Eingeblättert:

Internationales Finanzsystem

Mitte 2022 befindet sich die Weltökonomie in einem ausgesprochen labilen Zustand. Dieser hat fünf Charakteristika:

Erstens gibt es enorme Blasen der Spekulation, die deutlich angepiekst sind. So hatte der Markt mit Kryptowährungen bis Ende 2021 das gigantische Volumen von drei Billionen US-Dollar erreicht. Bis Mitte Juni ist er auf weniger als 1 Billion oder auf ein Drittel geschrumpft. Der Kurs der führenden Kryptowährung, derjenige von Bitcoin, lag im November 2021 noch bei 69.000 Dollar. Mitte Juni liegt er unter 20.000 Dollar. Dies wird ergänzt durch die Blasenerscheinungen im chinesischen Immobilienmarkt, über die wir in LP21 (so in den Heften 55 und 53) mehrfach berichteten und die anhalten.

Zweitens befinden sich mehrere Länder in einer tiefen Krise. Der Libanon, El Salvador und Sri Lanka erleben eine Staatspleite. In der Türkei gibt es mehr als 70 Prozent Inflation und einen Verfall der Lira. Russlands Wirtschaft erleidet 2022 eine deutliche Rezession. Die westlichen Sanktionen und die enormen Kosten des Kriegs können auch zu einer technischen Zahlungsunfähigkeit führen.

Drittens werden in Folge der Zero-Covid-Politik in China, teilweise ergänzt um die Folgen des Ukraine-Kriegs, die Lieferketten der globalen Wirtschaft immer wieder aufs Neue unterbrochen. Die Frachtraten erreichen Rekordhöhe; hunderte Containerschiffe liegen wochenlang vor Häfen wie Schanghai oder Hamburg.

Viertens gibt es weltweit eine Inflation, die vom Trab in den Galopp zu wechseln droht. Weswegen – fünftens – die Zentralbanken begonnen haben, ihre Politik zum Aufkauf von Staatsanleihen zu beenden und die Leitzinssätze anzuheben. All dies lässt das Handelsblatt (13.6.) schrei-ben: „Der globale Abschwung ist jetzt nicht mehr aufzuhalten.“ Die Zeitung hat dann auch einen interessanten Zeugen, worauf dies hinausläuft, und schreibt: „´Wir werden ärmer werden´, sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. […] Wenn sich die Wirtschaftspolitiker auf eine möglichst weiche Landung in dieser harten Realität bemühen, müssen sie auch darauf achten, dass die Fallschirme gerecht verteilt werden.“ Es bleibt die Frage, wie es dazu kommt, dass eine liberale Wirtschaftszeitung bei der Ampel-Regierung soziale Gerechtigkeit einklagt.

Verändert die Entscheidung der Fed die Welt?

Die US-Notenbank Fed habe Mitte Juni „die Brechstange hervorgeholt“, weswegen jetzt „die Finanzmärkte nervös reagieren“. So urteilte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (17.6.). Aufgrund der im Mai bei 8,6 Prozent liegenden Inflationsrate hob die Fed am 16. Juni den Leitzins um 0,75 Prozentpunkte an. Zwar gab es auch bei anderen Zentralbanken (EZB, Schweiz, Großbritannien) Schritte hin zur „Zinswende“ – erstmals seit vielen Jahren kehren die Leitbanken von der Nullzinspolitik, einer Politik des billigen Kredit-Geldes, ab – doch die Entscheidung in den USA gilt im Wortsinne als weltbewegend. Einmal, weil die USA weiterhin der wichtigste Markt und die US-Börsen die weltweit führenden sind. Zum anderen, weil die Anhebung des Zinssatzes wesentlich höher ausfiel als erwartet und auch höher als anderswo. Es handelt sich um die höchste Fed-Leitzinserhöhung seit 28 Jahren. Mit ihr will Fed-Chef Jerome Powell die heiß laufende Konjunktur de r US-Wirtschaft ausbremsen und eine „weiche Landung“ vorbereiten. Wobei unter den gegebenen Bedingungen einer insgesamt labilen Lage niemand weiß, ob es eine weiche oder eine harte Landung geben wird – und welche Folgen dies für die Weltwirtschaft hat. Die kluge und meist eher zurückhaltende Ökonomin Ulrike Hermann lässt in der taz (19.6.) ihre Analyse zur Fed-Entscheidung in die zwei Sätze münden: „Es klingt wie eine harmlose Nachricht, dass die Leitzinsen in den USA auf 1,5 Prozent steigen sollen. Aber diese Entscheidung kann die ganze Welt verändern.“


EU „am Rande der Rezession“

Der regelmäßige FAZ-Konjunkturbericht vom 3.6. ist überschrieben mit: „Europas Wirtschaft steht am Rande der Rezession“. Die Unterzeile lautet: „Noch stützen Dienstleister die Konjunktur. Doch die Gefahr ist groß.“ Der Bericht beschreibt eine „stark gespaltene Wirtschaft“. Auf der einen Seite gibt es noch ein Wachstum, vor allem im Bereich Tourismus. Auf der anderen Seite „ächzt die Wirtschaft unter anhaltenden Lieferkettenproblemen“ und leidet in Folge des Ukrainekriegs unter „steigenden Rohstoffpreisen“. Das Blatt schrieb bereits am 3.6., es drohe „ein Gaslieferstopp durch Russland“ – eine Woche später hat Moskau bereits den Hahn für Gasexporte nach Deutschland erheblich zugedreht – weswegen „das gesamte wirtschaftliche Umfeld in der zweiten Jahreshälfte schwieriger werde“. Die führende Wirtschaft in Westeuropa, die deutsche, konnte im ersten Vierteljahr 2022 gerade mal ein BIP-Plus von 0,2 Prozent erziel en. Wobei das damit erreichte Niveau um 0,9 Prozent unter demjenigen vom 4. Quartal 2019, also vom Vor-Corona-Stand, liegt. Da das 4. Quartal 2021 ein (kleines) Negativ-Ergebnis hatte, bedeutet das Mini-Plus im ersten Quartal, dass man zumindest rein formal knapp an einer Rezession vorbeischrammte. Für das 2. Quartal erwartet das Deutsche Institut für Wirtschafsforschung (DIW) einen neuerlichen BIP-Rückgang. Dabei sind die beschriebenen Negativ-Entwicklungen von Mitte Juni – die Fed-Zinswende und der Rückgang der Gas-Importe – noch nicht berücksichtigt.


Neue gefährliche Drift innerhalb des Euro-Raums

Noch vor einer echten Rezession in Europa droht auch in dieser Region eine neue Finanzkrise. Ähnlich wie vor einem Jahrzehnt bei der Euro-Krise, als Griechenland, Spanien, Zypern, Irland und Portugal in eine tiefe Strukturkrise gerieten und die EU harte Sparprogramme aufzwang, bildet auch jetzt das erhebliche wirtschaftliche Gefälle in der EU den Hintergrund für die neuen Krisenerscheinungen. Wobei die vorausgegangene Pandemie bereits dazu beitrug, dass die öffentlichen Schulden in Ländern wie Italien und Frankreich neue Höchststände erleben. Dies wiederum führt dazu, dass für die jeweiligen Staatsanleihen unterschiedlich hohe Zinsen zu zahlen sind: eher niedrige in Deutschland, Österreich oder in den Niederlanden, und deutlich höhere in Italien oder Spanien. Es öffnet sich ein „spread“, eine Lücke zwischen diesen eher guten und eher schlechten Staatsanleihen. Dieser „spread“ vergrößerte sich Mitte Juni mit der beschriebenen Z inswende und mit dem angekündigten Stopp der Anleiheaufkäufe durch die EZB. In der britischen Financial Times (16.6.) heißt es dazu: „Die Befürchtungen hinsichtlich der schwächeren Länder in der Eurozone haben sich seit dem vergangenen Donnerstag (9.6.; d. Red.) verstärkt, als die EZB angesichts der hohen Inflationsraten ankündigte, dass sie zum ersten Mal seit 2011 die Zinsen anheben werde.“ Der Ifo-Chef Clemens Fuest warnte: „Die steigenden Zinsen und die wachsenden Zinsdifferenzen könnten zu einer Lage führen, wie sie in der Euro-Krise bestand.“ (Handelsblatt vom 16.6.).


Maastricht-Kriterien sind das Papier nicht wert

In der EU gelten sogenannte Maastricht-Kriterien. Danach dürfen die addierten öffentlichen Schulden eines Landes nicht höher liegen als 60 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts. Dies wird auch als Schuldenquote bezeichnet. Als die EU ihre Sparprogramme Griechenland auferlegte, wurde dies auch damit begründet, dass die Schuldenquote bei mehr als 150 Prozent lag (die öffentlichen Schulden überstiegen das BIP um mehr als die Hälfte). Durch die lang anhaltenden Krisenerscheinungen und die Pandemie liegt die Schuldenquote inzwischen in sieben EU-Ländern höher als 100 Prozent; teilweise dreimal höher als dieses Maastricht-Kriterium. In Griechenland liegt sie bei 193 Prozent, in Italien bei 150, in Portugal bei 127, in Spanien bei 118, in Frankreich bei 113, in Belgien bei 108 und in Zypern bei 103 Prozent. Dies sind die Stände Ende 2021. Die mit dem Ukraine-Krieg und der Energieknappheit verbundene neue Krise wird zu noch höheren Schuldenquoten führen. Diese treffen nun außerdem zum ersten Mal seit gut einem Jahrzehnt auf steigende Zinsen, was die Lage deutlich dramatischer macht.

Milliarden-Erbin mit Kapitalismus-Kritik

In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung scheint die Hitzewelle dazu geführt zu haben, dass ein Aufsehen erregendes Interview mit klarer Kapitalismus-Kritik, vorgetragen von einer Großerbin, auf einer kompletten Seite abgedruckt wurde. In der Ausgabe vom 19. Juni wird Marlene Engelhorn vorgestellt, eine 30jährige Frau, deren Urururgroßvater 1865 das Chemieunternehmen BASF gründete und die ein Milliarden-Euro-Erbe erwartet. Sie wird unter anderem mit den folgenden Aussagen zitiert: „Ich kenne kein sauberes Geld. Hinter solchen [Bill Gates´] Vermögen stehen Geschichten des Raubs, der Ausbeutung, der Vernichtung. Bei den anderen Überreichen ist es genauso, etwa bei Jeff Bezos oder Elon Musk. Kommen sie aus Russland, nennen wir sie Oligarchen. Gates ist der zweitgrößte Geldgeber der Weltgesundheitsorganisation. Er hat mehr Macht als manche Staaten. […] Seit er versprochen hat, die Hälfte seines Vermögen zu spenden, hat er sein Vermögen verdreifacht.“ Oder auch, als Antwort auf eine Frage mit einem Loblied auf die Biontech-Gründer: „Die mRNA-Forschung ist viel älter als diese Firma. Die Biontech-Gründer konnten diese Grundlagenforschung aufgreifen, die mit öffentlichen Mitteln finanziert wurde. Und die Patente sorgen jetzt dafür, dass die Gesellschaft für den Impfstoff ein zweites Mal zahlen muss. Was für ein Unsinn! Wir sollten es nicht der Willkür der Milliardäre überlassen, ob solche Firmen entstehen und Erfolg haben oder nicht.“

Geht das gut? Wird die mutige Dame wirklich erben? Und kann sie dann bei ihren Ansichten bleiben? Lunapark21 wünscht ihr das. Und uns auch.