Stuttgart21 in einer neuen Krisenphase
Tom Adler & Angelika Linckh
»Abgrundtief und Bodenlos« – diesen Titel hat Winfried Wolf, unermüdlicher Mitstreiter im Bündnis gegen Stuttgart21, seinem Standardwerk über das babylonische Bauprojekt gegeben.
Er widmete es den Aktivist:innen, die für Demokratie und Stadtentwicklung kämpfen. Seit 1996 war Winnie als eine treibende Kraft im Kampf gegen Stuttgart 21. Nun, ein Jahr nach seinem Tod, offenbaren sich die Tiefen des Projekts deutlicher denn je: Alle Versprechen sind geplatzt, und dennoch wird weitergebaut, um Milliarden öffentlicher Gelder in die Taschen von Baukonzernen zu lenken.
Was als »Projektfortschritt« gefeiert wurde, entpuppt sich als Krisenserie, die das Projekt in eine neue, verdichtete Problemlage stürzt. Je näher die Inbetriebnahme rückt, desto schwerer wiegen die Konflikte.
Krise 1: Verlust der Glaubwürdigkeit: Ein Blick zurück illustriert den Glaubwürdigkeitsverlust des Projekts und seiner Unterstützer: Das S21-Kommunikationsbüro gewann 2013 einen Prozess gegen die Stuttgarter Zeitung, die geschrieben hatte, das Büro wisse, dass der angekündigte Eröffnungstermin von 2021 auf 2022 verschoben werde. Das Gericht bewertete das als »wahrheitswidrige, den Kläger herabwürdigende Tatsachenbehauptung« und sah »…damit die Glaubwürdigkeit des Kommunikationsbüros … in Frage gestellt.« Heute sind sie so in der Klemme, dass sie schon erklären, dass auch Ende 2026 noch keine Inbetriebnahme mit »voller Leistungsfähigkeit« des Tunnelbahnhofs absehbar sei.
Krise 2: Schrumpfende mediale Unterstützung: Heute rechnen Leitmedien, die fast zwei Jahrzehnte Stuttgart21 unterstützten, mit ihrer eigenen Rolle ab und bezeichnen Stuttgart21 inzwischen als größtes anzunehmendes Kosten-Desaster der Deutschen Bahn.1
Krise 3: Das System Bahn im Krisenmodus Nach fast zwei Jahrzehnten, in denen die Deutsche Bahn auf Verschleiß gefahren ist, befindet sich das Unternehmen in einem verheerten Zustand. Selbst der Vorstand kann nichts mehr schönreden. »Wir haben zu lange gedacht, die Infrastruktur hält ja noch. Insgesamt wurde zu wenig in sie investiert«, äußerte Infrastrukturvorstand Berthold Huber im Juli. »Wir haben nicht erwartet, dass sich das jetzt so beschleunigt.«
Die mit viel Hoffnungen verknüpfte Herauslösung der Infrastrukturbereiche aus dem Zugriff des Konzernvorstands der DB AG wurde als Luftnummer umgesetzt. Die vor einem Jahr gegründete InfraGO – GO steht für »Gemeinwohl orientiert« – ist weiterhin den Weisungen des Konzernvorstands untergeordnet und als Aktiengesellschaft organisiert, das Gegenteil einer Verpflichtung aufs Gemeinwohl. Eine weitere Verlagerung des Güterverkehrs auf die Straße ist ebenso absehbar wie ein Aufschlag auf die ohnehin geplanten Erhöhungen der Ticketpreise im Personenverkehr.
All das ist bahn- und klimapolitischer Wahnsinn, hat aber Methode. SPD, Grüne und FDP arbeiten hin auf einen neuen Privatisierungsvorstoß, umzusetzen von einer künftigen Bundesregierung. Friedrich Merz hat bereits gesagt, wie er die Bahn »sanieren« will: durch ein reduziertes Angebot auf der Schiene.
Krise 4: Interne Konflikte des Projekts: Immer neue Verzögerungen und Kostensteigerungen führen zu offenem Streit unter Projektbefürwortern. Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper protestiert gegen Verzögerungen seiner Immobilienprojekte. Verkehrsminister Winfried Hermann fordert von der Bundesregierung Mittel für ETCS und Digitalisierung.
Acht Tiefbahnhof-Gleise können auch mit »Digitalisierung« und »European Train Control System (ETCS)« nicht mehr als 16 oberirdische. Erfahrungen mit ETCS in der Schweiz und Norwegen belegen, dass die Sicherheit steigt, aber die Leistungsfähigkeit nicht.2 Aus dem unterdimensionierten Tunnelbahnhofsystem ist kein leistungsfähiger Bahnknoten zu machen: »Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zu Rande.«, hat dazu ex-SBB-Chef Benedikt Weibel Goethe zitiert.
Dazu kommt: Der Untertürkheimer Abstellbahnhof, der das heutige Gleisvorfeld ersetzen soll, wird weniger leisten können als behauptet. Künftig müssten Züge zur Außen-Reinigung 100 km nach Ulm gefahren werden – mit zusätzlichen Kosten und zusätzlichen CO2-Emissionen für Leerfahrten.
Krise 5: Finanzierungslücken im Stadt-Haushalt: Der Stuttgarter Finanzbürgermeister hat eine Übersicht über die Kosten städtischer Investitionsprojekte vorgelegt, in der Summe 7,5 Milliarden Euro, die nicht finanziert sind. Projekte müssen gestrichen werden. Allein für die Erschließung des bisherigen Gleisvorfelds für den Wohnungsbau im sogenannten Rosensteinquartier müssten 1,6 Milliarden Euro aufgebracht werden. Die gesamten Baukosten von Stuttgart21, die vor der Volksabstimmung 2011 mit maximal 4,5 Milliarden Euro deklariert wurden, haben sich nahezu verdreifacht und werden weiter steigen, mit dem Potenzial, so der Bundesrechnungshof, die Bahn in ihrer Existenz als Ganzes zu gefährden.
Nachdem nahezu sämtliche Träume geplatzt sind, stellt der Wohnungsbau auf dem Gleisvorfeld das letzte Aufgebot der Projektbefürworter dar. 4700 bis 5700 Wohnungen werden versprochen, 70 Prozent gefördert. Dagegen wies der Zensus 2022 einen Leerstand von 11.142 Wohnungen in Stuttgart aus, 4100 davon seit mehr als einem Jahr.
Krise 6: AEG: Neue Gesetzeslage: Im November 2023 beschloss der Bundestag mit den Stimmen von SPD und Grünen, auch im Bundesrat ohne Widerspruch von Hermann (Grüne) und Innenminister Thomas Strobl (CDU)eine Novellierung des Allgemeine Eisenbahngesetzes (AEG). Paragraf 23 »Freistellung von Bahnbetriebszwecken« erlaubt künftig Entwidmungen – sprich: Verkauf und Umnutzung – von Bahnverkehrsflächen nur noch bei »überragendem öffentlichem Interesse«. Wohnungsbau gehört nicht dazu. Eine überfällige Maßnahme, mit der Bahnverkehrsflächen für die Schiene reserviert und vor Spekulationsinteressen geschützt werden. Das sorgt für Aufruhr. Stadtspitze und Bauwirtschaft arbeiten daran, das Entwidmungsverbot zu kippen. SPD und CDU/CSU haben Änderungsentwürfe angekündigt und erkennen lassen, dass es dabei um eine »Lex Stuttgart21« geht. Verkehrsminister Hermann sekundiert den Befürwortern einer Lex Stuttgart21 und redet vo n »Vertrauensbruch«, würde das Gleisvorfeld vor Entwidmung und Bebauung geschützt bleiben.3
Die Novelle leitet eine neue Etappe im Kampf um die Erhaltung des oberirdischen Kopfbahnhofs ein. Seit Juli 2024 liegt seitens der Deutschen Umwelthilfe (DUH) und der Gewerkschaft GDL ein Plan B vor, nach Inbetriebnahme der unterirdischen Gleise die oberirdischen des Kopfbahnhofs zu erhalten. Mit ihrer Klage auf unterbrechungsfreien Anschluss der Bahnmagistrale Stuttgart – Singen – Zürich – Mailand hatte die DUH bereits 2023 den ersten Schritt getan. Bis weit ins Lager der CDU hat sie inzwischen zahlreiche Bürgerinitiativen entlang der Gäubahnstrecke mobilisieren können. Nur so sei eine ökologische Verkehrswende erreichbar. Plan B – also dauerhaftes »Oben bleiben« und schauen was »Unten« kann – ist ein Coup gegen das »Augen zu und durch«-Prinzip eines Weiterbaus entgegen allen technischen, wirtschaftlichen und politischen Widerständen.
Fazit: Trotz eines möglichen Aus für die Bebauung des Rosensteinviertels besteht wenig Hoffnung auf ein baldiges Ende von Stuttgart21, aber »There ist a crack in everything, that‘s where the light comes in!« Leonard Cohen sang diese Zeilen am Abend des Schwarzen Donnerstags am 30. Oktober 2010 in Stuttgart. Winfried Wolf hat sie immer wieder zitiert.
Die Bewegung für den Erhalt der oberirdischen Gleise hat sich mit mächtigen Kapitalgruppen angelegt, denen noch die unsinnigste Baumaßnahme recht ist, solange daran zu verdienen ist und Milliarden öffentliches Geld in private Kassen geleitet werden. Doch die Risse in ihrem scheinbar unbezwingbaren Konstrukt aus Geld, Beton und Stahl sind unübersehbar. »There is a crack in everything, that‘s where the light comes in!«
Winnie Wolfs »Kultur des Widerstands« ist eine bleibende Aufforderung an uns. Wir vermissen ihn schmerzlich, seine Kompetenz, seine Hilfsbereitschaft, seine klugen Reden auf unseren Kundgebungen. Danke Dir Winnie, wir hätten es Dir so sehr gegönnt, das »absehbare Scheitern« des Klima-, Bahn,- und Stadt zerstörenden Tunnelprojekts mit uns zu erleben!
Angelika Linckh, Gynäkologin, Psychologin, Feministin, und Tom Adler, langjähriger Betriebsrat bei Daimler und ehemaliger Stadtrat, engagieren sich im Bündnis gegen Stuttgart21 für soziale und Klima-Gerechtigkeit
Anmerkungen:
1 Die Welt, 10.5. 2024: »…eine erhebliche Mitverantwortung dafür trägt eine politische Öffentlichkeit, in der während des jahrzehntelangen Streits nicht Argumente, sondern Klischees zählten.«
2 www.lok-report.de/news/europa/item/53602-norwegen-etcs-droht-zum-doppelten-fiasko-zu-werden.html
3 https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.neue-regeln-fuer-frei-werdende-bahnflaechen-s-21-hermann-warnt-vor-vertrauensbruch.7f4cae63-5ee4-4ff1-9965-f87ce832fa6d.html