Gewerkschaftsfrauen in der Schweiz diskutieren Verkürzung bei Vollarbeitszeit
Aus verschiedenen Blickwinkeln und mit unterschiedlichem Erfahrungshintergrund diskutierten Gewerkschafterinnen anlässlich ihres Frauenkongresses des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes Mitte Januar 2018 unter dem Leitsatz «Unsere Zeit ist mehr wert!» das Thema Verkürzung der vollen Erwerbsarbeitszeit. Im Unterschied zu den vergangenen Jahren stellen sie nun ihre gesellschaftliche Stellung als Frauen und ihre Position auf dem Arbeitsmarkt ins Zentrum der Diskussion. In den zurückliegenden Jahrzehnten ist nicht zuletzt durch den massiven Ausbau der Teilzeitarbeit, in erster Linie für Frauen, das politische Interesse der Verkürzung der Vollarbeit zurückgegangen. Immerhin wurde in krisenhaften Situationen von Arbeitnehmenden und ihren Gewerkschaften nach allgemeiner Arbeitszeitverkürzung gerufen. Für die Gewerkschaftsfrauen steht ausserdem fest, dass es neben der Verkürzung der Vollzeitarbeit auch eine neue Zeitpolitik, respektive Organisation der Erwerbsarbeit braucht, um die die herkömmliche Trennung zwischen Erwerbsarbeits- und Lebenszeit zu überwinden.
Die Analyse ist altbekannt
Die Realität des schweizerischen Arbeitsmarktes ist immer noch vom herkömmlichen Rollenbild geprägt: Gut 40 Prozent der erwerbstätigen Frauen sind Vollzeit beschäftigt; bei den Männern sind es mehr als das Doppelte (85 %). Mehr als ein Viertel der erwerbstätigen Frauen arbeitet in einem Kleinpensum von unter 50 Prozent. Die Hauptverantwortung für Familien- und Hausarbeit liegt nach wie vor bei den Frauen.
Oft sind Frauen nicht freiwillig mit geringer Stundenzahl erwerbstätig. Viele von ihnen möchten ein höheres Pensum an Erwerbsarbeit leisten, sei es aus finanziellen Gründen, sei es aus Gründen der Unterbeschäftigung oder aus Interesse an der Berufstätigkeit. Laut Statistik ist die Unterbeschäftigungsquote bei Frauen ab 50 Jahre sehr hoch. Dies ist besonders bedenklich, da Arbeitgeber immer wieder nach Frauen als Fachkräfte rufen.
Die Folgen sind schwerwiegend für die wirtschaftliche Sicherung, respektive Unabhängigkeit der Frauen, insbesondere als Alleinerziehende, bei Scheidung oder im Rentenalter. In der Schweiz haben wir immer noch Rahmenbedingungen, die Teilzeitarbeit von sogenannten Zweitverdienerinnen «fördern». Das Einkommen aus Teilzeitbeschäftigung deckt oft gerade die Kosten für die Kinderbetreuung. Manchmal ist es die Steuerprogression, die Frauen im familiären Umfeld von einem höheren Pensum Erwerbstätigkeit abhält.
Kürzere Vollzeit statt Teilzeitfalle
Wie oben erwähnt, ist für viele Frauen die Erwerbstätigkeit in Teilzeit immer noch die nächstliegende Möglichkeit, Erwerbsarbeit und Familienarbeit unter einen Hut zu bringen. Im europäischen Vergleich gehört die Quote der Teilzeit erwerbstätigen Frauen in der Schweiz zu den höchsten. Teilzeit beschäftigte Frauen mussten in den vergangenen Jahren auch bitter erfahren, dass dieses Arbeitszeitmodell eine Falle darstellt. Oft wird Teilzeitarbeit zum Kapazitätspuffer und anfällig für unplanbare Arbeitszeiten, was eine Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Sorgearbeit für die Familie besonders erschwert. Häufig sind Frauen gezwungen eine Teilzeitstelle anzunehmen, die unter ihren Qualifikationen liegt. Hinzu kommt, dass sie in der Regel viel weniger Möglichkeit für Weiterbildung haben – und falls es dennoch hierfür Angebote gibt, sind diese häufig unattraktiv. Für Teilzeit Beschäftigte ist eine berufliche Karriere kaum denkbar.
Fazit: Das Arbeitszeitmodell der Teilzeit erweist sich für Frauen als Falle und die Forderung nach Verkürzung der vollen Erwerbsarbeitszeit ist nur konsequent.
Unsere Arbeit ist mehr wert
Bis heute erfährt die bezahlte und unbezahlte Arbeit von Frauen gesellschaftlich und wirtschaftlich geringere respektive geringe Wertschätzung. Dazu kommt, dass Frauen mehr der unbezahlten Familien- und Sorgearbeit leisten als Männer. Gehen sie einer Erwerbsarbeit nach, verdienen sie durchschnittlich knapp ein Fünftel weniger als Männer, ungeachtet dem Verfassungsauftrag und dem Gleichstellungsgesetz, die seit Jahrzehnten in Kraft sind. Die 42 Prozent Lohnunterschied sind mit Faktoren wie Alter, Ausbildung und Kompetenzen nicht erklärbar. Was nichts anderes als die Diskriminierung des weiblichen Geschlechts zum Ausdruck bringt.
Nicht nur einzelne Arbeitnehmerinnen, sondern auch ganze Berufsgruppen, vor allem in den Care- und Dienstleistungsbereichen mit ihren typischen hohen Frauenanteilen sind schlechter bezahlt als vergleichsweise männerdominierte Branchen. Ausserdem zeigt sich, dass in bestimmten Branchen, in denen der Frauenanteil steigt, das Lohnniveau wie durch Zauberhand dann absinkt. Prominente Beispiele sind medizinische Berufe und Lehrtätigkeiten.
Die fehlende Wertschätzung für die bezahlte und unbezahlte Arbeitszeit der Frauen hat für ihre ökonomische Unabhängigkeit weitreichende Folgen. Nicht nur fehlt ihnen das Einkommen für die Zeit, die sie unbezahlt und unterbezahlt arbeiten. Die daraus entstehenden Einkommenslücken schlagen sich direkt in der Altersvorsorge nieder. Bei den mittleren Renteneinkommen bekommen Frauen in der Schweiz rund 25 Prozent weniger Rente als Männer. Berechnungen von Mascha Madörin zeigen aber ganz deutlich, dass es keine Rentendifferenz zwischen den Geschlechtern geben würde, wenn die Einkommenslücken, die Frauen aus den beschriebenen Gründen in Kauf nehmen müssen, bei der Rente angerechnet werden würden. Das ist fatal – die Wirtschaft und unser tägliches Leben würden nicht funktionieren, ohne die unbezahlte Care-Arbeit von Frauen.
Verkürzung der vollen Erwerbsarbeit darf nicht nur die Antwort auf die Abwesenheit der Männer bei der unbezahlten Care- und Haushaltsarbeit sein. Vielmehr muss die Verkürzung der vollen Erwerbsarbeit einher gehen mit einem gesellschaftlichen Wandel. Stereotypisierungen der Geschlechter und Diskriminierung der Frauen auf dem Erwerbsarbeitsmarkt als auch ihre Betreuungs- und Sorgearbeit für ihre Angehörigen, die sich negativ in der Sozialpolitik auswirken, müssen überwunden werden. Ein guter Weg dorthin sind soziale Reformen, wie die Gastreferentin Elinor Odeberg von der schwedischen Gewerkschaft Kommunal hervorhob. Sie erklärte, dass die hohe Erwerbsbeteiligung der Frauen in Schweden auf den ausgebauten Sozialstaat zurückzuführen sei. Der Sozialstaat habe die Frauen von unbezahlter Betreuungs- und Sorgearbeit befreit. Schweden hat diese Tätigkeiten wie Kinderbetreuungseinrichtungen, Elternurlaub, Betagtenpflege als Aufgaben des Service public deklariert. Das ermöglicht den Frauen hohe Integration in den Erwerbsarbeitsmarkt und ökonomische Unabhängigkeit.
Wider die Entgrenzung der Erwerbsarbeit
Um die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Sorgearbeit in der Familie und/oder bei Angehörigen besser bewältigen und die Produktivitätsgewinne der letzten Jahre besser verteilen zu können, braucht es kürzere statt längere Erwerbsarbeitszeiten. Nicht zuletzt könnte auch die Wirtschaft von kürzeren Erwerbsarbeitszeiten profitieren. Projekte in Schweden zeigen, dass Massnahmen wie eine generelle Erwerbsarbeitszeitverkürzung der Arbeitsleistung zuträglich sind (www.forschung-und-wissen.de).
Doch die aktuellen Entwicklungstendenzen sind gegenläufig: Überlange Zeiten der Erwerbsarbeit und hoher Arbeitsdruck sind auch in der Schweiz die Realität. Entsprechende Schutzbestimmen geraten unter Druck. Neue Formen der Erwerbsarbeit wie Tele-Arbeit und Home-Office, sowie die im Parlament geforderte Aufweichung der Arbeitszeitbestimmungen tragen der Entgrenzung der Erwerbsarbeit und längeren sowie unregelmässigen Arbeitszeiten bei. Eine solche Entwicklung fördert auf keinen Fall eine bessere Vereinbarung von Erwerbstätigkeit und Sorgearbeit.
Die Gewerkschafterinnen sind sich einig: Trotz politischer Widrigkeiten steht die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit schrittweise von 35 Stunden hin zur 30-Stundenwoche auf der Tagesordnung. Parallel dazu muss ein gesellschaftlicher Wandel herbeigeführt werden, der Stereotypisierungen der Geschlechter und Diskriminierung der Frauen auf dem Erwerbsarbeitsmarkt und in ihrer gesellschaftlichen Stellung überwindet.
Therese Wüthrich hat am Kongress der Gewerkschaftsfrauen teilgenommen und mit Interesse die Meinungsbildung verfolgt. Im Vergleich zu früheren Jahren hat sich die Diskussion inhaltlich entwickelt, insbesondere bezüglich der Erkenntnis, dass Teilzeit für Frauen eine Falle darstellt. T. Wüthrich ist journalistisch und publizistisch tätig und gehört der Redaktion von Lunapark 21 an. Therese Wüthrich lebt in Bern.