Es geht auch anders – Der Gemeindebau lebt

BLOCK 4: GESCHICHTE

100 Jahre Rotes Wien

„Im Gemeindebau hat Koglmann nicht so viele Kontakte; Ingrid ist eindeutig mehr Außenminister als er, weiß viel über die NachbarInnen zu erzählen. Sie freut sich, dass die Leute so verschieden sind. Auch, weil es so viele Nationalitäten gibt. ‚Nebenan wohnt eine mazedonische Familie. Das sind richtige Aufsteiger, in der dritten Generation jetzt. Der Sohn hat studiert. Seine Kinder sind voll integriert. Es wohnen auch zwei Philippinas im Gemeindebau, Frauen, die von ihren Männern verlassen worden sind. Sie haben gleich, nachdem sie hier angekommen sind, eine Ausbildung zur Krankenbetreuerin begonnen. Ihre Kinder studieren.‘ Dann gibt es eine türkische Familie aus dem tiefsten Anatolien, AnalphabetInnen. Wenn die Frauen untereinander in der Waschküche reden, erfährt Ingrid etwas über deren Welt: Vor allem die Männer haben unglaubliche Vorstellungen. Im Haus wohnt auch eine Istanbulerin, die die Allüren ihres autoritären Mannes nicht mehr ertrug und sich scheiden ließ. ‚Sie ist eine unglaublich städtische, liberale Türkin, die es überhaupt nicht versteht, dass Österreich das Kopftuchverbot nicht durchgezogen hat.‘ Und dann ist da noch ein kurdischer Kommunist aus dem Irak, der sich seine Frau auf dem Heiratsmarkt gekauft hat.“1

Die Szene spielt im fünften Wiener Bezirk. Eingefangen wurde sie von den beiden Journalisten Uwe Mauch und Franz Zauner, die den weltbekannten Komponisten und Jazzmusiker Franz Koglmann in seiner Gemeindebauwohnung besuchten. Hier, auf der 2er-Stiege, die der 70jährige Wiener „Ringstraße des Proletariats“ nennt, schreibt er seine Weltmusik.

Der Wiener Gemeindebau feiert gerade seinen 100sten Geburtstag. Im Jahr 1919 hat die Stadt an der Donau mit dem sozialen Wohnbau begonnen. In Windeseile entstanden 65.000 Wohnungen. Heute leben 500.000 Menschen in kommunalen Bauten, bei einer Gesamteinwohnerzahl von 1,9 Millionen.

Die Hausbesitzerklasse wird geopfert

Begonnen hat alles unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. Wie in vielen deutschen Großstädten gab es auch in Wien Versuche zur Installierung einer Räterepublik. Als am 12. November 1918 vor hunderttausenden Demonstranten am Wiener Ring die Republik „Deutsch-Österreich“ ausgerufen wurde, besetzten Rotgardisten unter der Führung des Prager Schriftstellers Egon Erwin Kisch die Redaktion des Bürgerblattes Neue Freie Presse und ließen einen revolutionären Text drucken. Zuvor wollten sie beim Parlament das Weiße aus der Rot-Weiß-Roten Fahne reißen. Die Errichtung einer Räterepublik scheiterte, die Radikalität der deutsch-österreichischen Arbeiter- und Soldatenräte saß der Sozialdemokratie allerdings in den Knochen, umso mehr, als die junge kommunistische Bewegung in der nahen ungarischen Räterepublik des Bela Kun ein Vorbild sah.

Entsprechend radikal und bestimmt reagierte die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“ (SDAP). Als sie bei der ersten freien Gemeinderatswahl am 4. Mai 1919 mit 54 Prozent Zustimmung einen klaren Sieg über die bürgerlichen Kräfte feierte, legte sie ein umfassendes Sozialprogramm auf. Das Ziel war die Verbesserung der konkreten Lebensverhältnisse der Arbeiter und Arbeitslosen. Dafür beschlossen Bürgermeister Jakob Reumann und seine Genossinnen und Genossen Mieterschutz, Arbeitslosenunterstützung, einen Acht-Stunden-Arbeitstag, bezahlten Urlaub, Kinder- und Gesundheitsfürsorge und ein eigenes Betriebsrätegesetz, das den Soldaten- und Arbeiterräten den Wind aus den Segeln nehmen sollte. Ideologisch gesehen war es die Geburtsstunde des Austromarxismus, materiell basierte die Politik der Sozialdemokraten auf einem sozialen Wohnungsbauprogramm, das seinesgleichen in ganz Europa suchte.

Zeitgleich mit den immensen Anstrengungen, leistbaren Wohnraum für alle zu schaffen, verordnete die Wiener Stadtverwaltung das Einfrieren der Mieten auf dem Vorkriegsstand von 1913. Die dazwischenliegende Hyperinflation kam einer Enteignung der Vermieter gleich. Anstelle des Marktes regierte nun der kommunale Wohnbau. Extrem niedrige Mieten waren aber auch eine Art indirekter Vorleistung für Industriebetriebe, denen es damit ermöglicht wurde, niedrige Löhne an Arbeiter zu bezahlen, weil deren Lebenskosten gering waren.

Ein Viertel der Wiener wohnt „kommunal“

Der wohl berühmteste Wiener Gemeindebau steht unweit der Donau im 19. Bezirk. Der Karl-Marx-Hof erstreckt sich über eine Länge von einem Kilometer und ist wie alle anderen kommunalen Bauten der Zwischenkriegszeit luftig gebaut. Große, mit Bäumen bepflanzte Innenhöfe dominieren und stellen die Antithese zu den engen privat errichteten Mietskasernen der Vorstädte dar. Der Wiener Architekturhistoriker Helmut Weihsmann hat dem Gemeindebau der Jahre 1919 bis 1934 ein publizistisches Denkmal gesetzt. Sein Buch „Das Rote Wien“2 führt nach einer sozialpolitisch gehaltenen Einleitung durch die 23 Bezirke der österreichischen Hauptstadt und macht die einzelnen Höfe begehbar. Ihre Namen tragen noch den Geist einer revolutionären Zeit. Sie heißen unter anderem nach Friedrich Engels, Rosa Luxemburg, Giacomo Matteotti oder Jean Jaurès.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die sozialdemokratische Stadtverwaltung ihr Wohnbauprogramm fort. Nun waren es allerdings nicht mehr festungsartig, in qualitativem Mauerbau errichtete Anlagen, sondern billige, meist am Rande der Stadt in die Höhe gezogene Siedlungen. Seit die Europäische Union im Jahr 2006 die Öffnung kommunal errichteter Wohnungen auch für Nicht-Österreicher erzwungen hat, hat sich das Mieterprofil des typischen Gemeindebaus dramatisch verändert. Waren es zuvor Plätze mit einer fast ausschließlich österreichischen Wohnbevölkerung, so sind daraus mittlerweile multikulturelle Einrichtungen geworden. Erst in jüngster Zeit gibt es einen Versuch von Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ), bereits länger in der Stadt lebende Menschen vor Neuankömmlingen zu bevorzugen. Auch gibt es eine Debatte darüber, ob Menschen, die im Laufe ihres Berufslebens so erfolgreich sind, dass sie keine geförderte Wohnung mehr benötigen, aus dem Gemeindebau ausziehen sollen. Das Argument, damit eine soziale Durchmischung zu gefährden und Ghettobildung zu provozieren, steht dagegen.

Die Stadt Wien ist mit 220.000 Wohnungen der größte Eigentümer von Wohnraum. Sie hat nach einem kurzen Baustopp Anfang der Nuller-Jahre, als Brüssel den kommunalen Wohnbau als „wettbewerbsverzerrend“ kritisiert hatte, 2015 wieder mit einem neuen Bauprogramm begonnen, tritt aber nun meist nicht mehr selbst als Bauherr auf. Nichts destotrotz befinden sich die neuen Gemeindewohnungen, wie die alten, über zwei dafür zuständige Baugesellschaften zu 100 Prozent im Eigentum der Stadt Wien. Die Wohnungen werden entlang einer Bedarfsprüfung nach Bedürftigkeit vergeben. Aktuell beträgt die Bruttomiete 7,50 Euro pro Quadratmeter, ist unbefristet und kautionsfrei.

Der Schriftsteller Erwin Riess ist einer von 500.000 Menschen, die in Wien im Gemeindebau leben. Er schildert, wie man sich in seinem großen Hof verirren kann. „Je größer der Gemeindebau, desto rätselhafter die Anordnung seiner Stiegen. Eine Herausforderung ist in dieser Hinsicht der Ernst-Theumer-Hof. Dort spielen die Stiegen Verstecken. Die Wohnhausanlage in Floridsdorf ist riesig, sie tut aber so, als wäre sie klein. Labyrinthisch laufen verschachtelte Reihenhaus-Zeilen um schmale Plätze, zu denen enge Gassen führen. Die Mitte ist wie ein Anger angelegt, die Architekten nahmen sich die Idylle niederösterreichischer Dörfer zum Vorbild. Da scheint es nur konsequent, dass sie auch jenes Hausnummern-Chaos, das draußen auf dem Lande so natürlich wuchert, planvoll in der Wohnanlage inszenierten. (…) Die Häuser sammeln sich in sechs Quartieren, die gegen den Uhrzeigersinn durchnummeriert wurden. In der 1983 bis 1985 errichteten Wohnhausanlage der Stadt Wien, einer der letzten ihrer Art, sollten die etwa 4000 BewohnerInnen sechs Mieterkomitees zugeordnet werden. ‚Um sie dann gegeneinander auszuspielen‘, sagt Riess. Doch daraus wurde nichts. Alle MieterInnen vereinigten sich nach einer ‚ordentlichen Streiterei mit der Gesiba‘ – der städtigen Hausverwaltung (d.A.) – in einem einzigen Mieterkomitee.“3

Der Wiener Gemeindebau lebt auch im 101. Jahr seines Bestehens. Mehr als ein Viertel der städtischen Wohnbevölkerung ist darin zu Hause. Das Bewusstsein, Teil einer der größten Sozialeinrichtungen Europas zu sein, ist nicht mehr so ausgeprägt wie am Beginn der kommunalen Bautätigkeit. Es ist einer zeitgeistigen Selbstverständlichkeit gewichen. Solange die sozialdemokratische Stadtverwaltung keine Pläne für eine Privatisierung der Anlagen hegt, und ein solcher Plan existiert nicht, bleibt Wohnen in Wien für viele eine „rote“ Angelegenheit.

Hannes Hofbauer, geboren 1955 in Wien, Studium der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Publizist, Verleger

Anmerkungen:

1 Aus: Uwe Mauch/Franz Zauner, Im Gemeindebau. 23 Geschichten aus Wien. Promedia Verlag. Wien 2017, S. 47

2 Helmut Weihsmann, Das Rote Wien. Sozialdemokratische Architektur und Kommunalpolitik 1919 – 1934. Promedia Verlag. Wien, 3. Auflage 2019. Siehe auch die Seite U3, die hintere Innenseite des Heftumschlags.

3 Aus: Uwe Mauch/Franz Zauner, Im Gemeindebau. 23 Geschichten aus Wien. Promedia Verlag. Wien 2017, S. 111