kommen, dass der Kapitalismus als eine Wertordnung, ein Lebensstil und eine Kulturform keinen Einsatz mehr verlohnt. (… ) Marx irrte in seiner Diagnose der Art und Weise, in welcher die kapitalistische Gesellschaft zusammenbrechen würde; er irrte nicht in der Voraussage, dass sie schließlich zusammenbrechen werde.“[17]

Nach dem Zweiten Weltkrieg, in Westeuropa in den Wirtschaftwunderjahren, erlangte der Kapitalismus – nunmehr verschämt als „Marktwirtschaft“ bezeichnet – nochmals eine Strahlkraft. Die weltweite Revolte von 1968 und neuen schweren Wirtschaftskrisen, zu denen es ab den 1970er Jahren kam, führten im Westen bereits zu einer deutlichen Erosion dieser neu gewonnenen Glaubwürdigkeit. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der DDR und des übrigen Ostblocks kam es in den 1990er Jahren nochmals zu einem kurzen Aufblühen vergleichbarer Hoffnungen und Erwartungen. Doch spätestens seit der weltweiten Krise 2007/2008 herrscht allgemeine Ernüchterung. Banken wird nach der Bankenkrise buchstäblich „alles“ zugetraut. Die Autokonzernen werden nach „Dieselgate“ von vielen Menschen mit einer kriminellen Organisation in Verbindung gebracht. Die Unfähigkeit der EU und der Regierungen in den meisten EU-Mitgliedsländern, solidarisch auf die Migration zu reagieren und seriös die Fluchtursachen selbst zu bekämpfen – nicht zuletzt durch einen Stopp von Rüstungsexporten und ein Ende aller militärischen Interventionen – ist offenkundig. Sinkende Wahlbeteiligungen und verbreitete Entpolitisierung – zugleich Grundlage für den Aufstieg rechter und rechtspopulistischer Parteien – sind Ausdruck dieser Entwicklung.

Die Frankfurter Rundschau vom 5. Mai 2018 traf ins Schwarze, wenn sie über einen dreiseitigen Beitrag zu Marx die Überschrift setzte „Seismologe der modernen Welt“. Den Kern der Sache trifft auch die Financial Times vom gleichen Tag, dem 5. Mai, in der zu lesen war: „Was den Rückgriff auf den Original-Marx heute so wertvoll macht, ist das Verständnis, dass mit dem Verschwinden des 20. Jahrhunderts und mit dem Niedergang der Sowjetunion und des Wohlfahrtsstaats die Welt des globalisierten freien Markt-Kapitalismus, die wir heute erleben, sehr viel gemein hat mit der Welt, über die Marx in der Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb.“

Der diskrete Charme der Bourgeoisie ist weg. Richtig ist allerdings, dass eine Alternative nicht in Sicht ist. Und natürlich sieht es nicht so aus, dass der Kapitalismus zusammenbricht. Wir erleben vielmehr eine durch und durch kapitalisierte Welt, in der zugleich erneut Handelskriege stattfinden, die wiederum als Drohung und als potentielle Vorboten für große Kriege zu verstehen sind. Wir erleben eine Welt, in der inzwischen mit 1,6 Billionen Euro für Rüstungsausgaben im Jahr – so die SIPRI-Bilanz des Jahres 2017 – das Zehnfache der sogenannten Entwicklungshilfe ausgegeben wird. Wir spürten im April dieses Jahres die Nähe eines großen Krieges, auch eines atomar geführten Kriegs. Der finstere Herr im Weißen Haus twitterte am 11. April: „Mach dich bereit, Russland. Denn sie [die Raketen] werden kommen, schön und neu und intelligent.“ Vielleicht muss man ins neutrale Ausland schauen, um deutlicher zu erkennen, was da gespielt wurde – und was weiter – nunmehr mit Blickrichtung Tel Aviv und Teheran – gespielt wird. Die Schweizer Tageszeitung Blick“ titelte am Tag darauf, dem 12. April: „Welt in Kriegsangst – Trump twittert sich Richtung Krieg“. Und schrieb ergänzend: „Der russische Präsident wird plötzlich zur Stimme der Vernunft.“

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Das Marx´sche Denken, Schreiben und Engagement war durchdrungen von seiner Vision einer neuen und solidarischen Gesellschaft. Eine solche Vision ist heute – angesichts gewaltiger Herausforderungen durch Klimaveränderung, neue schwere Krisen und drohender Kriege – notwendiger denn je.

In Marx´ „Thesen über Feuerbach“ – als Abschluss der „Deutschen Ideologie“ – war bereits das Ziel allen revolutionären Handelns beschrieben: „Die Philosophien haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.“ Er und sein Freund Frederik formulierten auch früh den „kategorischen Imperativ“, der zu befolgen sei, und der darin bestünde, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“[18].

Die Gründe, warum die bürgerlichen Medien in den Wochen um den runden Marx-Geburtstag herum diesen Herrn aus allen möglichen Blickrichtungen betrachteten, warum sie ihn neu dämonisieren und sezieren, warum sie ihn als Antidemokrat und Haustyrann hinstellen, ist der Tatsache geschuldet, dass weiterhin leicht abgewandelt das gilt, was im Kommunistischen Manifest proklamiert wurde.:

Ein Gespenst geht um in dieser Welt – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte der alten Welt haben sich zu einer heiligen Allianz gegen das Gespenst verbündet – unter der Losung: ´TINA – there is no alternative´. Zweierlei geht aus dieser Tatsache hervor. Der Kommunismus wird bereits von vielen Mächten als eine Macht anerkannt. Es ist hohe Zeit, dass wir unsere Anschauungsweise, Zwecke, Tendenzen vor der ganzen Welt offen darlegen und dem Gespenst des Kommunismus ein Manifest der neuen solidarischen Gesellschaft entgegenstellen.“

In dieser Situation brauchen wir dringend einen neuen Aufbruch, wie es einen solchen 1848 und 1968 gab. Die namentlich hier nicht weiter identifizierte linke Gruppe hat ja recht, wenn sie ihren Jahreskongress betitelt mit „Marx is muss“.

Richtig viel Gehirnschmalz sollte man dabei dafür verausgaben, in welcher Tonart ein solches Manifest verfasst sein sollte – ob es im Stil von Leonard Cohen und seinem wunderbaren Song und Text „The Anthem“ vorzutragen sei, oder ob es ge-rappt werden muss.[19]

Es war die kluge Kunstfigur Ziffel, die sich in Bertolt Brechts „Flüchtlingsgesprächen“ darüber tiefgründige und auch für heute aufschlussreiche Gedanken machte. Dies wie folgt:

Ich hab mich oft gewundert, warum die linken Schriftsteller zum Aufhetzen nicht saftige Beschreibungen von den Genüssen anfertigen, die man hat, wenn man hat. Ich seh´ immer nur Handbücher, mit denen man sich über die Philosophie und die Moral informieren kann […] Eine einfache Beschreibung der Käsesorten, fachlich und anschaulich geschrieben, oder ein künstlerisch empfundenes Bild von einem echten Omelette würde ungemein bildend wirken.“[20]

Grundlage dieses Textes ist eine Rede, die Winfried Wolf am 5. Mai 2018 in Köln auf einer Veranstaltung der Sozialistischen Zeitung/SoZ zum Gedenken an Karl Marx hielt. Die Rede wurde die Veröffentlichung in Lunapark21 bearbeitet und deutlich erweitert.

Anmerkungen:

[1] Artikel in der neuen Ausgabe von FaktenCheck:WUPPERTAL, Nr. 3, Mai 2018. FaktenCheck:WUPPERTAL erscheint seit drei Ausgaben für Wuppertal und Region im Doppelpack mit Faktencheck:EUROPA – FCE

[2] Marx schrieb: „Das Manuskript ´Die deutsche Ideologie´, zwei starke Oktavbände, war längst an seinem Verlagsort in Westphalen angelangt, als wir die Nachricht erhielten, daß veränderte Umstände den Druck nicht erlaubten. Wir überließen das Manuskript der nagenden Kritik der Mäuse umso williger, als wir unsern Hauptzweck erreicht hatten – Selbstverständigung.“ In: MEW Band 13, S. 9.

[3] Karl Marx, Das Kapital Band I, MEW 23, S. 85.

[4] Handelsblatt vom 5. September 2010.

[5] Das Kapital Band III, MEW Band 25, S. 838.

[6] Ebenda.

[7] Stefan Lorz, Essay zum 200. Geburtstag von Karl Marx, in: Börsen-Zeitung vom 4. Mai 2018.

[8] In: Financial Times vom 18. April 2018.

[9] Karl Marx, Ökonomisch-Philosophische Manuskripte aus den Jahr 1844 („Pariser Manuskripte), Marx-Engels Ausgewählte Werke, Berlin 1978, Band v, S. 91.

[10] Annette Jensen, Textilien für die Welt, in: Atlas der Globalisierung – weniger wird mehr, herausgegeben von Le Monde Diplomatique, 2015, S.65.

[11] Börsen-Zeitung vom 4. Mai 2018.

[12] Warren Buffet in einem Interview mit Ben Stein für die New York Times (vom 26. November 2006): ”There’s class warfare, all right, but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.” [Abgerufen am 12.05.2018]

[13] Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, München 1971, Band 4, S. 455.

[14] Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW Band 17, S. 342.

[15] Ich beendete vor wenigen Wochen einen Text über einen solchen „Langläufer“ und verfasste einen Text zum Werk von Bernd Köhler, u.a. aktiv im Lunapark21-Team. Er erscheint in Bälde in Chaussee – Zeitschrift für Literatur und Kultur der Pfalz

[16] Klaus Gietinger, Karl Marx, die Liebe und das Kapital, Frankfurt/M. 2018.

[17] Joseph Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen 1993 (Erstausgabe: USA 1942), S. 525.

[18] Marx fährt hier wie folgt fort: „… Verhältnisse, die man besser schildern kann als durch den Ausruf eines Franzosen bei einer projektierten Hundesteuer: Arme Hunde! Man will euch wie Menschen behandeln!“ Karl Marx, zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEW Band 1, S. 385.

[19] Ich benutzte den Text von „The Anthem“ als Leitmotiv für das letzte Kapitel im Buch (Winfried Wolf), abgrundtief + bodenlos. Stuttgart 21, sein absehbares Scheitern und die Kultur des Widerstands, Köln 2018. Cohen trug das Lied am 1. Oktober 2010 in Stuttgart in der Schleyer-Halle vor 6000 Menschen vor. Der Tag zuvor ging in die Geschichte der Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21 ein als der „Schwarze Donnerstag“. Cohen hatte die Polizei-Aggression am 30. September 2010 zufällig selbst beobachten können. Er widmete den Song „The Anthem“ den vielfach 200-jährigen „Bäumen“ im Stuttgarter Mittleren Schlossgarten – die in der Folge der Räumung des Gartens dann gefällt wurden.

[20] Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Frankfurt/M. 1967, Band 14, S. 1393.