Türkisches Gemüse

Was die Preisexplosion bei Zwiebeln über Gesellschaftsveränderung aussagt

Vor den Kommunalwahlen in der Türkei im März hatte Staatspräsident Erdogan den Lebensmittelterror entdeckt. Die in die Höhe schnellenden Preise für Gemüse, besonders für Zwiebeln, rechnete er dunklen Mächte zu. Laut Angaben des Türkischen Statistikinstituts (TÜIK) stiegen die Preise in der Türkei insgesamt im Januar 2019 um über 20 Prozent, am stärksten bei den Lebensmitteln und nichtalkoholischen Getränken mit 31 Prozent. Die Preise für Gemüse stiegen noch schneller an – bei Paprika um fast 88 Prozent, Auberginen um 80 und Spinat um 68 Prozent. (1) Erdogan versucht sie einzudämmen, indem er Druck auf die Händler ausübt und zum Verzicht auf Preissteigerungen aufruft. Gleichzeitig ließ er die Stadtverwaltung Obst und Gemüse zum Großhandelspreis verkaufen – je 3 Kilo pro Käufer. Dieser Verkauf unter wehenden AKP-Fahnen war bis zum 31. März 2019 befristet, dem Tag der Kommunalwahl, die besonders in Istanbul gegen die AKP ausgehen könnte – die von Erdogan dominierte „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“.

Dabei verdankt er seinen und den Aufstieg der AKP der Umwandlung der türkisch-kurdischen Gesellschaft, deren unausweichliche Folgen er jetzt zu bekämpfen vorgibt: nämlich die Transformation einer von Kleinbauern und Großgrundbesitzern geprägten Landwirtschaft in eine kapitalistische, industrielle und mechanisierte Landwirtschaft mit relativ wenigen Lohnarbeitern. In diesem Prozess wurden viele Bauern und Landarbeitskräfte in die Städte getrieben, wo sie inzwischen zu einem größeren Teil als Lohnarbeitskräfte oder im informellen Sektor Beschäftigung fanden.

Vor fünf Jahren waren wir das letzte Mal am Baffa-See, wo der Maiandros zwischen der Türkei und den griechischen Inseln ins Mittelmeer fließt. Der Bauer, der uns Zimmer vermietete, musste mit seinem Eselchen in die Berge zu den Olivenbäumen steigen, ein Weg, für den wir 1,5 bis 2 Stunden brauchten, um die Bäume zu pflegen, Holz zu holen und Oliven zu ernten. Eine Kuh hatte er im Stall im Dorf. Seine Eltern bestellten den Gemüsegarten, der die Familie mit Obst und Gemüse versorgte.

Der Weg vom Flughafen auf neu gebauten Straßen führte vorbei an auf ebener Erde angelegten großen Oliven- und Obsthainen und Gemüsefeldern und an Feriensiedlungen, die sich an der Mittelmeerküste zu Hochhäusern auftürmten.

Man konnte die Verachtung der türkischen Besucher für dieses vorsintflutliche und unmoderne Im-Dreck-Wühlen förmlich am Gesicht ablesen, wenn sie, in großen Autos sitzend, am See vorbeirollten. Die beiden Kinder der Familie gingen in der nahen Kleinstadt auf eine Internatsmittelschule. Sie werden bestimmt keine Lebensweise fortsetzen, die nur durch bescheidene zusätzliche Einnahmen aus dem Tourismus über die für Selbstversorgung hinausreicht.

Beschämt stellte ich fest, dass das Bauernlegen, d.h. die Verwandlung von Bauern und Landarbeitern in Lohnarbeiter, nicht nur vor 200 Jahren in England und Schottland stattgefunden hatte, sondern in unserer Generation vor unseren Augen in einem Land am Rande von Europa, das Jahr für Jahr viele hunderttausend Touristen auch aus Deutschland besuchen. Ich musste Abbitte leisten auch für die Missbilligung, die ich den türkischen oder kurdischen Dorfpatriarchen entgegengebracht hatte, wenn sie als „Gastarbeiter“ in Altona ihre Frauen einen Schritt hinter sich herlaufen ließen. Was ich als kulturelle Eigenart missverstanden hatte, war ein sozialer Unterschied gewesen und das Aufeinandertreffen von durchaus kritisierbaren, aber gesellschaftlich verankerten Verhaltensweisen vom Lande auf die ganz anders geartete städtische kapitalistische Gesellschaft. Für diese Menschen, die zum ersten Mal in einer Großstadt lebten, hatten wir die gleiche Verachtung übrig, die auch unseren Großeltern vor hundert Jahren entgegengeschlagen war, als sie vom Lande kamen. Über die sozialen Verhaltensweisen eines Landbewohners aus Anatolien, der in Hamburg mit sozialer Verachtung gestraft wurde, hatten sicher schon damals die Istanbuler Stadtbewohner gespottet, so, wie es vor mehr als hundert Jahren Scherze, Karikaturen und Theaterstücke gegeben hatte über die dümmsten Bauern mit den dicksten Kartoffeln, die aus Mecklenburg in die Stadt Hamburg kamen und sich nicht benehmen konnten.

Diese Frauen und Männer waren für die Arbeit in der Fischindustrie, auf den Werften, in den Schlachtereien oder am Fließband der Autoindustrie eben nicht in den großen Städten angeworben worden, sondern gezielt in den kleinen Dörfern auf dem Lande in Italien, Spanien, Portugal, Jugoslawien oder eben der Türkei. Genau so war dies vertraglich zwischen den Regierungen in Ankara und Bonn vereinbart worden. Was ich sah, waren nicht etwa kulturelle Unterschiede der Herkunft aus einem Land, sondern soziale Unterschiede der Verhaltensweisen in diesem Land.

Am heftigsten wurden im Übrigen Konflikte zwischen den Verhaltensansprüchen der Herkunft und des Aufenthaltslandes nicht zwischen „Deutschen“ und Neuankömmlingen ausgetragen, sondern in den Köpfen der Menschen, die zwischen dem richtigen Verhalten in einer ländlichen sozialen Situation und der ganz anderen städtisch-kapitalistischen geprägten hin- und hergerissen waren.

Übrigens: Diese Bauern und Landarbeiter, die ein Gastspiel als Arbeiter geben sollten, wussten noch die Qualität und den Genuss ihrer Anbauprodukte zu schätzen. Sie wussten, dass man z.B. Gemüse in großen Mengen und guter Qualität genießen sollte, die man durch Betrachten, Betasten und Beriechen erst herausfinden konnte in den zahlreichen, von Großfamilien geführten Geschäften in Altona. Und auch das Auf-dem-Bürgersteig-Sitzen, Tee- und Kaffeetrinken, das Straßenleben und das Auswärts-Essen haben wir von ihnen angenommen.

Nun heißt es allerdings, dass türkische Gemüseläden, die längst industrielle Standardqualitäten an Gemüsen und Obst anbieten, nicht mehr zum ’aufgechicten’ Ottensen passen. Denn dass die „Gastarbeiter“ in den langen Sommerferien den weiten Weg „nach Hause“ fuhren, die PKWs hochbeladen mit Kühlschränken und Fernsehern, blieb nicht ohne Folgen für das ländliche Leben dort. Sie hatten damit, gemessen an den Zurückgebliebenen, einen bescheidenen Wohlstand, kauften und bebauten Grundstücke und machten sehr anschaulich, dass man die Mittel des Lebens nicht nur selbst anbauen, sondern viele Konsumgüter erst erwerben konnte, wenn man durch Lohnarbeit sein Geld dafür verdient.

Nicht nur die zweite Generation, sondern bereits viele aus der ersten Generation kehrten nicht dorthin zurück, wo sie geboren waren – auch, weil es die Gesellschaft und die Produktion, aus der sie gekommen waren, dort nicht mehr gab.

Die Veränderung der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft wurde auch unter der Erdogan-Regierung fortgeführt und beschleunigt. Wohnten 1990 noch 22 Millionen Einwohner der Türkei auf dem Lande und 38 Mio. in der Stadt, so lebten 2017 20 Mio. im ländlichen Raum und 58 Mio. in den Städten (2). Die Erdogan-Regierung setzte dabei im Rahmen einer privatisierten Wirtschaft auf den Export agrarischer Güter, erwirtschaftet in einer industrialisierten Landwirtschaft, mit Lohnarbeitern auf gepachtetem Land, ausgerüstet mit Samen, Dünge- und Spritzmitteln und Maschinen internationaler Saatkonzerne. Gemüse wurde vielfach in riesigen Gewächshäusern angebaut. Auf diese Weise fanden wesentlich weniger Arbeitskräfte Beschäftigung als im Fall der Eigenversorgung mit geringen Überschüssen auf eigenem Land oder im Rahmen der Fron bei einem Großgrundbesitzer.

Die vielen Arbeitskräfte vom Lande und die Kinder der Bauern, die in die großen Städte als Lohnabhängige oder Kleinunternehmer zogen, Istanbul zu einer Stadt mit 16 Millionen Einwohnern anschwellen ließen, die meist in neugebauten Hochhäusern leben, können einer Krise der Wirtschaft nicht mehr so ausweichen, wie es die bäuerlichen Vorfahren getan hatten. Wenn die Zwiebeln wegen der Entwertung der türkischen Lira gegenüber dem Euro nicht mehr zu bezahlen sind, weil sie auf Kredit für den europäischen Markt angebaut worden sind, können sie nicht mehr einfach in den Garten gehen, um ihr Gemüse selbst zu ziehen. Sie sind auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen oder mit Geschäften unterschiedlichster Art ihr Geld zu verdienen.

Im 19. Jahrhundert hatten Louis Bonaparte III in Frankreich und Bismarck in Deutschland den vergleichbaren Wandlungsprozess einer ganzen Gesellschaft von einer feudalen in eine kapitalistische Landwirtschaft und in eine kapitalistische Industrieproduktion bevormundend-fürsorglich begleitet.

Die EWG bzw. EU lässt sich zum Teil als eine Organisation verstehen, die die Verwandlung von Bauern in Industriearbeiter und Grundbesitzer, das Bauernlegen, sozialfriedlich begleitet hat – wenigstens in Frankreich und Deutschland. Den Prozess der Industrialisierung, für die der westdeutsche Maschinenbau in Jugoslawien, Süditalien, Griechenland, Portugal, Spanien und in der Türkei die Anlagen lieferte, hat sie aber nicht auf gleiche Weise durch Geld befriedet. Dort fehlt es immer noch an einem Sicherungssystem für Krankheit, Alter und Unfall, der die frühere Sicherheit des Landbesitzes durch geldliche Sicherungssysteme ersetzen könnte.

Derzeit muss ein türkischer Bonaparte beweisen, dass seine patriarchalische bevormundende Fürsorge tatsächlich funktioniert. Zumindest bis zum Wahltag galt es, einen solchen Eindruck zu vermitteln.

Jürgen Bönig kauft den Hauptteil seines Gemüses immer noch bei türkisch-kurdischen Händlern – allerdings meist nicht mehr in Altona.

  1. Fast alle Artikel basierend auf Engin Karaman: Türkei: Schlangestehen für Obst und Gemüse, DW 13.02.2019 https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-schlangestehen-f%C3%BCr-obst-und-gem%C3%BCse/a-47490700
  2. FAO Statistik Türkei ländliche und städtische Bevölkerung zwischen 1990 und 2017 (http://www.fao.org/faostat/en/#country/223)

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