Mikrokredite: Geschäft mit der Armut

Therese Wüthrich in Lunapark21 – Heft 30

Mutige Marokkanerinnen aus der Region Ouarzazate setzen sich seit 2011 gegen Mikrokredit-Institutionen zur Wehr. Der Grund: Vertrauensmissbrauch und unhaltbare Kreditbedingungen. Mit ihrem Kampf konnten sie entlarven, dass das praktizierte Mikrokreditsystem ausbeuterisch ist und nicht dazu beiträgt, Armut zu überwinden. Leidtragend sind vor allem Frauen und ihre Familien. Eine Gruppe von ihnen hat am Weltsozialforum 2015 in Tunis Ende März in einem Workshop darüber berichtet.

Wie viele Tourismusregionen ist auch die Gegend von Ouarzazate und das ganze Tal von Dadés im südlichen Marokko von der Krise vor allem im Hotelgewerbe betroffen. Das ist ein Grund, weshalb sich dort Mikrokredit-Institutionen niedergelassen haben, die die Krise auf Kosten der Frauen ausnutzen wollen.

Neoliberalismus = Frauenarmut
Jene Zeiten gehören der Vergangenheit an, als der Vater das Geld nach Hause brachte und es der Mutter gab, damit sie die Kinder großzieht und sich um die Hausarbeit kümmert. Massive Erwerbslosigkeit, Flexibilisierung der Arbeit und die Zunahme von unsicheren Arbeitsverhältnissen sind zum Alltag geworden. Herkömmliche Familienstrukturen sind zerbrochen: Väter sind in eine Krise verfallen, Frauen gingen aus dem Haus, um nach Einkünften zu suchen. Sie gaben so der Wirtschaft und dem Familienverständnis ein neues Gesicht. Kurz, Frauen sind gezwungen, sich dem neoliberalen Arbeitsmarkt auszuliefern. Ihre mangelnde Erfahrung, fehlendes Wissen um ihre Rechte und ihr Analphabetismus werden sogar als Vorteil angesehen.

Demzufolge kommt den Frauen die Rolle zu, in erster Linie das Überleben ihrer Familie zu sichern. Diese Situation wird von Mikrokredit-Institutionen schamlos ausgenutzt: Die Frauen werden zu Mikrokrediten überredet, die ihnen angeblich zu Einkünften verhelfen, was mehr als zynisch ist. In der Realität ist weder bezahlte Arbeit vorhanden noch wird es Anstellung und Lohn geben. Hingegen nehmen die Ausbeutung und das Elend der Frauen zu.

Das ausgeliehene Geld müssen die Kreditnehmerinnen mit exorbitanten Zinsraten begleichen, offiziell zwischen 14 und 18 Prozent – angeblich um Unkosten und hohen Verwaltungsaufwand zu finanzieren. Die Frauen von Ourazazate berichten aber, dass die Zinsraten nicht selten mit bis zu 40 Prozent belastet werden. Zudem werden die Laufzeiten von Schulden nicht verlängert. Auf schwerwiegende Ereignisse, die unvorhergesehen eintreten können, wird keine Rücksicht genommen. Zudem wurde eine „solidarische Schuldhaftung“ geschaffen, die verlangt, dass in einer Gruppe von Frauen jede von ihnen für andere herhalten muss.

Der Kampf der Frauen
Die Frauen von Ourazazate berichten von Stress, von Ängsten, von Pfändungen und Prozessen. Zur bisher erlebten Armut kommen Verschuldung, Druck der Rückzahlungsverpflichtungen hinzu. Die Folgen sind oft Zerstörung der Familie, Prostitution oder Selbstmord.

Gemeinsam haben die Frauen erkannt, dass sich hinter dem Geschwätz vom Kampf gegen Armut ausufernde Gewaltausübung gegen mittellose Menschen versteckt. Mikrokredite schmälern unverhältnismäßig die mageren Einkünfte. Sie haben zudem erkannt, dass Verschuldung kein individuelles, sondern ein kollektives und soziales Problem ist und demzufolge entsprechende Lösungen gefunden werden müssen, wie Zugang zu kostenlosen Dienstleistungen, Schaffen von Erwerbsarbeitsplätzen und Arbeitsrechten, eine selbstverwaltete Bank. Es geht um soziale und ökonomische Rechte, die diese Namen verdienen. Die Frauen sind sich ihrem gemeinsamen Interesse bewusst geworden: Sie haben sich in der Association de Protection Populaire pour le Développement Social (Verband zum Gemeinschaftlichen Schutz von sozialer Entwicklung) zusammengeschlossen. Gemeinsam wollen sie gegen Kriminalisierung von Mikrokredit-Opfern wie gegen die neuen Blutsauger unter der Maske von Nächstenliebe und Feminismus kämpfen.

Therese Wüthrich ist im März 2015 mit der Delegation aus der Schweiz zum Weltsozialforum nach Tunis gereist. Das WSF stand unter dem Motto „Recht und Würde“. Auffallend viele Frauen aus dem Maghreb und muslimischen Ländern haben als Teilnehmerinnen wie Referentinnen teilgenommen. Therese Wüthrich lebt in Bern.

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