BLOCK 5: WIDERSTAND
Interview mit Hannes Rockenbauch, Fraktionsvorsitzender der FrAKTION LINKE * SÖS * PIRATEN * TIERSCHUTZ
Als Stuttgart 21 1994 erstmals vorgestellt wurde, sagte der damalige Bahnchef Heinz Dürr, das Projekt sei „eigentlich nicht notwendig“, doch es gehe darum „neue Entwicklungen für die Stadt zu machen.“ Gemeint war die Verwertung von ehemaligem Bahngelände, also Immobilienspekulation. Hat sich dies bestätigt?
Hannes Rockenbauch: Absolut. Stuttgart 21 war, ist und bleibt ein Immobilienprojekt. In der öffentlichen Diskussion ist es das heute mehr denn je. Denn alle Vorzüge, die die Projektbetreiber dem Tiefbahnhof angedichtet hatten, haben sich inzwischen ja als unhaltbar entlarvt. Kosten, Leistungsfähigkeit, Fertigstellung: alles Makulatur. Deshalb setzen die Projektunterstützer geradezu verzweifelt auf das Argument, dass das abgeräumte Gleisvorfeld des Kopfbahnhofs das Wohnungsbaupotential für ein „Rosensteinviertel“ böte.
In der Vergangenheit haben Stadt und Gemeinderat der Bahn AG für deren Flächen auf dem sog. A-Areal mitten im Stadt-Zentrum – z.B. auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs neben dem Kopfbahnhof – Investoren freundliches Baurecht geschaffen. Das war die Grundlage für Bodenspekulation. Damit hat die Bahn richtig fett Kohle verdient. Entsprechend sieht es dort heute aus: Banken, Büros, Hotels und ein paar Luxuswohnungen in unwirtlicher, austauschbarer Investorenarchitektur. Jetzt erleben wir in der Diskussion um den Deutschlandtakt und in der Diskussion, die der grüne Verkehrsminister über zusätzlich notwendige Gleise angestoßen hat, dass Stuttgart21 ein Immobilienprojekt ist und bleibt. Denn die Arbeitsgruppe, die er mit der Stadtspitze eingerichtet hat, hat von vornherein festgelegt, dass Kapazitätsvergrößerung für den Bahnverkehr unter keinen Umständen die künftige Verwertung heutiger Bahnflächen im Gleisvorfeld des Ko pfbahnhofs einschränken darf. Und das führt dann zu absurden Ideen von einem neuen, aber unterirdischen Kopfbahnhof.
Die Gegnerinnen und Gegner von S21 argumentierten bereits sehr früh, dass die behaupteten 100 Hektar, die durch S21 frei werden würden, Augenwischerei seien. Dass in Wirklichkeit auch bei einem Erhalt des Kopfbahnhofs rund 70 Hektar der bisherigen Gleisflächen für andere Zwecke als den Schienenverkehr zur Verfügung stehen könnten. Ist diese Einschätzung auch noch heute gültig?
Es geht tatsächlich nicht um hundert Hektar, die durch Stuttgart 21 frei würden. Auch bei jedem unserer Alternativvorschläge werden erhebliche Flächen frei für Stadtentwicklung. Und anders als Stuttgart 21 leisten unsere Alternativorschläge beides: sie garantieren die Leistungs- und Erweiterungsfähigkeit des Bahnknotens und lassen dabei noch erhebliche Flächen für die Stadtentwicklung übrig. In den schon bebauten Gebieten des „A-Areals“ wären auch viel mehr Flächen für bezahlbare Wohnungen und zukunftsfähige Stadtentwicklung möglich gewesen, wenn nicht Spekulationsinteressen die Verwertung diktiert hätten.
Auch rund um die Wagenhallen, den Arealen in den „C- und D Gebieten“, ist Stadtentwicklung natürlich auch bei unserem Alternativkonzept „Umstieg 21“ möglich. Es gibt selbst Varianten, die mit Umstieg 21 auf dem B-Gebiet teilweise noch Bebauung zulassen würde. Tatsächlich sind diese „hundert Hektar Stadtentwicklungsfläche“, die angeblich ausschließlich durch Stuttgart21 freiwerden würden, eine Propagandafigur. Denn mehr als die Hälfte dieser Flächen für Stadtentwicklung würde auch jedes der Alternativkonzepte ohne Tiefbahnhof ermöglichen.
Beim sogenannten „Rosensteinviertel“, das nach dem Willen des Grünen-OB Fritz Kuhn und der Mehrheit im Stuttgarter Stadtparlament bebaut werden soll, handelt es sich um das bisherige Gleisvorfeld. Wie realistisch sind solche Planungen denn heute, wenn schon die Inbetriebnahme des S21-Tiefbahnhofs in Frage steht und ‚bestenfalls‘ in weiter Ferne liegt?
Wenn der OB und die ihn stützenden Ratsfraktionen heute euphorisiert über die Rosensteinbebauung reden, als stünde die morgen vor der Tür und würde die Wohnungs- und Mietenprobleme in Stuttgart lösen, sagen wir: Moment mal! Kein Mensch weiß wirklich, ob S21 jemals fertig gebaut werden kann. Kein Mensch weiß, ob die Flächen jemals, wenn ja, ob 2030, 2035 oder 2040, baureif zur Verfügung stehen und was für ein Aufwand das sein wird – Stichwort: kontaminierte Böden.
Da sind doch alle Diskussionen um die angebliche Chance der Entwicklung auf dem Gleisvorfeld absurde Zukunftsmusik, die uns nur abhält von unseren aktuellen Hausaufgaben! Heute müssen wir darüber reden, wie wir die ganze Stadt fit machen können gegen Klimazerstörung. Das betrifft die aktuelle Bevölkerung mit mehr als 600 000 Menschen. Da können wir doch nicht so tun, als könne ein Rosensteinviertel mit 100 Hektar in einer fernen Zukunft die Lösungen für die Gesamtstadt mit 10.000 Hektar Siedlungsfläche liefern! Die Lösungen brauchen wir in den nächsten Jahren! Es ist unglaublich, wie hier geistige Energie verschwendet wird in einer Phantom- Diskussion über Gleisflächen, die vielleicht irgendwann einmal frei werden könnten, statt sie zielgerichtet zu verwenden, dass uns, bildlich gesprochen, die Hütte nicht vollends abfackelt – brennen tut sie ja schon!
Was war Dein Eindruck als Mitglied in der Jury zur Bewertung der Rosensteinpark-Architektenentwürfe: Wie viel ist da „Park“ und wie viel Beton?
Ich war als Stadtrat Mitglied der Jury im internationalen Wettbewerb Rosenstein und habe mir von Anfang an die vielen Entwürfe zu dieser angeblichen „Jahrhundertchance“ intensiv anschauen können. Und man muss schon sagen: Für so eine komplexe Stadtentwicklungsaufgabe riesige Flächen ganz unterschiedlichen Charakters zu beplanen und dabei die Notwendigkeit zukünftiger Bahninfrastruktur von Stuttgart 21 oder Umstieg 21 zu berücksichtigen, das war eine totale Überforderung der Planungsteams.
Man kann in so einem Wettbewerbsverfahren offensichtlich nicht die Komplexität solcher Themen sachgerecht bearbeiten. Hier hätte es andere Verfahren gebraucht als einfach nochmal den Wettbewerb zu wiederholen, den man vor ein paar Jahren schon mal gemacht hatte. Auch was die Transparenz und die Mitgestaltungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger angeht, hat die Stadtspitze nicht viel gelernt.
Die Entwürfe, die jetzt prämiert wurden, sind zwar zeitgemäß begrünt. Die Dächer und die Fassaden sind begrünt, es gibt viele Versickerungsflächen zwischen den Gebäuden.
Es wird mit vielen gefälligen Bildern gearbeitet. Es ist ja heute kein Problem mehr, all dies am Computer zu erzeugen. Das ist gerade irgendwie chic.
Aber im Endeffekt geht es natürlich um gigantische Baumassen. Und die Frage, ob da wirklich nachhaltig und klimaverträglich gebaut werden würde, wird gar nicht in so einem Wettbewerb entschieden. Werden die Häuser aus Beton und Stahl sein? Oder sind sie klimaneutral in Holzbau? All das ist nicht Wettbewerbs-Aufgabenstellung und wird auch nicht im Wettbewerb entschieden. Aber die Bilder sind schon mal ein Versprechen. Und allein darum geht es: Sie sollen ihre Funktion erfüllen, für die Bebauung und Stuttgart21 mehr öffentliche Akzeptanz zu schaffen. Mehr nicht.
Gibt es bei der geplanten Bebauung denn identifizierbare Profiteure? In einem früheren Stadium der S21-Planungen wurde oft ECE, die Tochter des Otto-Versands, genannt und in diesem Zusammenhang auch Verbindungen zum Ex-MP und aktuellen EU-Kommissar Oettinger und dessen Partnerin Friederike Beyer.
Die ist heute schwieriger als früher zu beantworten. In den früheren Entwicklungsflächen auf ehemaligem Bahneigentum rund um den Bahnhof sieht man die Profiteure: dort prägen die ganzen Banken- und Luxushotel-und Appartementbauten sowie die Mega-Shoppingmall „Milaneo“, ein ECE-Projekt, das Bild.
Das ist bei all diesen Ungewissheiten, wie es mit S21 und dem Rosensteinviertel weitergeht, noch nicht erkennbar. Fakt ist aber, dass alle unsere Anträge im Stadtrat, dass städtische Flächen für die Stadtentwicklung grundsätzlich immer in städtischer Hand bleiben sollen, maximal in Erbpacht vergeben werden, bis jetzt keine Mehrheiten gefunden haben. Solange Privatisierung von öffentlichem Grund nicht grundsätzlich ausgeschlossen wird in dieser Stadt, bleibt die Tür auch in einem eventuellen Rosensteinviertel sperrangelweit offen für Investoren. Ganz konkrete Akteure, die dort ihren Schnitt machen wollen, sind heute aber noch nicht benennbar. Es ist ja auch noch ein Weilchen hin, bis die Gleise dort weg und der Bahnverkehr zerstört wäre, bis diese Flächen auch in der Praxis auf den Markt kommen.
Bereits Ende der 1990er Jahre gab es eine von der Stadt Stuttgart in Auftrag gegebene Klimastudie, die betonte, dass das bisher bestehende Gleisvorfeld in der Nacht Kühlung für die Stadt bringt und die Sommerhitze-Problematik im Stuttgarter Kessel etwas entschärft. Ist eine Bebauung dieser Gleisanlagen – jetzt mal unabhängig von der Notwendigkeit eines effektiven Schienenverkehrs – klimapolitisch überhaupt verantwortbar?
Wir sehen das so wie diese Studien der Stadtklimatologen: die für das Stadtklima und die Nachtabkühlung in Stuttgart eminent wichtigen Gleisvorfelder würden wegfallen und mit Baumasse gefüllt werden, die ein zusätzlicher Wärmespeicher sind mit negativen Auswirkungen auf das Stadtklima. Ob man diesen Verlust von wertvollen klimarelevanten Gleisflächen durch intensive Dachbegrünung, Wasserflächen ausgleichen könnte, ist eine akademische Diskussion, in der es heute keine zuverlässigen Antworten geben kann. Klar ist aber, dass in Wettbewerbsentwürfen ziemlich nah vorn an der Parkkante liegende Gebäude die nächtlichen Frischluftströme einengen würden. Die heutigen Gleisflächen sind ein dreifacher Gewinn: fürs Mikroklima, für den Hitzeschutz im Talkessel und für eine funktionierenden Bahnverkehr. Das zu erhalten ist viel effizienter, als hinterher mit ganz viel zusätzlichem Aufwand in der Gestaltung und unsicherem Ergebnis alle s noch einigermaßen erträglich hinzukriegen.
Da der S21-Tiefbahnhof mit seinen acht Gleisen im Vergleich zum heutigen Kopfbahnhof mit seinen 16 Gleisen nachweislich zu klein für den aktuellen Bedarf ist, einen Taktverkehr verhindert und dann noch dazu führt, dass die wunderbare Gäubahn – die Schienenfernverbindung von Zürich über Singen, Tuttlingen und Horb nach Stuttgart – nicht mehr in den Tiefbahnhof eingeführt werden kann, gibt es die von Dir schon angesprochene Überlegung des grünen Verkehrsministers Winfried Hermann, einen neuen ergänzenden Kopfbahnhof im Untergrund zu planen. Ist das realistisch?
Es ist nicht mehr ernsthaft zu bestreiten, dass der geplante Tiefbahnhof nicht in der Lage sein wird, einen qualitativ hochwertigen integralen Taktverkehr zu verwirklichen. Geschweige denn, die politisch gewollte Verdoppelung der Kapazität des Bahnverkehrs hinzukriegen. Auch die dringend erforderliche Kapazitätssteigerung des S-Bahnverkehrs geht mit S21 nicht. Die an den Kopfbahnhof angebundene Panoramastrecke der Gäubahn ist für den mit Störungen geschlagenen S-Bahnverkehr eine lebenswichtige Ausweich-Option, die der Tunnelbahnhof kappen würde. Damit wird die Betriebssicherheit des Schienenverkehrs in Stuttgart definitiv kaputt gemacht.
Es ist also erst mal realistisch, wenn der Verkehrsminister sich jetzt wenigstens traut zu sagen: Moment, wir müssen auch eine Verdopplung beim S-Bahn- und im Regionalverkehr hinkriegen. Das hat ein kurzes Fenster der Diskussion in Stuttgart eröffnet. Aber wie vorhin gesagt: Seine Arbeitsgruppe hat mit von vornherein festgelegten Prämissen getagt: Erstens, dass der Deutschlandtakt funktioniert mit oder gar dank Stuttgart 21. Das haben die einfach mal so beschlossen. Was natürlich Quatsch ist, weil Stuttgart21 die Qualität und die Betriebssicherheit nicht garantieren kann. Zweitens haben sie beschlossen, dass jegliche Diskussion, die Herrmann aufmacht über Erweiterungen mit zusätzlichen Gleisen, unter keinen Umständen Flächen für den dort geplanten Städtebau beeinträchtigen darf. So kommt man dann auf die absurde Idee, dass es einen zusätzlichen unterirdischen Kopfbahnhof geben soll mit Gleisen zum zukünftigen Durchgangsbahnhof.
Das müssten unendlich komplexe Bauwerke werden, wenn oben drauf die im Wettbewerb geplanten Bau Volumina realisiert werden sollen. Insgesamt verspreche ich mir also wenig bei diesen gesetzten Prämissen. Das scheint sprichwörtlich ein Rohrkrepierer zu werden und wird die verfahrene Situation um Stuttgart 21 nicht aufbrechen.
Es gab mal einen CDU-OB in Frankfurt mit Namen Walter Wallmann. Der forderte in den 1980er Jahren die „schienenfreie Innenstadt“. Das galt damals als extrem umweltfeindlich und Wallmann war ein CDU-Mann von ganz Rechtsaußen. Wobei das Konzept damals spektakulär scheiterte – am Widerstand der Bevölkerung.
Es ist natürlich besonders krass, dass ausgerechnet ein grüner Oberbürgermeister und ein grüner Baubürgermeister die Parole ausgeben, die Rosensteinbebauung dürfe auf gar keinen Fall durch die notwendige Diskussion um die Leistungsfähigkeit von Stuttgart 21 eingeschränkt werden.
Mit so einer städtebaulichen Prämisse riskieren Lokalpolitiker die Leistungsfähigkeit eines überregional bedeutenden Schienenknotens, der eben nun mal der heutige Stuttgarter Kopfbahnhof ist. Für städtebauliche Interessen opfern sie einen leistungsfähigen Schienenverkehr, ein zentrales Element der Verkehrswende, die einen wichtigen Beitrag zur Vermeidung von klimaschädlichen Emissionen durch den motorisierten Individualverkehr leisten muss.
Klimapolitik wird durch Stuttgart 21 ad absurdum geführt, weil man den Bürgerinnen und Bürgern lieber schöne Pläne, gefällige computeranimierte Bildchen von einem zukünftigen Rosensteinquartier präsentieren will, um nicht mehr über die Defizite von Stuttgart 21 reden zu müssen. Da stört jegliche Diskussion um die mangelnde Leistungsfähigkeit, Zeitplanung, Kostenplanung, den Brandschutz. Das zuzulassen hieße für die Grünen, dass auch noch ihr letztes Argument für Stuttgart 21, die „Chance für Wohnungsbau und Stadtentwicklung“, abgeräumt würde. Offensichtlich würde, dass Stuttgart 21 eine Fata Morgana ist, die davon ablenkt, sich den wirklichen heutigen Herausforderungen in der Stadtentwicklung und in der Verkehrspolitik zu stellen, also mehr schadet als nützt.
Das ist ein Wandel grüner Politik, die zu der Annäherung der Grünen an die CDU und die angebliche „Mitte“ passt. Für mich ist klar: Stuttgart 21 ist der Prüfstein der Glaubwürdigkeit in Sachen Klimaschutz. Wer glaubt, Stuttgart 21 könne einfach so weitergebaut werden, der meint es mit dem Klimaschutz nicht ernst.