Lucas Zeise. Lunapark21 – Heft 23
Im Herbst vor fünf Jahren hat die immer noch aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise zwar nicht begonnen, aber ihren ersten Höhepunkt erreicht. Am 15. September 2008 ließ die US-Regierung die New Yorker Investmentbank Lehman Brothers pleite gehen. Das war ein Schock für die Akteure an den Finanzmärkten in aller Welt. Die Eigentümer von Finanzvermögen drängten zum Ausgang. Die Angst vor massenhaften, über die Grenzen von Staaten und Währungsräumen hinweggehenden Bankenpleiten griff um sich. Sie war nicht unplausibel: Wenn eine bestens vernetzte, nicht gerade kleine Bank aus dem Zentrum des Kapitalismus zahlungsunfähig wurde, dann konnte es alle erwischen. Ein weltweiter Bankenkrach hätte – das ist sicher – die Zahlungsfähigkeit der Groß- und Kleinkapitalisten und die der Normalbürger beeinträchtigt. Das Geschäftsleben wäre zum Stillstand gekommen.
Das ist im Konjunktiv-Irrealis formuliert. Bekanntlich wurde der ganz große Bankenkrach verhindert. Der Konkurs von Lehman Brothers blieb die Ausnahme. Im Anschluss daran mobilisierten die Regierungen in fast allen kapitalistischen Ländern riesige Mengen an Steuergeld, um die jeweils heimischen Banken zu retten. In Deutschland stellte die damalige Große Koalition unter Angela Merkel als Kanzlerin und Peer Steinbrück als ihr Finanzminister ein Rettungsprogramm in Höhe von 480 Mrd. Euro auf, was etwa dem Anderthalbfachen des Bundeshaushaltes entsprach, und jagten das entsprechende „Soffin“-Gesetz durch Bundestag und Bundesrat. Ähnliches geschah in den USA, in Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan, Belgien, Spanien usw. Die Staaten garantierten die Zahlungsfähigkeit der Banken. Nur manche Banken wurden tatsächlich ganz oder teilweise übernommen. Für die Mehrheit des Bankensystems reichte bereits die bloße Garantie.
Eine Zäsur
Der Herbst 2008 ist wirtschaftshistorisch von Bedeutung, weil hier erstmals das weltweite Bankensystem nicht nur unausgesprochen, sondern ganz offiziell und explizit vom Geld der Steuerzahler gestützt worden ist. Diese Staatsgarantie für die Banken dauert an. In Deutschland wird das Bankengarantiegesetz Soffin jährlich verlängert. In der EU geht es mit dem Gerangel um das Projekt Bankenunion darum, wie die Kosten für die Bankenstützung verteilt werden. An ein Ende der Garantie für die Banken ist nicht zu denken. Daran allein kann man erkennen, dass die Krise keineswegs, wie von manchen behauptet, beendet ist.
Ebenfalls im Sommer/Herbst 2008 sackten in Europa Auftragseingang und Produktion in Industrie und Handel ab. In den USA war die Konjunktur schon Ende 2007 abgerutscht. Aber auch dort, wie in allen hochentwickelten Industrieländern, beschleunigte sich im Jahresverlauf 2008 der Rückgang von Nachfrage und Produktion. Die tiefste weltweite kapitalistische Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg setzte sich auf breiter Front durch. In den volkswirtschaftlichen Statistiken erscheint der Einbruch 2009, als die wirtschaftliche Gesamtleistung in Deutschland um unerhörte fünf Prozent niedriger als im Vorjahr war.
Finanzkrise begann ein Jahr vor Lehman-Crash
Die Tatsache, dass die realwirtschaftliche Krise zeitlich fast mit der Pleite der Bank Lehman Brothers zusammenfiel, verleiht der sonderbaren These ein bisschen Plausibilität, die Lehman-Pleite sei Anlass oder sogar Ursache für die Wirtschaftskrise gewesen. Interesse daran, dass diese Version geglaubt wird, haben zum einen Politiker wie Peer Steinbrück oder Zentralbanker wie der damals amtierende Bundesbankchef Axel Weber, der heute bei der Schweizer Großbank UBS als Aufsichtsratsvorsitzender wirkt. Beide hatten damals, bis kurz vor der Lehman-Brothers-Pleite, die heraufziehende Wirtschaftskrise nicht bemerkt oder wider besseres Wissen geleugnet. Der Lehman-Krach gab ihnen Anlass, plötzlich ihre Meinung zu ändern und ihre Dummheit so zu rechtfertigen. Zum anderen schätzen Banker generell die schräge These, die Lehman-Brothers-Pleite sei schuld am Niedergang der Weltwirtschaft. So erscheinen die Rettung und Stützung von Banken umso mehr als absolut notwendige Maßnahme der Wirtschaftspolitik.
Tatsächlich ist die Finanzkrise mehr als ein Jahr vor der Lehman-Pleite ausgebrochen – genauer: am 9. August 2007. An jenem Tag hörten die Geldmärkte unter Banken, der zentrale Tauschmechanismus von Kreditgeld, zu funktionieren auf. Die Banken, nicht nur in den USA, sondern weltweit, misstrauten sich gegenseitig. Der Finanzmarkt wäre schon im Sommer 2007 kollabiert, hätten nicht die Zentralbanken beinahe täglich unterstützend eingegriffen. Dennoch mussten viele Großbanken, unter anderem die damals größte Bank der Welt, die Citibank, und die größte Vermögensverwaltung des Globus, die Schweizer UBS, riesige Summen an vergebenen Krediten abschreiben. Einige Banken wurden insolvent, waren also konkursreif, wurden aber, anders als Lehman Brothers, vom Staat aufgefangen und/oder an Konkurrenten verkauft. Solche Pleitefälle waren in Deutschland die kleinen Institute IKB und SachsenLB, in Großbritannien Northern Rock und in den USA im Frühjahr 2008 die New Yorker Investmentbank Bear Stearns.
Die Rettungsaktionen für diese und andere Banken dämmten den Fortgang der Finanzkrise nicht ein. Sie weitete sich vielmehr aus. Im Spätsommer 2008 erwiesen sich die riesigen US-Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac als insolvent und erhielten von der Regierung in Washington eine explizite Garantie. In Deutschland trieb in dieser Zeit die Hypo Real Estate (HRE), eine Münchner Hypothekenbank, der Pleite zu, ohne dass der zuständige Finanzminister Steinbrück das zur Kenntnis nahm. Die HRE wurde erst nach dem Lehman-Schock staatlich aufgefangen.
In diesem ersten Krisenjahr bis Lehman entwickelten sich die Finanzkrise und die realwirtschaftliche Überproduktionskrise parallel zueinander zu einem ersten Höhepunkt oder besser Tiefpunkt. Die Lehman-Brothers-Pleite markiert damit nicht den Ausbruch der Krise, sondern vielmehr die Reaktion der „Staatengemeinschaft“ (wie die Regierenden und ihre Journalisten das heute nennen) auf die Krise. Mit mehr Geld als jemals zuvor in der Geschichte wird erstens der Finanzmarkt vor dem Kollaps gerettet und zweitens die Realwirtschaft vor dem Abwärtstaumeln von Nachfrage und Produktion bewahrt. Die Krise ändert damit ihren Verlauf. Sie wird gedämpft, aber die Krise bereinigt damit nicht die Probleme, die ursächlich für die Krise waren. Diese Probleme werden vielmehr fortgeschleppt und lassen einen kapitalistischen Wiederaufschwung nicht zu.
Der eigentliche und wichtigste Grund für diese Krise – wie für jede kapitalistische Überproduktionskrise – ist die Ungleichverteilung zwischen Kapital und Arbeit. Diese Ungleichverteilung hat in der Periode des Neoliberalismus seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts ein ungeheures Ausmaß erreicht. Der Finanzsektor hat dabei die Funktion, einerseits die Umverteilung von unten nach oben zu beschleunigen, andererseits durch Spekulation und Kreditschöpfung, also durch die Schaffung von fiktivem Reichtum die Gesamtnachfrage und Akkumulation in Gang zu halten und die längst fällige Überproduktionskrise zu verzögern. Als die Finanzspekulation im August 2007 kollabierte, kam dieser Prozess zum Stillstand, die kaufkräftige Nachfrage brach ein. Die Akkumulation setzte aus. Es war, als hätte man einem schwer Gehbehinderten die Krücken weggeschlagen.
Im Kapitalismus steht dem kreditgebenden Bankkapital ein Teil des im System erzielten Gesamtprofits zu. Dieser Teil ist umso höher, je größer der Kreditanteil, je höher also die Verschuldung des Gesamtkapitals. Vor der Krise war die Kreditmasse ungeheuer angeschwollen. In der Krise können diese Kredite zu großen Teilen nicht mehr bedient werden. Seit Lehman übernehmen die Staaten, nicht nur vereinzelt und zugunsten bestimmter Kapitalisten, sondern auf breiter Front und dauerhaft die Bedienung der Schulden. Sie übernehmen immer größere Teile davon.
Die Stützung der Staatshaushalte durch die Notenbanken, die Kreditprogramme der Euro-Länder für Irland, Griechenland, Portugal, Spanien und Zypern dienen diesem Zweck. Die Folge davon ist, dass der Finanzsektor fast so riesenhaft bleibt wie er vor Ausbruch der Krise geworden war.
Anders als vor der Krise treibt er die Realwirtschaft nicht mehr an, sondern beschleunigt in enger Koordination mit staatlichen Instanzen die Umverteilung von unten nach oben.
Lucas Zeise ist Journalist und Vorstandsmitglied der Marx-Engels-Stiftung. Ende 2012 erschien sein jüngstes Buch Euroland wird abgebrannt – Profiteure, Opfer, Alternativen (PapyRossa / 142 Seiten / 11,90 Euro).