Der „Maya-Zug“ auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán
Es ging durch die internationale Presse. Im Bade- und Touristenort Tulum an der mexikanischen Karibikküste lieferten sich verfeindete Drogenbanden am 20. Oktober eine nächtliche Schießerei in einer kleinen Bar. Zwei unbeteiligte Gäste auf der Terrasse kamen ums Leben, darunter eine Deutsche.
Tulum ist zuletzt explosionsartig gewachsen, wie dies in den Jahrzehnten zuvor erfolgte im Fall von Cancún und Playa del Carmen, zwei weiteren Städten an der Riviera Maya. Die Gewalt wuchs mit. Die Touristen, oft in All-Inclusive-Hotels isoliert untergebracht, bekommen davon nur in Ausnahmefällen etwas mit. Die einheimische und auf der Suche nach Arbeit zugereiste Bevölkerung kann jedoch nicht entfliehen.
Ähnliche Zustände könnte es bald an vielen weiteren Orten auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán geben, fürchten viele indigene und kleinbäuerliche Gemeinden. Sie haben Angst vor dem „Maya-Zug“. Sein Bau ist bereits in vollem Gange. Die derzeit durch Europa reisende große Delegation der indigenen zapatistischen Widerstandsbewegung spricht von einem „Projekt des Todes“.
Der Maya-Zug ist eines der Prestigevorhaben der sich selbst als links bezeichnenden Regierung unter Präsident Andrés Manuel López Obrador. Die Parallelen zum interozeanischen Korridor am Isthmus von Tehuantepec, beschrieben in Lunapark21 Nr. 53, sind auffällig.
Im Namen des Fortschritts sowie wegen angeblich besserer Beschäftigungsmöglichkeiten für die Bevölkerung steht die territoriale Neuordnung eines riesigen Gebietes bevor. Reaktivierte Gleisstrecken sowie drei lange Neubau-Abschnitte unterteilt in Golf-, Karibik- und Regenwaldzone sollen sich zu einem 1500 Kilometer langen Schienennetz auf der Halbinsel Yuacatán (mit den Bundesstaaten Yucatán, Quintana Roo, Campeche) sowie den Bundesstaaten Chiapas und Tabasco zusammenfügen (siehe Karte).
Das Wort Netz ist irreführend. Denn auf der Halbinsel handelt es sich um einen Rundkurs, der touristische Sehenswürdigkeiten wie Nationalparks, Pyramiden und die für die Region typischen Karstgewässer abfährt. Geplant sind vorerst 19 Bahnhöfe und elf weitere einfache Haltestellen. Jährlich sollen bald mehrere Millionen Touristen mit einer angepeilten Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h über die Route geschleust werden.
Umweltzerstörung und Migrationsbekämpfung
Der lokale Personenverkehr – zu günstigeren Tarifen und in anderen Fahrklassen – wird laut Planung mit Gütertransport kombiniert. Das Investitionsvolumen aus privaten und öffentlichen Quellen: umgerechnet etwa 6 Milliarden. Im Umfeld der Bahnhöfe und Sehenswürdigkeiten ist die Entwicklung „nachhaltiger“ Gemeinden vorgesehen. Dazu kommen mehrere kleine Flughäfen sowie der Straßenausbau. Wie bei den meisten anderen Großprojekten der aktuellen Regierung ist ein Bau-Abschluss für Ende 2023 angestrebt. Ein politischer Termin. Danach wird bis zu den allgemeinen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen Mitte 2024 der Wahlkampf voll entbrennen. Wie beim interozeanischen Korridor ist das Militär für den Bau mehrerer Streckenabschnitte zuständig. Ihnen will Präsident López Obrador als Hemmnis gegen spätere Privatisierungsversuche den Betrieb der Strecke unterstellen.
Die Liste der Bedenken gegen den Maya-Zug ist lang: zum einen aus ökologischer Sicht. Im Abschnitt durch den Regenwald wird kräftig gerodet. Ein weiterer Einwand: Der poröse Karstboden könnte einer Dauerbelastung durch die Bahnstrecke nicht standhalten. Die enormen Grundwasserreserven auf der Halbinsel sind durch ein einzigartiges unterirdisches Fluss-System verbunden. Wasserverschmutzungen durch Bevölkerungs- und Industrieansiedlungen im Kontext des Vorhabens könnten sich schnell über ein weites Gebiet ausweiten. Mitte 2020 tauchten Informationen auf, die gesamte Strecke werde mit Dieselloks befahren. Die zuständige Behörde Fonatur dementierte: Man habe immer die Möglichkeit einer Elektrifizierung der Strecke „in Betracht gezogen“. Zum Betriebsstart würden 40 Prozent der Strecke elektrifiziert sein. „Dies spiegelt unsere Verpflichtung gegenüber dem Umweltschutz und der Energieeffizienz wider.“ Kommentar überflüssig. Die Stromquel len sind bisher nicht wirklich klar. Saubere Energie wird es eher nicht sein.
Die Auswirkungen auf die Bevölkerung sind vorhersehbar. Im nahen Einzugsbereich der Bahnstrecke gibt es etwa 1500 indigene (überwiegend mayas, aber auch tseltal, ch’ol, jakalteko, awuakateko und akateko) und 533 in sogenannten Ejidos organisierte Agrargemeinden. Die Beispiele Cancún, Playa del Carmen und Tulum zeigen: Die touristische Entwicklung kann aus kleinen Gemeinden innerhalb weniger Jahrzehnte zum Teil unkontrollierbare Städte machen. Die boomende Bauindustrie hat dort zehntausende Menschen aus allen Landesteilen angelockt. Sie siedeln sich unter prekären Bedingungen und ohne lokale Verwurzelung an. Wachstum und die touristische Klientel haben die Präsenz rivalisierender Drogenkartelle und des organisierten Verbrechens nach sich gezogen. Der Ausbau der Infrastruktur wird Industrievorhaben in der Region attraktiver machen und die Sozialstruktur stark verändern. Schon jetzt leiden Gemeinden unter der Invasion riesiger Schweinemastbetriebe in ihrer Näh e. Die hervorgehobene Stellung und Präsenz der Militärs eignet sich gleichzeitig zur Bevölkerungs- und Migrationskontrolle. Wie beim interozeanischen Korridor wird offen ausgesprochen, dass die „Entwicklung“ der Region durch den Maya-Zug auch dazu dienen soll, die Migrationsbewegungen Richtung USA aufzuhalten.
Deutsche Bahn als Legitimation
Widerstand gegen den Maya-Zug gibt es in vielen organisierten Gemeinden. Sie haben Streckenverlegungen und Baustopps erreicht. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Maya-Zug auch Zuspruch vor Ort erfährt. Spätestens seit Beginn der 1990er-Jahre wurden die Grundlagen für eine mittelständische, kleinbäuerliche und indigene Landwirtschaft in Mexiko systematisch zerstört. Lohnarbeit im Rahmen des Streckenbaus sowie die Aussicht auf Touristenströme ist für viele Bewohner eine Option – gezwungenermaßen. Der Bereitschaft, dem Maya-Zug zuzustimmen, wird durch staatliche Investitionen und Sozialprogramme in den 43 Landkreisen, durch die die Strecke führen soll, nachgeholfen. Belegt hat das unter anderem das Studienzentrum für den Wandel im Mexikanischen Landbau (Ceccam), aus dessen Veröffentlichung (icayautohttp://www.crisisclimaticayautonomia.org/documentView/36) auch die Karte stammt. Die Regierung streitet diesen Zusammenhang au ch nicht wirklich ab. Die vorgeschriebene vorherige, freie und informierte Befragung der indigenen Gemeinden genügt den in der ILO-Konvention 169 und anderen internationalen Rechtsinstrumenten festgelegten Standards nicht. Dennoch spricht die Nationale Behörde für die Indigenen Völker (INPI) von nahezu „einhelliger“ Zustimmung der Gemeinden. Eine bewusste Realitätsverleugnung.
Die pikante Note aus deutscher Perspektive ergibt sich durch die Beteiligung der Deutschen Bahn über ihre DB Consulting & Engineering am Maya-Zug. Das Auftragsvolumen von 8,6 Millionen Euro ist im Verhältnis zur Gesamtinvestition in das Projekt minimal. Doch als sogenannter „Schattenbetreiber“ im Zeitraum 2020 bis 2023 interveniert die Deutsche Bahn durchaus stark hinsichtlich zukünftiger Betriebsabläufe. Für die mexikanische Regierung erfüllt die „angesehene“ DB eine Legitimationsfunktion. Über die DB Consulting & Engineering unterstützt sie ein Vorhaben, von dem hohe ökologische Risiken ausgehen und das Menschenrechte verletzt, indem es unter anderem die ILO-Konvention 169 nicht respektiert. Eine Konvention, die die Bundesrepublik Deutschland, öffentlicher Eigentümer der DB, übrigens nach jahrelangem Hinauszögern erst im April 2021 unterschrieben hat.
„Nichts mit Gewalt, alles nach Vernunft und Recht“, gibt die mexikanische Regierung offiziell vor. Aber sie hat, allen voran López Obrador, klar gemacht, den Maya-Zug auf jeden Fall durchsetzen zu wollen.
Gerold Schmidt lebt in Mexiko und ist seit Gründung dieser Zeitschrift aktiv im LP21-Team.