Warum Labour verlor

Großbritannien nach dem EU-Austritt

Am 31. Januar hat Großbritannien die EU verlassen. Damit haben drei lange Jahre Gerangels ein vorläufiges Ende gefunden. Die Periode von 2016 bis 2019 war die instabilste und volatilste Phase in Großbritannien seit vielen Jahrzehnten. Die kommenden Monate und Jahre werden nicht minder stürmisch werden. Mit dem offiziellen EU-Austritt Großbritanniens hat sich keines der Probleme erledigt, welche überhaupt erst dazu führten, dass eine knappe Mehrheit der britischen Wahlberechtigten 2016 für einen Brexit votierten.

Bis Ende 2020 gilt nun eine Übergangsperiode. Britische Politiker sind aus Brüssel und Straßburg abgezogen. Doch auf der Insel bleibt die EU bis Jahresende weiter präsent. Zwischen der britischen Hauptinsel und Nordirland existiert nun eine Zollschranke, der sich britische Güter für den Export in die EU via Nordirland unterwerfen müssen. Damit wurde auf der irischen See die Vorstufe einer EU-Außengrenze eingerichtet, obwohl Nordirland eigentlich zum Vereinigten Königreich gehört. Die EU betrachtet ihrerseits bis Ende 2020 Nordirland als Teil des gemeinsamen Marktes. Zwischen Nordirland und der zur Europäischen Union gehörenden Republik Irland bleibt die Grenze vorläufig offen, obwohl Nordirland nun Teil eines Drittstaates ist.

Im nordirischen unionistischen Lager sorgt diese Regelung für Unruhe. Bei der Democratic Unionist Party, die während der vergangenen Jahre konservative Minderheitsregierungen im Londoner Unterhaus stützte, fühlt man sich von Boris Johnson verkauft. Der hält zwar offiziell die unionistische Fahne hoch und spricht von der Unteilbarkeit Großbritanniens. Doch wie ernst er es damit meint, werden die kommenden Jahre zeigen. Hier liegt einer der vielen weiter bestehenden Brennpunkte vor.

Boris Johnson steht auf dem Papier wesentlich stärker da als seine Vorgängerin Theresa May. Die vorgezogenen Neuwahlen im Dezember 2019 bescherten ihm eine 80-Mandate-Mehrheit im Unterhaus. 50 Sitze holte er in nordenglischen und walisischen Wahlkreisen, die eigentlich zu den Kernländern der Labour-Partei gehören. Labour bestritt die Wahlen mit einem linken Wahlprogramm, forderte die Verstaatlichung von Wasser, Strom und Eisenbahnen, wollte die Antigewerkschaftsgesetze zurücknehmen und verlor trotzdem.

Es ist wichtig zu verstehen, warum dies geschah, um einen Ausblick auf die mittelfristige Zukunft Großbritanniens sowie den Verlauf der Handelsverhandlungen Großbritanniens mit der EU, den USA und China wagen zu können. Denn der Brexit war neben anderen Dingen auch ein Ausdruck des Bedürfnisses nach Souveränität. In den kommenden Monaten wird Großbritannien erleben, dass Souveränität im Kapitalismus schwer zu bekommen ist.

Aus der Sicht lohnabhängiger Menschen verbindet sich das Thema der Souveränität mit der Frage: „In was für einem Land leben wir? In was für einem Land wollen wir leben?“ 2014 kamen diese Fragestellungen durch das schottische Unabhängigkeitsreferendum sichtbar auf den Tisch. 45 Prozent stimmten für die Unabhängigkeit, auch weil sie darin ein Instrument für eine Abkehr von der Londoner Austeritätspolitik sahen. Seit Johnsons Wahlerfolg im Dezember hat sich die Befürwortung der Unabhängigkeit in Schottland auf 51 Prozent erhöht. Hunderttausende gehen dafür auf Großdemonstrationen auf die Straße, London lehnt Forderungen nach einem zweiten Referendum jedoch ab.

Das Leben bleibt auch im Jahr 2020 für große Bevölkerungsteile Großbritanniens prekär. Zwar haben laut im Februar veröffentlichten Statistiken 76,5 Prozent aller Menschen im erwerbstätigen Alter einen Job. Die Löhne bleiben jedoch niedrig. Von Dezember 2018 bis Dezember 2019 sind sie nur um 1,9 Prozent gestiegen. Armut trotz Arbeit bleibt ein wachsendes Problem, der Ansturm auf die Foodbanks hält an. Die britische Wirtschaft ist 2019 erneut nur minimal gewachsen. Dieser Zustand führt auch im neuen Jahr zu Arbeitskämpfen. So wurden im Februar 14 Universitäten aufgrund der dort herrschenden prekären Arbeitsbedingungen bestreikt, während bei der von den Tories privatisierten Post eine Urabstimmung für einen Streik gegen die sich rapide verschlechternden Arbeitsbedingungen stattfindet.

Es ist deshalb kein Wunder, dass sich die sozialpolitischen Forderungen der Labour-Partei im Wahlkampf großer Beliebtheit erfreuten. Laut einer Umfrage von DeltaPoll UK vom November 2019 befürworteten 81 Prozent der Wahlberechtigten erhöhte Staatsausgaben für das Gesundheitswesen. 73 Prozent waren für eine Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf zehn Euro pro Stunde. 66 Prozent begrüßten eine Reichensteuer. Ebenfalls 66 Prozent konnten sich für den Bau von 150.000 kommunalen Sozialwohnungen erwärmen.

Genau eine Forderung des Labour-Wahlprogramms war ein Minderheitenprogramm. Nur 42 Prozent hielten ein zweites EU-Referendum für eine gute Idee. Im Wahlkampf wurde das zum alles überragenden Thema. Eine Mehrheit der Labour-Führungsspitze glaubte mit diesem Slogan gewinnen zu können. Das zeugte von einem mangelnden Verständnis der Souveränitätsfrage in den „Herzländern“ der Labour-Partei.

Gerade in diesen Gegenden hat sich seit den 1980er Jahren zunehmend die Einstellung verfestigt, im politischen und sozialen Geschehen Großbritanniens keine Rolle mehr zu spielen. Eine im Februar veröffentlichte Umfrage der Universität Teeside im nordost-englischen Middlesborough machte dies wieder einmal deutlich. So findet sich hier unter anderem die folgende Aussage einer 51-jährigen Erwerbslosen: „Der Nordosten ist seit langem vergessen worden. Im Norden befand sich früher die Industrie des Landes. Heute gibt es keine Industrie mehr. Wir haben nichts. Und mit unserer Moral ist es einfach abwärts gegangen.“

Genau diese Menschen sahen das EU-Referendum als eine einmalige Chance, dem britischen Establishment endlich einmal die Meinung sagen zu können. Das Referendum gab ihnen den Anschein von Handlungsmacht, von Souveränität. Als Labour 2019 die Forderung eines zweiten EU-Referendums ins Wahlprogramm aufnahm, musste es ihnen so vorkommen, als ob Labour ihnen diese Handlungsmacht wieder wegnehmen wollte. Alle von Labour 2019 verlorenen Wahlkreise waren „leave“-Wahlkreise. Ihnen ist gemeinsam, dass das durchschnittliche Wocheneinkommen arbeitender Menschen hier um bis zu 44 Pfund niedriger als im Rest des Landes ist. Das geht aus einer aktuellen Untersuchung des Thinktanks „Resolution Foundation“ hervor. Laut einer YouGov-Umfrage vom Februar sind 92 Prozent aller „leave“-Wähler von ihrer Entscheidung aus dem Jahr 2016 immer noch überzeugt.

Die Tories machten die Schlagworte Souveränität und Handlungsmacht zu ihren zentralen Wahlkampfthemen. Nur mit dem Vollzug des Brexit sei es möglich, neue Krankenhäuser zu bauen predigte Boris Johnson geradezu gebetsmühlenartig. Damit konnte er sich außerdem zum Vorkämpfer für die Demokratie aufschwingen. Nun steht er unter dem Druck, liefern zu müssen. Seit Anfang 2020 spricht er deshalb unaufhörlich von der Notwendigkeit, das Niveau der de-industrialisierten Regionen in England und Wales auf jenes der finanzstarken Landesteile im Süden anzuheben.

Dieses Versprechen soll, so die konservative Erzählung, durch neue Handelsabkommen eingelöst werden. Hier könnte die britische Regierung aber schnell an ihre Grenzen stoßen. So üben zum Beispiel die USA massiven geopolitischen Druck auf Großbritannien aus. US-Präsident Donald Trump drohte wiederholt mit Strafzöllen auf britische Produkte, sollte Großbritannien bei der Umsetzung von Infrastrukturprojekten auf chinesische Konzerne wie den Mobilfunkhersteller Huawei setzen. China ist schon jetzt stark in Großbritannien präsent, unter anderem beim Bau des Atomkraftwerks Hinkley Point C.

Auch die EU scheint nicht bereit, die britischen Souveränitätsbestrebungen zu respektieren. So sagte der Brexit-Koordinator des EU-Parlaments, Guy Verhofstadt, im Rahmen einer Gastrede auf dem Parteitag der britischen Liberaldemokraten im September 2019: „Die Welt von Morgen ist eine Welt der Imperien. Wir Europäer und Ihr Briten könnt Eure Interessen und Eure Lebensweise nur gemeinsam, im europäischen Rahmen und als Teil der Europäischen Union verteidigen.“ Hier spitzte Verhofstadt das Narrativ der EU zu, wonach der Brexit automatisch ein Absenken von Produktions- und Lebensstandards für Großbritannien bedeuten würde.

Im Februar hielt der neue britische Chefunterhändler für die kommenden Gespräche mit der EU an der ULB-Universität in Brüssel eine Art Gegenrede. Souveränität bedeute die Möglichkeit, eigene Regeln zu erschaffen, welche den eigenen Gegebenheiten entsprechen. Großbritannien werde deshalb nicht automatisch niedrigere Standards als die EU haben. Im Gegenteil sei es durchaus möglich, höhere Regulierungsmaßstäbe als jene in der EU anzusetzen. Als ein Beispiel nannte Frost die Landwirtschaft. Großbritannien könne nun Getreidearten anbauen, welche den Klimabedingungen Großbritanniens besser entsprechen. Es sei schwer zu verstehen, warum dieses Vorhaben kontrovers sei.

Frost spielt hier auf das Thema der Divergenz an, welches die Handelsverhandlungen zwischen EU und Großbritannien weitgehend dominieren wird. Die Priorität der EU ist es, Großbritannien auch nach dem Brexit möglichst eng an die Bedingungen des europäischen Binnenmarktes zu koppeln. Deshalb soll auch über das Jahr 2020 hinaus die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofes für Großbritannien durchgesetzt werden. Dieser soll zukünftig über die Äquivalenz britischer und europäischer Regulierungsvorschriften und Standards wachen. Mit dieser Maßnahme will die EU ausdrücklich in die britische Souveränität eingreifen. So geht aus Dokumenten der EU-Kommission hervor, dass möglichen Verstaatlichungen oder staatlichen Subventionen gefährdeter Industrien in Großbritannien ein Riegel vorgeschoben werden soll.

Die britische Regierung macht die Verhandlungen demgegenüber zu einer Unabhängigkeitsfrage. Jede Form der Zuständigkeit des europäischen Gerichtshofes für Großbritannien betreffende Fragen sei nicht akzeptabel, heißt es in einem Regierungspapier über „das zukünftige Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU“ vom 3. Februar. Großbritannien werde zukünftig auf „eigene und unabhängige Politik“ etwa bei der Einwanderung, Umweltfragen oder dem Sozialbereich setzen. Dem von der EU favorisierten Begriff der „Äquivalenz“ setzt Großbritannien die „Annäherung“ oder „Ausrichtung“ entgegen. So soll für den EU-Export bestimmter britischer Käse nicht unter den gleichen Bedingungen wie in der EU hergestellt werden müssen, sondern nur nach ähnlichen, aber im Detail durchaus unterschiedlichen. Insbesondere seitens der französischen Regierung werden derlei Ideen bislang rundweg abgelehnt.

Während Großbritannien und die EU Pingpong spielen, machen in Großbritannien aktive Großunternehmen Nägel mit Köpfen. Wie aus einer Studie des „Future Advocacy“-Thinktanks hervorgeht, planen Industrien im produzierenden Gewerbe, dem Transportwesen sowie dem Nahrungs- und Getränkebereich bis 2030 umfassende Umstrukturierungen. Bis zum EU-Austritt Großbritanniens setzten diese Branchen teilweise auf osteuropäische Niedriglohnarbeit. Mit dem Brexit fällt diese Form der Arbeitskraftausbeutung weitgehend weg. Deshalb setzen sie jetzt verstärkt auf Automatisierung. So sollen alleine im Einzelhandel 1,2 Millionen Jobs dadurch bedroht sein. Am härtesten werde dies eben jene traditionellen Labour-Hochburgen treffen, welche im Dezember 2019 an die Konservativen fielen. So seien im nordenglischen Wahlkreis Heywood and Middleton 39 Prozent aller Arbeitsplätze durch Automatisierungspläne gefährdet. Hier lässt sich die wirtschafts- und sozialpo litische Dimension der Souveränitätsdebatte erahnen. So lange Großkonzerne machen können, was sie wollen, wird der Gestaltungsrahmen für Lohnabhängige gering bleiben – ob mit Brexit oder ohne.

Christian Bunke beobachtet seit 20 Jahren die Entwicklungen und Verwirrungen der britischen Politik. Über zehn Jahre lebte er im nordenglischen Manchester und ist der Stadt bis heute eng verbunden. In Wien beschäftigt er sich journalistisch mit Kommunal- und Gewerkschaftsfragen.