Markt und Wachstum vor Menschenrechten. Weltentwicklungsbericht 2012 „Geschlechtergleichheit und Entwicklung“

Aus: LunaPark21 – Heft 17

Alle reden von Krise. Die Weltbank nicht. Zumindest nicht im Weltentwicklungsbericht (WDR) 2012. Der hat Geschlechtergleichheit zum Thema. Sozusagen antizyklisch. Während sich in der Entwicklungspolitik und ihren Institutionen eine Gender-Müdigkeit breitgemacht hat, schreibt die Weltbank auf 420 Seiten gegen diese Erschöpfung an. Erstmalig widmet sie ihre Leuchtturmpublikation, mit der sie jährlich Diskurshoheit zu einem entwicklungspolitischen Thema beansprucht, Geschlechterunterschieden und Gleichstellungspolitik.

Seit den 1970er Jahren setzt die Weltbank immer wieder ihre Duftmarken in der entwicklungspolitischen Debatte über Frauen. Bereits 1975 strebte sie an, dass „ein großer Teil der menschlichen Ressourcen auf dieser Welt nicht untergenutzt bleiben“ und Frauen „Teil des Hauptstroms wirtschaftlicher Entwicklung“ werden sollten, um Produktivität, Effizienz und Wachstum zu steigern und dadurch Armut zu reduzieren. 2006 legte sie einen Aktionsplan mit dem flotten Titel „Geschlechtergleichheit als smarte Wirtschaft“ vor. Das „ökonomische Empowerment“ von Frauen wollte sie unterstützen, um deren Wettbewerbsfähigkeit zu steigern und Wachstum zu teilen.

Das Mantra, dass die „untergenutzten“ Frauen für die Märkte mobilisiert werden müssen, ist auch ein Leitmotiv im neuen Weltentwicklungsbericht. Gleichstellung mache die Wirtschaft „smart“, d.h. sie sei förderlich für Wettbewerb und Wachstum. Allerdings konzidiert die Bank nun zum ersten Mal, dass Geschlechtergleichheit ein Entwicklungsziel an und für sich und ein selbstbestimmtes Leben ein Menschenrecht ist. Wachstum und Einkommen würden keineswegs automatisch Geschlechterungleichheiten beseitigen. Denn diese sind durch ein komplexes Wechselspiel zwischen Institutionen wie Haushalt (von der Weltbank stets als intakte Nuklearfamilie unterstellt), Markt und sozialen Normen verursacht.

Die Weltbank meint, dass durch „Entwicklung“ große Gleichheitsfortschritte im Bildungssektor, in der Lebenserwartung und der Erwerbsarbeitsbeteiligung erzielt wurden. Deshalb fokussiert der Bericht auf vier Bereiche, in denen die Geschlechterkluft ihrer Meinung nach am größten ist: die hohe Sterblichkeit von Mädchen und Frauen, Nachteile in der Bildung, wirtschaftliche Chancen und Mitbestimmung im Haushalt und der Politik.

Dabei bleibt die Bank ihrer alten Logik treu: Es ist der Markt, der ihr Entwicklungskonzept dominiert, die Steigerung von Effizienz, Wachstum und letztlich Rentabilität. Ökonomische Kosten oder Nutzen sind der zentrale Maßstab zur Bewertung von Geschlechterverhältnissen. Immer noch leitet die Bank ihre Genderpolitik nicht konsistent aus einem Rechtsansatz ab. Zum Beispiel sieht der Bericht sexuelle und reproduktive Gesundheit zuallererst als Vorbedingung, um die Arbeitsproduktivität von Frauen zu maximieren, nicht als Menschenrecht. In der neoklassischen Logik der Bank schafft nur Erwerbsarbeit Entwicklung. Die unbezahlte Sorgearbeit von Frauen nennt der WDR 2012 eine Schlüsselstruktur für Ungleichheit, wertet sie jedoch primär als „fehlallokierte“ Zeit- und Arbeitsbelastung und als Einschränkung für bezahlte Beschäftigung – und das justament zu dem Zeitpunkt, wo sie das Ende des männlichen Ernährermodells feststellen muss.

Gegenüber dem produktiven Wert der Sorgearbeit von Frauen und der Versorgungsökonomien wie z.B. der kleinbäuerlichen subsistenzorientierten Landwirtschaft ist die Weltbank blind. Sie sieht nur die Kluft zu den Männern. Der Zugang zu modernen Agro-Inputs wie Chemiedünger und Industriesaatgut soll Kleinbäuerinnen allüberall empowern und ihre Erträge steigern. Es ist jenseits des Weltbank-Horizonts, dass Frauen ihr eigenes Saatgut vermehren, verbessern, tauschen und mit ihm Ernährungssouveränität wahren wollen, statt hybrides Konzernsaatgut teuer auf dem Markt zu kaufen. Statt den kleinbäuerlichen Beitrag zur Ernährungssicherung zu würdigen und durch Fördermaßnahmen zu verbessern, dient die Gleichstellung einem agrarwirtschaftlichen Strukturwandel hin zur konzerngesteuerten und industrialisierten Landwirtschaft.

Immer noch unterstellt die Bank, dass Globalisierung, Märkte und Freihandel im Prinzip win-win-Spiele mit Gleichstellungswirkung sind. Geringe Bezahlung reflektiert nach ihrer Meinung die geringe Produktivität von Frauenarbeit. Geschlechtsspezifische Marktsegmentierungen und Lohndiskriminierung nennt sie „Marktversagen“. Sie verkennt, dass sie zentrale Gewinnmechanismen des Marktes sind, genau so wie Informalisierung, Prekarisierung von Beschäftigung und die Geringbewertung von frauenspezifischen Tätigkeiten Treibstoff für Wachstum sind. Deshalb fordert sie Deregulierung und Teilzeitarbeit für Frauen – preis- und gewinngünstige Marktintegration, die überdies Geschlechterstereotypen reproduziert. Die vielen negativen Folgen der Handelsliberalisierung auf Frauenjobs und lokale Märkte mit der Verdrängung von Kleinbäuerinnen, Handwerkerinnen und Kleinhändlerinnen werden schlichtweg ignoriert.

Es ist skandalös, dass der Bericht in Krisenzeiten als einzige Form sozialer Sicherheit Geldtransfers erwähnt, die in mehreren lateinamerikanischen Staaten konditionalisiert an Frauen vergeben werden. Sie haben die Auflage, damit den Schul- oder Arztbesuch ihrer Kinder zu sichern.

Insgesamt wirkt die Analyse der Gleichstellungsdefizite im WDR 2012 seltsam losgelöst von den multiplen Krisen und vom Klimawandel, von Ressourcenkonflikten und wachsenden sozialen Ungleichheiten. Der Tunnelblick auf Geschlechtergefälle in allen möglichen Bereichen verstellt den Blick auf gesellschaftliche Machtverhältnisse und Armutsursachen und stellt zudem keine Zusammenhänge her. Der Bericht macht sich für staatliche Gleichstellungspolitik und öffentliche Investitionen stark. Wie diese jedoch unter den Bedingungen von Krise, Strukturanpassungen und Sparpolitiken finanziert werden sollen, sagt er nicht und schweigt auch über Umverteilungspolitik oder ein makro-ökonomisches Umsteuern.

Die Politik der Weltbank selbst wird überhaupt nicht thematisiert. Das hat gute Gründe. Zum einen hatte 2010 eine Evaluierung ergeben, dass die Bank bereits 2003 den Höhepunkt ihrer genderpolitischen Maßnahmen überschritten hatte und kein systematisches Gender Mainstreaming betreibt. Zum anderen war es der Druck der Weltbank, der zum Beispiel durch die Privatisierung der Rentenversicherungen in Lateinamerika und Osteuropa für eine Verschlechterung der Situation von Frauen verantwortlich ist. Auf Betreiben der Weltbank wurden Subventionen für die kleinbäuerliche Landwirtschaft abgebaut und auf die Agrarindustrien verschoben. Nun empfiehlt sie, die zuvor Regierungen drängte, Gesundheitseinrichtungen zu privatisieren, den Ausbau der öffentlichen Gesundheitsinfrastruktur. Der Bericht rät von der Einführung von Schulgebühren ab, die die Bank früher forcierte. Wenn dieser Gesinnungswandel Ausdruck eines institutionellen Lernprozesses ist, würde daraus logisch folgen, dass die Bank ihre gesamte Politik umorientieren müsste.

Die alles entscheidende Frage ist: was macht die Bank nun mit all ihren Erkenntnissen und dem Plädoyer für Gleichstellungspolitiken? Wie schlägt sich ihr fakten- und datenreiches Imponiergehabe als Anwalt benachteiligter Frauen in ihrer Politik nieder?

„Alles nur Rhetorik“, schimpft Gender Action, eine Nicht-Regierungsorganisation in Washington. Die Politik der Bank sei weiterhin nicht gendersensibel oder gendergerecht. Zudem würde sie Frauen an der Basis und Frauenorganisationen nicht demokratisch in politische Planungen und Programme einbeziehen.

Es muss sich zeigen, wie die Bank in ihrer Realpolitik Geschlechtergleichheit als Entwicklungsziel und Menschenrechtsprojekt ins Verhältnis setzt zu ihrer „smart economy“. Jedenfalls ist durch den Bericht allein noch keineswegs garantiert, dass die Bank eine Abkehr von dem Kurs, dass Geschlechtergleichheit ein approbates Instrument zu mehr Wachstum ist, vollzieht.

Christa Wichterich ist als Publizistin, Lehrbeauftragte an Universitäten und Beraterin in der Entwicklungszusammenarbeit freiberuflich tätig. Sie lebt in Bonn.

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