Jetzt mit einer Antwort auf User-Kommentare vom 27.6.22
Es droht die Ausweitung des Ukraine-Kriegs zum europaweiten Krieg. Verantwortlich dafür sind keine Schlafwandler, sondern scharf kalkulierende Akteure. Auch in Berlin.
Zum Verständnis des Ukrainekriegs findet ein Bild Verbreitung, mit dem bereits der Erste Weltkrieg erklärt wurde. „Ziehen wir in eine Katastrophe wie die Schlafwandler 1914?“, fragt Konrad Schuller in einem ganzseitigen Artikel in der FAZ. Ähnlich der ehemalige Chefredakteur des Blattes Cicero, der unter der Überschrift „Die neuen Schlafwandler“ konstatiert: „Wie unsere Neo-Bellizisten das Risiko einer katastrophalen Eskalation nonchalant übersehen.“[1]
Auf den ersten Blick überzeugt das Bild. Der Krieg begann am 24. Februar mit der Invasion der russischen Armee in die Ukraine – und damit als regionaler Krieg. Der russische Präsident behauptete am 9. Mai, es handle sich um eine Art innerrussische Angelegenheit: „Wir führen eine militärische Spezialoperation durch – als reine Verteidigungsaktion von historischem russischen Land“. US-Präsident Joe Biden und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg versicherten mehrfach, „keinen Krieg gegen Russland führen“ zu wollen. Und der deutsche Kanzler Olaf Scholz stellte am 23. März im Bundestag klar: „Wir werden der Ukraine helfen, ohne selbst Kriegspartei zu werden.“
Allerdings gingen zum Zeitpunkt, als diese Aussagen gemacht wurden, alle Beteiligten davon aus, dass der Krieg eine Angelegenheit von wenigen Wochen sei. Inzwischen tobt er seit vier Monaten. Und er nimmt von Woche zu Woche größere Dimensionen an. Die ukrainische Führung erklärte Mitte Juni, man werde „erst wieder für Ende August“ Verhandlungen ins Auge fassen. Auf die Frage „Würden Sie einem Friedensabkommen zustimmen, wenn Russland sich hinter die Kontaktlinie von 2014 zurückzieht“ – das heißt, wenn Russland alle seit dem 24. Februar 2022 eroberten ukrainischen Gebiete wieder an Kiew zurückgeben würde – , antwortete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi Mitte Juni: „Die Krim gehört zur Ukraine, die Regionen Donezk und Luhansk ebenfalls. Selbstverständlich wird unser Volk seine Hoheitsgebiete nicht aufgeben.“[2] Jens Stoltenberg argumentiert: „Der Krieg kann Jahre dauern“. Und während bei Beginn des Krieges die westlichen Länder bei der Lieferung von Waffen eher zurückhaltend waren, gibt es inzwischen ein Wettrennen, welcher Staat die schwereren Waffen und diejenigen Rüstungsgüter mit nochmals größerer Reichweite liefert. Die Ukraine wird mit Waffen aus dem Westen derart vollgepumpt, dass der Generalstabschef der USA, Mark Milley, bereits eine Planübererfüllung konstatierte: „Kiew hat 200 Panzer angefragt, geliefert wurden 327; bei Schützenpanzern lieferten wir 300 anstelle der erbetenen 200 Fahrzeugen. Die Zahl der gelieferten Panzerabwehrwaffen liegt bei 97.000 – mehr als es Panzer auf der ganzen Welt gibt.“[3]
Tatsächlich ist der Krieg längst zum Stellvertreterkrieg der Nato gegen Russland geworden. Dabei stellt die ukrainische Armee für die Nato das Kanonenfutter; das Land dient als Showroom für moderne Waffensysteme und für überholt geglaubte Materialschlachten.
Diese Entwicklung folgt einer Logik – und spätestens seit Mai auch einem Plan. Das Bild von den Schlafwandlern war bereits als Erklärung für den Ersten Weltkriegs falsch.[4] Und es führt in die Irre, wenn die jüngere Entwicklung im Ukraine-Krieg verstanden sein will. Inwieweit die US-Regierung bereits im Vorfeld der russischen Invasion Pläne für einen großen regionalen Krieg gegen Moskau hatte und Putin mit der Invasion in eine Falle gelaufen war, muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt offen bleiben. Als sicher kann gelten, dass das Biden-Team und die Nato-Führung in den Wochen nach Kriegsbeginn auf den Geschmack gekommen sind und dass sie inzwischen einen großen Krieg in Europa bewusst ins Kalkül ziehen. Was aus Sicht von Washington nicht einer gewissen Logik entbehrt, ist das ins Auge gefasste Schlachtfeld doch 7000 Kilometer von Nordamerika entfernt
Dafür werden strategische Entscheidungen getroffen. Joe Biden, der vor der Wahl zum US-Präsidenten die Regierung in Riad wegen Verletzung der Menschenrechte massiv kritisiert hatte, vollzog, so die britische Financial Times, „eine bemerkenswerte 180-Grad-Wende“.[5] Er reist im Juli nach Riad. Dort trifft er mit Kronprinz Bin Salman denjenigen, der laut Erkenntnissen der CIA persönlich den Befehl dafür gab, den kritischen Journalisten und Washington Post-Kolumnisten Jamal Khashoggi in Istanbul zu ermorden und seine Leiche zu zerstückeln. Wobei die saudische Regierung vor allem für den Krieg im Jemen verantwortlich ist, in dem bislang weit mehr Menschen getötet und deutlich mehr Infrastruktur und Städte zerstört wurden als im Ukrainekrieg.
Doch es geht den Regierenden in Moskau nicht um „die Befreiung der Ukraine von Nazis“ oder den Schutz der russischsprachigen Bevölkerung auf ukrainischem Gebiet. Und es geht der US-Regierung und der Nato-Führung nicht um Menschenrechte oder um die Souveränität der Ukraine. Auf beiden Seiten geht es ausschließlich um knallharte Geopolitik. Biden wird der Regierung in Riad viel Geld anbieten und noch mehr moderne Waffen liefern, damit diese im Gegenzug den Ölhahn aufdreht. Da bislang die westlichen Sanktionen in Moskau wenig Wirkung zeigen, soll die russische Ökonomie durch sinkende Öl- und Gaspreise ausbluten.
Seit Wochen dreht der Westen heftig an der Eskalationsspirale: So nutzt er demagogisch das Thema drohende Hungersnot im globalen Süden aufgrund ausbleibender ukrainischer Getreideexporte. Zunächst einmal ist es seltsam, dass man Tag für Tag schwerstes Militärgerät in die Ukraine auf dem Landweg verfrachten kann, dass Getreideexporte jedoch auf demselben Weg unmöglich sein sollen. Vor allem gibt es auch die Möglichkeit zur Nutzung des Seewegs. Das Getreide könnte – nach Absprachen mit Ankara – aus den ukrainischen Häfen unter dem Schutz türkischer Kriegsschiffe abtransportiert werden, wenn Kiew die Seeminen vor den entsprechenden Häfen räumt. Der Vorsitzende der Afrikanischen Union, der senegalesische Präsident Macky Sall, begrüßte Anfang Juni diesen Vorschlag ausdrücklich und machte zum Entsetzen des Westens die Regierung Selenskyi für die Blockade der Getreideexporte verantwortlich. Kiew reagiert wie nach einem Drehbuch, das in Washington geschrieben wird. Die Räumung der Minen wird mit fadenscheiniger Begründung abgelehnt. Stattdessen fordert Selenskyi „moderne Ausrüstung für den Küstenschutz“. Den wiederum – so Seezielflugkörper des Typs Harpoon mit einer Reichweite von knapp 300 Kilometern – liefern prompt Dänemark, Großbritannien und die USA. Die russische Seite dürfte darauf ihrerseits mit noch massiveren Angriffen reagieren, möglicherweise nun auf Odessa.
Seit dem 18. Juni gibt es eine nächste Stufe der Eskalation: Die Regierung in Litauen blockiert den Transit russischer Transporte in die russische Exklave Kaliningrad. Die Begründung der litauischen Regierung, es handle sich dabei lediglich um die Anwendung der im März (!) beschlossen Sanktionen der Europäischen Union, ist hanebüchen. Da Kaliningrad unbestrittener Teil der Russischen Föderation ist, können Transporte zwischen der Exklave und dem russischen Kernland nicht von EU-Sanktionen betroffen sein. Die EU behandelt Transporte zwischen Großbritannien und Gibraltar auch nicht nach EU-Recht.
Die Blockade-Maßnahmen der Regierung in Vilnius werden in Moskau zu Recht als Provokation empfunden. Damit rückt der Krieg mit Riesenschritten auf Berlin zu. Untersucht man die jüngere Entwicklung in Litauen, so gewinnt man den Eindruck, diese jüngste Eskalation könnte von langer Hand geplant sein – und zwar unter Einschluss der Regierung in Berlin. Denn in Litauen befindet sich eine 1600 Kopf starke Nato-Einheit, deren Kern die Panzergrenadierbrigade 41 „Vorpommern“, also Soldaten der Bundeswehr, bildet. Der Kommandeur dieser Battlegroup, Oberstleutnant Daniel Andrä, spricht Klartext: „Der 24. Februar war ein Game-Changer. Der Krieg ist wieder im Herzen Europas zurück. Und wir haben mit Litauen eine Grenze zu Kaliningrad, also zu Russland.“ Er spricht auch die Möglichkeit einer deutlichen Aufstockung der Nato-Präsenz mit noch größerem deutschen Engagement an: „Das ist eine Entscheidung, die zum Schluss auf der politischen Ebene getroffen werden muss – beim Nato-Gipfel Ende des Monats [Juni; W.W.]. Wir sind hier auf alles vorbereitet. […] Und der Kanzler hat das ja auch letzte Woche hier bei seinem Besuch öffentlichkeitswirksam geäußert – dass Deutschland bereit ist, auch mehr Verantwortung zu übernehmen.”[6]
Laut offizieller Website der Bundeswehr [7] gab es seit dem 24. Februar in Litauen die folgenden Eskalationsschritte: 1. März und 8. April: Aufstockungen der Nato-Präsenz; 3. März: Besuch des Bundespräsidenten; 10., 15. und 16. März „Die Leoparden der Battlegroup trainieren das Gefecht“ – „Schwertransport mit der Panzerhaubitze 2000“ – „Die Aufklärungskompanie trainiert den Drohnenflug“; 7. Juni: Bundeskanzler Scholz sagt in Litauen weitere Verstärkung der Nato-Präsenz zu; 18. Juni: Die litauische Regierung blockiert den Transit russischer Transporte.
Apropos Putin. Im Westen gibt es zwei grundverschiedene Thesen zum Charakter des Herrn im Kreml. Einmal heißt es, der Mann sei unberechenbar. Dann wird behauptet, er habe diesen Krieg seit langem kühl geplant. Beide Einschätzungen lassen die Erwartung zu, dass Moskau bei entsprechender Provokation oder auch im Fall militärischer Rückschläge einen Angriff auf Nato-Gebiet, einschließlich eines Atomwaffen-Einsatzes, in Erwägung ziehen wird. Ein unberechenbarer Putin wird im Fall von Provokationen offensichtlich noch unberechenbarer. Ist Putin jedoch der eiskalt planende Politiker, dann sollte sein konkretes Agieren zur Kenntnis genommen werden. Im Juni 2020 unterzeichnete Putin ein Dekret, das russischen Generalen den Ersteinsatz von Atomwaffen auch in konventionellen Kriegen erlaubt – und zwar „im Fall einer Aggression gegen die Russische Föderation mit konventionellen Waffen, wenn die Existenz des Staates in Gefahr ist.“[8] Russland zog damit mit dem US-Militär gleich, das inzwischen auch einen atomaren Erstschlag nicht mehr ausschließt.
Das Handeln der Regierenden in Moskau, Washington, Brüssel, Berlin und Kiew ist zynisch und verantwortungslos. Die Politik dieser Kreise läuft darauf hinaus, einen europaweiten, atomar geführten Krieg in Kauf zu nehmen. Dabei wird im Vorfeld alles abgeräumt, was als Antwort auf den Klimanotstand notwendig wäre: Fracking-Gas aus den USA? Längere Laufzeiten für Kohlekraftwerke? Flüssiggas aus Scharia-Regionen? Bohrungen nach Gas in der Nordsee? All das erhält jetzt seinen Segen. Gleichzeitig wird die Bevölkerung auf Blut, Schweiß und Tränen eingestimmt; der Krieg verbindet sich zunehmend mit der sozialen Frage. Robert Habeck weiß: „Wir werden alle ärmer“. Und Christian Lindner erklärt am 22. Juni, er sehe nun „drei bis fünf Jahre mit Engpässen“. Es gehe nun darum „die Substanz der deutschen Wirtschaft in diesen Zeiten der Unsicherheit“ zu verteidigen.[9] Damit ist gemeint, dass der Pro-Kopf-Einkommensverlust in Höhe von 1500 Euro, den es nach bisherigen Berechnungen im laufenden Jahr 2022 aufgrund der massiv angestiegenen Energiepreise bereits geben wird, nochmals deutlich höher ausfallen wird.
Noch am 22. April erklärte Olaf Scholz in einem Interview mit dem Spiegel: „Es gibt kein Lehrbuch für die Situation, in dem man nachlesen könnte, ab welchem Punkt wir als Kriegspartei wahrgenommen werden. […] Ich unternehme alles, um einen Atomkrieg zu vermeiden.“ Diese Haltung hat die deutsche Regierung längst aufgegeben. Wobei die FDP und die Grünen in besonderem Maß kriegstreiberisch auftreten.
Nur ein Stopp aller Waffenlieferungen und ein massives Drängen auf sofortige Verhandlungen mit dem Ziel „Minsk III“ kann die bedrohliche Dynamik stoppen. Dabei sind die Friedensbewegung in Europa und die – weiterhin aktive – Zivilgesellschaft in Russland wichtige Aktivposten. Keiner komme mit dem Argument, man stolpere, Schlafwandlern gleich, in den neuen und europaweiten Krieg. Die Schritte der Eskalation sind auch seitens des Westens geplant. Und sie sind klar zu erkennen.
Anmerkungen:
[1] Konrad Schuller, die Angst vor dem großen Krieg, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 17. April 2022. Christoph Schwennicke, Die neuen Schlafwandler, in: Freitag vom 18. April 2022.
[2] „Am 24. Februar begann der totale Krieg“, Interview mit W. Selenskyi in: Die Zeit vom 15. Juni 2022.
[3] Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Juni 2022.
[4] Das 2014 erschienene Buch des in Cambridge lehrenden Australiers Christopher Clark „Die Schlafwandler“ ignoriert systematisch die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die deutsche Verantwortung für den Ersten Weltkrieg, so die Arbeiten von Fritz Fischer. Es dient der Reinwaschung der deutschen Eliten und wurde deshalb hierzulande von offiziellen Institutionen zur neuen Staatsräson erhoben. Siehe: Klaus Gietinger / Winfried Wolf, Der Seelentröster – Wie Christopher Clark die Deutschen von der Schuld am Ersten Weltkrieg erlöst, Stuttgart 2017; in serbischer Sprache Novi Sad 2019.
[5] Financial Times vom 16. Juni 2022.
[6] Bericht von Henning Strüber für den NDR vom 16. Juni 2022
[8] Hier zitiert bei Schuller/FAZ; siehe Fußnote 1.
[9] Bericht bei ntv vom 22.6.2022;
Zuerst HIER veröffentlicht
Mythen, Fakten und Missverständnisse in der Ukraine-Debatte
– von Winfried Wolf
Antworten auf User-Kommentare zum Text „Der Krieg rückt auf Berlin zu“
Warum eine Invasion aggressiv ist, wer Gasverträge gebrochen hat, wer den Konflikt anheizt.
Mein Artikel „Teilblockade von Kaliningrad – Der Krieg rückt auf Berlin zu“ hat mit rund 1.100 Reaktionen binnen 32 Stunden doch einiges an Diskussionsstoff geliefert – und das eine und andere, das geklärt werden sollte.
Wer ist der Aggressor?
So verorten mehrere mich im russischen Lager. In der letztgenannten Zuschrift heißt es gar: „Der russische Überfall auf ein Nachbarland wird nicht einmal erwähnt.“
Das ist unzutreffend, beziehungsweise ein Missverständnis. Im Beitrag schreibe ich, dass es in diesem Krieg um Geopolitik gehen würde; dass er spätestens inzwischen ein Stellvertreterkrieg USA gegen Russland ist.
Wobei natürlich Russland diesen Krieg begonnen hat, natürlich das ein Bruch des Völkerrechts war und bleibt und natürlich Russland der ursprüngliche Aggressor ist.
Ich schreibe im Artikel bewusst, dass Russland am 24. Februar eine „Invasion“ startete – und eine Invasion ist immer rechtswidrig. (Weswegen das NS-Regime und rechte Kreise in der BRD die Landung der Alliierten in der Normandie 1944 als „Invasion“ etikettierten, um sie in dieses falsche Licht zu rücken.)
Drei Tage nach Beginn der russischen Invasion verfasste ich einen Text mit Titel „15 Thesen zum Krieg des Kreml gegen die Ukraine„. Er erschien außer in deutscher auch in englischer und russischer Sprache. Darin kritisiere ich die russische Führung unzweideutig.
Bei all dieser berechtigten Kritik am russischen Krieg gibt es Gründe für die Entwicklung hin zum Angriffskrieg, die das Vorgehen des Kremls nicht rechtfertigen, die jedoch das eine und andere erklären. Dazu gehört das De-facto-Verbot der russischen Sprache als zweite Amtssprache in der Ukraine 2014, das Anfang 2022 nochmals verschärft wurde.
Also, ja zu „Ignoramus-et-Ignorabimus“ (Zuschrift 23.6./14.32h): Russland ist die entscheidende Eskalationsmacht.
In diesem Zusammenhang meint User „Bedenkentraeger“: „Das Wort ‚Falle‘ impliziert die Unschuld der Handelnden“.
Das kann ich nicht nachvollziehen. Man kann doch in eine Falle laufen und dennoch gleichzeitig Unrecht tun. Die Sowjetunion marschierte im Dezember 1979 in Afghanistan ein. Das war ein Bruch des Völkerrechts. Und falsch. Und eine Falle.
Es war der Ex-Sicherheitsberater der US-Regierung, Zbigniew Brzezinski, der erklärte, damit sei die UdSSR in „eine Falle gelaufen“ und erhoffte sich damit „ein russisches Vietnam“. Die CIA hatte einen solchen Einmarsch erhofft – und dann die „Gotteskrieger“ aufgebaut und mit modernen Waffen ausgerüstet. Die Sowjetunion erlitt dann ihr „Vietnam“.
Russlands Krieg und das „Spielchen mit Gas“
In mehreren Beiträgen (so im zuletzt erwähnten von „Ignoramus-et-Ignorabimus“, aber auch bei User „i-n-t-el“ und wörtlich bei „BythMuster“ heißt es: „Russland hat die Gaslieferverträge gebrochen.“
Das sollte man differenzierter sehen. Der Westen hat in drei Stufen den regionalen Krieg zum Wirtschaftskrieg im Energiesektor ausgebaut:
1. Zuerst wurde Nord Stream II gekippt (eine Gasleitung, die eindeutig vertraglich geregelt war).
2. Dann wurden russische Vermögen und Devisen der Russischen Föderation, die im Westen lagerten, in großer Menge beschlagnahmt oder blockiert. Als Antwort darauf forderte Russland, dass die Gasrechnungen damit in Rubel zu bezahlen sind, was der Westen mehrheitlich ablehnte.
3. Der Westen erklärte, sich perspektivisch nicht an die langfristigen Verträge für den Bezug von russischem Gas halten zu wollen. Gerade auch Berlin erklärte, spätestens 2023 sich von russischem Gasbezug abkoppeln zu wollen (setzte aber darauf, dass Russland vorher noch brav die Gasspeicher so auffüllt, dass es im Winter 2022/23 nicht allzu kalt in deutschen Stuben wird).
Dass Russland vor diesem Hintergrund sich nicht an Verträge gebunden sieht, ist nachvollziehbar.
Russland schließt Bündnisse mit Bösewichten
In dem bereits erwähnten Beitrag von „I-N-T-E-L“ heißt es: „Putin versucht, Allianzen mit den Schurkenstaaten der Welt zu schmieden“.
China, Indien und den Iran pauschal als „Schurkenstaaten“ zu bezeichnen, finde ich kühn. Und wenn in Saudi-Arabien oder in anderen Golf-Staaten Monarchien diktatorisch herrschen, wenn dort die Hälfte der Bevölkerung, Frauen, so gut wie gar keine Menschenrechte genießen und bei „Ehebruch“ Frauen gesteinigt werden, wenn unsere Politiker diesen Regimes seit Jahrzehnten Rüstungsgüter aller Art (leichte und vor allem schwere Waffen) liefern und jetzt dort aufschlagen und um Gas (und Öl) betteln – was ist das denn anderes als ein „Schmieden von Allianzen mit Schurkenstaaten“?
Getreide kann man nur per Schiff außer Landes bringen
User „Tichy Ion“ rechnet mir vor, dass die bisherigen Waffenlieferungen nach Gewicht so „leicht“ zu beschaffen seien, dass man nie und nimmer auf vergleichbarem Weg das Getreide außer Landes schaffen könnte. Dafür sei der Schiffstransport erforderlich.
Nun hat der deutsche Landwirtschaftsminister Cem Özdemir am Freitag dieser Woche im Detail erklärt, dass das sehr wohl gehen würde, dass man hier bereits erhebliche Erfolge erzielt habe und dass man auch in Zukunft auf dem Landweg (und dann wohl zu baltischen Ostseehäfen) das Getreide aus der Ukraine verbringen wolle. Er sagte im Interview mit dem in Berlin erscheinenden Tagesspiegel:
Vor dem Krieg wurden rund fünf Millionen Tonnen Getreide pro Monat über das Schwarze Meer exportiert… Dieses Niveau werden wir zwar nicht so schnell erreichen; doch wir sind auf einem guten Weg. Im März ist der Export auf rund 350.000 Tonnen eingebrochen. Im Mai haben wir es (…) auf immerhin 1,7 Millionen Tonnen gebracht.
Landwirtschaftsminister Cem Özdemir
Seine Behauptung, dass „der Neubau einer Breitspur-Bahnverbindung zu den baltischen Häfen Sinn“ ergeben könnte, zeugt nicht von Fachkenntnis – oder sie zielt auf einen hübschen Großauftrag für Siemens & Co.
Die Umspursysteme von Normalspur (1.435 mm) auf ukrainische (und russische) Breitspur sind weit entwickelt und werden längst – zum Beispiel im Fall des deutsch-chinesischen Zugs entlang der Seidenstraße – erfolgreich eingesetzt.
Wer stimmt dem Krieg zu, wer hat dazugelernt?
User „Captain Data“ verweist darauf, dass Siemens über 150 Jahre hinweg in Russland präsent war und erwähnt die „Scherben“, die die westliche Politik gegenüber Russland hinterlassen würden. Just so sehe ich es auch.
In dem „Gruß aus Rom“ (User „Chrysophylax“) wird erwähnt, dass man in Italien nicht so „kriegsgeil“ sei wie in Deutschland. Stimmt! Doch spannend ist halt auch die Reaktion, die es gab, als Cinque Stelle, die Fünf-Sterne-Bewegung, – die gegen Waffenlieferungen aus Italien ist und die „eigentlich“ die größte Partei in der Koalitionsregierung unter Mario Draghi stell(t)e – hart bleiben wollte.
Flugs wurde die Partei gespalten; der Außenminister di Maio gründete prompt eine neue Partei, die bereits über mehr als 50 Abgeordnete verfügt. Wobei letztere natürlich nur ihrem Gewissen und nicht etwa Geld und schon gar nicht Wünschen aus Washington folgen.
Deutlich wurde das auch in dem von User „Goerlitzer“ beigebrachten Zitat des litauischen Sicherheitsbeauftragten: „Ich will beteuern, dass es (die Teilblockade von Kaliningrad; W.w.] keine litauische Entscheidung ist, sondern eine der EU.“ Genau so sehe ich es auch – es gibt in diesem Zusammenhang Akteure in Brüssel und Berlin – und letzten Endes immer in Washington.
Und schließlich finde ich absolut zutreffend, wenn User „Fätty“ schreibt: „Das Finanzsystem im Wertewesten ist ausgepresst. In der Historie immer ein guter Ausgangspunkt für einen großen Krieg.“
Diese Erkenntnis drängt sich auf, angesichts labiler Börsen, des Bitcoin-Crashs, der Staatspleite in El Salvador, Sri Lanka, Libanon und Laos, der massiven Wirtschaftskrise in der Türkei, dem Anstieg der Leitzinsen auf internationaler Ebene und der weltweit vom Trab in den Galopp verfallenden Inflation.