Krank werden am System – das kapitalistische System ist krank!

Wolfgang Hien. Lunapark21 – Heft 22

Eine durchaus beeindruckende Menge an neuer psychologischer und soziologischer Literatur befasst sich mit der Frage, inwieweit die kapitalistische Dynamik mit all ihren Auswüchsen der Flexibilisierung und Entgrenzung von Arbeit und Leben, des Wachstums- und Beschleunigungszwangs, der Verinnerlichung von Fremdsteuerung, der Vertiefung von Entfremdung und der regelrechten Produktion von Sinnlosigkeit zu immer mehr psychischen und psychosomatischen Erkrankungen führt.

Im Grundtenor wird diese Frage von den meisten seriösen Autorinnen und Autoren bejaht: Die erschreckende Zunahme von Depressionserkrankungen und Angststörungen hat viel mit wachsenden Unsicherheiten, mit zerplatzenden Lebensentwürfen und mit wirtschaftlichen und sozialen Problemlagen zu tun, in die ganze Berufsgruppen mit ihren Familien durch zumeist global organisierte, rücksichtslose Unternehmenspraktiken hineingerissen werden. Die Arbeitsministerin, die ihr unterstellten Behörden wie z.B. die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin und Legionen von Arbeitspsychologen und Beratern ermahnen nun die Unternehmen, doch bitte nicht ganz so rücksichtslos zu sein. Zugleich erhöht sich – wenn richtig gerechnet wird – der Grundstock an Langzeitarbeitslosigkeit. In fast allen Großstädten bilden sich soziale Polarisierungen. Ganze Stadtteile werden regelrecht abgehängt, manche Stadtteile sind dabei, in eine Lage abzugleiten, für die der Begriff des Elendsquartiers gerechtfertigt erscheint. Die Gesundheitswissenschaft stellt einhellig eine verschärfte gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland und in Europa fest, eine Entwicklung, die hoch korreliert ist mit der wachsenden ökonomischen Ungleichheit. Führende Gesundheitswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler mahnen: Ökonomische und soziale Ungleichheit untergräbt die so mühsam aufgebaute Wertschätzung gegenüber den unteren Klassen.

Und: Mangelnde Wertschätzung macht krank. Die Gesundheitspolitik reagiert mit unzähligen Programmen der Gesundheitsförderung: Bewegungsförderung, Ernährungsberatung, Entspannungskurse und tausende von Projekten in sogenannten Problem-Stadtteilen. Bei all diesen mehr oder weniger gutgemeinten Programmen und Projekten kommt die entscheidende Frage nach dem Gesellschaftssystem aus dem Blick. Dabei hat schon die kritische Theorie der Gesellschaft in den 1940er- und 1950er-Jahren, ebenso wie die Anti-Psychiatriebewegung der 1960er- und 1970er-Jahre, die These formuliert: Wenn die Gesellschaft als Ganzes irrational ist, dann ist der Einzelne in seinem Bemühen, rational zu handeln, gezwungen, sich der gesellschaftlichen Irrationalität anzupassen.

Nehmen wir Rücksichtslosigkeit als Beispiel: Derjenige, der rücksichtslos handelt, verhält sich systemkonform und damit rational. Derjenige aber, der rücksichtsvoll handelt, geht im Konkurrenzkampf um die besseren Plätze unter. Er oder sie ist auf der Verliererseite, mit all den bekannten Folgen: dem Gefühl der Niederlage, dem diskriminierenden Mitleid der anderen, nicht selten preisgegeben der Lächerlichkeit oder der Verachtung. Das hält niemand lange aus. Krankheit ist dann geradezu vorprogrammiert.

Genau genommen verhält sich die Sache doch genau umgekehrt: Nicht der Einzelne ist krank, sondern die Gesellschaft ist krank, die vom Einzelnen unsoziales Verhalten fordert. Nicht der Einzelne ist verrückt, sondern die Gesellschaft, die das menschliche Maß verliert, die nur einheits-angepasste, arbeits- und einfügsame Subjekte duldet; Menschen, die nichts mehr hinterfragen. Wer die gegebenen Dinge kritisch befragt, wer Visionen eines anderen Zusammenlebens hat, wer gar widerständig ist und sich Zumutungen und Zurichtungen nicht gefallen lassen will, der oder die läuft Gefahr, über kurz oder lang exkommuniziert oder exkludiert zu werden. Ja: Der oder die läuft mitunter Gefahr, aller Mittel des Lebens beraubt, zwangspsychiatrisiert und eingesperrt zu werden. Depression und Angst darf man gerne haben: Pharma- und Psychiatrie-Industrie freuen sich. Widerständige freilich sind Störer im System. „Rezidivierende und nicht therapierbare Anpassungsstörung“ ist eine offizielle Krankheitsbezeichnung, die für den oder die Betroffene mitunter sehr gefährlich werden kann. Ein beachtliches Heer von Psychologen, Psychiatern und Juristen steht bereit zum Kampf – gegen solche Widerständler, solche Widersacher, solche „Problemfälle“.

Hieraus ist eine entscheidende Schlussfolgerung zu ziehen: Nein: Du bist nicht verrückt, das sowieso nicht! Du musst dich wehren! Aber schließe dich mit anderen zusammen! Mach bloß keine Alleingänge! Das System ist krank. Erforderlich ist eine ursächliche Therapie! Dafür aber braucht es die Solidarität der vielen, denen es genau so geht wie dir!

Wolfgang Hien ist Arbeits- und Gesundheitswissenschaftler, Medizinsoziologe, Biographieforscher und Lehrbeauftragter der Universität Bremen im Studiengang Public Health. Er leitet das Forschungsbüro für Arbeit, Gesundheit und Biographie in Bremen.ٽ

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