Block 2: Städte
Stadtplanung, Wohnen und Mieten in Stuttgart
Stuttgart ist inzwischen die Großstadt mit den höchsten Mieten in Deutschland. Was für Wohnungsbau –und Immobilienkonzerne ein anhaltender Goldrausch ist, ist für über 43 Prozent der Stuttgarter krasse Umverteilung von unten nach oben, denn schon die Miete (bruttokalt) frisst mehr als 30 Prozent ihres Nettoeinkommens.
Seit 1987 sinkt die Zahl von Wohnungen mit sozialer Mietpreisbindung. Von ehemals 33500 (1987) sind 2018 noch 14.443 übrig. Jedes Jahr fallen mehr mietpreisgebundene Wohnungen aus der Bindung als neue entstehen. 2024, so die offizielle Prognose, sollen es 14.800 sein. Von „Trendumkehr“, die der Oberbürgermeister ständig verkündet, kann bei solchen Zahlen, 12 Jahre nach seinem Amtsantritt, nicht ernsthaft die Rede sein.
Anspruch auf eine Sozialwohnung hätten dagegen 100.000 der rund 230.000 Stuttgarter Mieter-Haushalte. 85 Prozent gehen also leer aus. Die Diskrepanz nimmt zu. Die Entwicklung wurde im Rathaus jahrelang ignoriert. Inzwischen kommt selbst der grüne Oberbürgermeister nicht mehr umhin, die Mieten- und Wohnungssituation das „größte soziale Problem in der Stadt“ zu nennen. Überzeugende Antworten bleibt er jedoch genauso schuldig wie die große Mehrheit im Stadtrat.
Denn für CDU, Grüne und SPD gilt unverändert: dass es der Markt – sprich: die Immobilienwirtschaft – richtet. Was ähnlich zielführend ist, wie Graf Dracula zum Organisator der Blutbank zu berufen. Immobilienunternehmen bauen und handeln mit der Ware Wohnraum, wie Porsche mit Autos – um aus investiertem Kapital mehr Kapital zu machen.
Die Rathaus-Mehrheiten eint immer noch, dass es nicht öffentliche Aufgabe sei, das Menschenrecht auf Wohnen zu garantieren. Der Verdrängungsprozess von Menschen in Stuttgart mit kleinen Einkommen beschleunigt sich. Er ist Ergebnis einer kaum versteckten Agenda von Immobilienunternehmen, Stadtspitze und der Ratsmehrheit.
Dass die noch preiswerten Mietwohnungsbestände Stuttgarts „systematisch vom Markt saniert werden“, sagte in dankenswerter Klarheit der Vorsitzende des Bundesverbands der Wohnungs- und Immobilienunternehmen, Axel Gedaschko schon 2012. Der Herr bezieht sich dabei auf die Hälfte des Stuttgarter Mietwohnungsbestands, die Baujahre 1950 bis 1984, wo bisher unterdurchschnittliche Mieten bezahlt und unterdurchschnittliche Mietsteigerungen erzielt werden konnten. Dort können mit Abriss und Neubau oder mit „neubaugleicher Modernisierung“ Neubaumieten durchgesetzt werden – eine Party für Investoren.
Vonovia zeigt in ihren Stuttgarter Beständen, wohin die Reise hin gehen soll. Erst wird die (mit der Miete schon bezahlte) Instandhaltung Jahre, wenn nicht Jahrzehnte lang vernachlässigt, um dann mit „Modernisierungen“ die Mieten massiv anzuheben. Mieterhöhungen von bis zu 60 Prozent wurden z.B. Vonovia-Mieterhaushalten im Nordbahnhofviertel angekündigt. Erst massive Proteste bewegten Vonovia zu mehr Zurückhaltung.
Auch im Fall der Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft (SWSG), zu 100 Prozent im Besitz der Stadt, demonstriert die Stadtratsmehrheit ihren Unwillen, eine Wende hin zu einer sozialen Wohnungspolitik einzuleiten. Die SWSG war in den 90er Jahren und bis ins erste 2000er-Jahrzehnt vom Bau von Sozialwohnungen weg und hin zu frei finanziertem Wohnungsbau und Bauträgergeschäft sowie dem Verkauf von sogenanntem Streubesitz gesteuert worden. Das zu korrigieren, bedurfte Jahre heftiger Auseinandersetzungen und öffentlicher Kampagnen der Mieterinitiativen. Ihr lautstarker öffentlicher Protest und eine kritische Medienberichterstattung zwangen das Unternehmen, seine im Drei-Jahresturnus fest eingeplanten allgemeinen Mieterhöhungen 2016 von 10 auf 6 Prozent zu reduzieren.
Die turnusmäßig nächste, 2019 vorgesehene Mieterhöhung, wurde dann auf Antrag unserer Fraktion ausgesetzt. Ein Etappensieg bis 2022 für rund 16.000 SWSG-Mieterhaushalte. Der Druck der Mieterinitiative, die in Stuttgart in Fahrt gekommenen Proteste der Mieterinnen und Mieter, sowie die positive Resonanz in der Stadt auf eine vierwöchige Hausbesetzung im Stadtteil Heslach dürften die Rathausparteien bewogen haben, auf Mieterhöhungen im Kommunalwahljahr 2019 zu verzichten.
Auch in den SWSG-Beständen (wie z.B. dem als „sozialer Brennpunkt“ stigmatisierten Viertel Hallschlag) wird mit Abbruch und Neubau das Mietenniveau nach oben getrieben, der Austausch von Mieterinnen und Mietern wird beschönigend als „soziale Durchmischung“ propagiert.
Die SWSG hält zwar den größten Teil der Stuttgarter Wohnungen mit Mietpreisbindung. Aber auch wenn dort der anhaltende Kampf um eine sozialere Wohnungs- und Mietenpolitik gewonnen wäre: mit der SWSG und ihren 18.000 von 230.000 Stuttgarter Mietwohnungen allein ließe sich das Ruder in der Stadt nicht komplett herumreißen.
Dazu braucht es einen grundsätzlichen wohnungs- und mietenpolitischen Kurswechsel der Stadt, für den im Rathaus bisher lediglich unsere achtköpfige linke Stadtrats-FrAktion kämpft, in engem Kontakt mit den außerparlamentarischen Recht-auf-Stadt-Initiativen.
Dieser Kurswechsel setzt eine völlige Kehrtwende im Denken von Stadtverwaltung und Stadträten voraus. Im Rathaus tut man sich damit grundsätzlich schwer, siehe Stuttgart21. So auch mit der dringend nötigen wohnungspolitischen „Kulturrevolution“. Statt sich wie bisher als immer dienstbarer Geist für Investoreninteressen zu verstehen, müsste die Politik Investitionen in die Stadt zum „Risikokapital“ (Andrej Holm) machen, indem die bisherigen Prioritäten umgedreht werden: Mieterschutz und Mieterrechte first, Investoreninteressen second. Denn solange die bisherige Investoren-Party unbehindert weitergeht, jährlich rund zwei Milliarden Euro von Investoren auf der Suche nach maximaler Rendite in die Stadt gepumpt werden und ihnen dabei auch noch der rote Teppich ausgerollt wird, kann sich nichts zum Besseren verändern.
Die Stadt muss dafür ein Instrumentarium entwickeln und anwenden, das Bodenpreis- und Wohnungsspekulation gezielt behindert statt wie bisher befeuert. Trotz der überaus eigentümerfreundlichen Rechtsordnung gibt es Instrumente wie z.B. Satzungen zum Milieuschutz und zu städtebaulichen Entwicklungsmaßnahmen, die der Stadt bei konsequent-kreativer Anwendung weitreichende Einflussmöglichkeiten erschließen würden. Von Mietobergrenzen über Genehmigungspflichten von Verkäufen und Modernisierungen bis Vorkaufsrechten für die Stadt. Eine Zweckentfremdungs- und Leerstandsatzung, seit zwei Jahren in Kraft und mangels Personal ein stumpfes Schwert, könnte mit schärferen Sanktionen und handlungsfähiger Personalausstattung den notwendigen Druck entwickeln. Und so „Leerstand beleben“ für mehrere tausend Wohnungssuchende.
Das Deutsche Institut für Urbanistik (DIFU) hat schon 2017 in einer Studie über den Stuttgarter Wohnungsmarkt bestätigt, dass die Stadt ihre Möglichkeiten, Mieter vor Verdrängung zu schützen, kaum nutzt. Das DIFU empfiehlt dagegen eine sozial orientierte Boden-und Wohnungspolitik, die Einrichtung eines kommunalen Bodenfonds und eine verstärkte Nutzung von Mieterschutz-Satzungen und Erbbaurecht. Die Dauer von Mietpreisbindungen und Belegungsrechten durch die Stadt solle deutlich ausgeweitet werden. Damit spricht das DIFU aus, was wir seit vielen Jahren fordern: politische Steuerung und Eingriff, und einen kommunalen Wohnungsbau – weil Wohnen keine Ware, sondern ein Menschenrecht ist.
Nach langen Jahren der Realitätsverweigerung im Rat und in der Verwaltung heißt jetzt die schlichte Devise von der CDU bis zur SPD: Das Angebot regelt den Preis – also Bauen!Bauen!Bauen!
Doch allein ein Blick in andere Städte mit viel höheren Wohnungsbauraten als in Stuttgart zeigt: das Bauen verhindert nicht, dass in Frankfurt oder Berlin die Mieten genauso in unbezahlbare Höhen schießen. Ein Druck, Mieten zu senken, könnte nur dort entstehen, wo das zusätzlich gebaute Wohnungsangebot die Nachfrage deutlich übertrifft. Was nirgendwo in Sicht ist und sich in Stuttgart allein wegen seiner Talkessel-Topografie verbietet, will man den Menschen in der Feinstaubhauptstadt nicht auch noch die verbliebenen Frischluftschneisen zubauen.
Bei Erstvermietungen von neuen Wohnungen werden im Schnitt 17 Euro je Quadratmeter gefordert. Fast ein Viertel der Mietwohnungen wurden in Stuttgart allein in den letzten zwei Jahren neu vermietet, jeder Mieterwechsel ist heute noch mit massiver Mietsteigerung möglich. Beides zeigt, dass die Mietenexplosion nicht einfach „weggebaut“ werden kann. Zu allererst braucht es politische Regulierung und Steuerung, ordnungsrechtliche Eingriffe, die zügig Wirkung entfalten können. Der Dreiklang städtischer Mietenpolitik müsste also heißen: „Deckeln! Kaufen! Bauen!“.
Ja, auch bauen. Aber von der Kommune auf eigenem Grund, statt das Tafelsilber an Investoren zu verscherbeln. Das ermöglicht dauerhaft günstige Mieten. Weil Bauen auf eigenem Grund vermeidet, dass spekulativ in die Höhe geschossene Bodenpreise auf die Miete durchschlagen. Die städtischen Flächen-Potentiale für den Einstieg in einen Gemeindewohnungsbau sind zwar durch die jahrzehntelange ignorante Ausverkaufspolitik städtischen Bodens geschwunden, aber immer noch groß genug, um wirkungsvolle zur Versorgung mit bezahlbaren Mietwohnungen beizutragen. Dafür wollen wir in den städtischen Haushalten 150 Millionen Euro pro Jahr für einen kommunalen Bau- und Bodenfonds reservieren.
Das könnte eine ganz kleine Ahnung von Wiener Verhältnissen geben, wo ein umfassendes Programm zum kommunalen Wohnungsbau seit rund 100 Jahren mit großem Erfolg praktiziert wird. An Geld dafür fehlt es in Stuttgart jedenfalls nicht.
Heute ist das Stadtplanungsamt wegen fehlender Stellen noch nicht einmal in der Lage, flächig Milieuschutzsatzungen zum Schutz der Miethaushalte auf den Weg zu bringen, geschweige denn deren Einhaltung zu kontrollieren. Auch eine Zweckentfremdungssatzung kann erst mit einer angemessenen Stellenausstattung effektiv umgesetzt und Leerstand beseitigt werden. Der Streit um bessere Personalausstattung der städtischen Ämter ist also auch Teil des Kampfs für eine wirksame Mieterschutzpolitik .
Die Resonanz auf die Hausbesetzung in der Stuttgart-Heslacher Wilhelm-Raabe-Straße im Mai 2018 war groß und – auch in Presse, Rundfunk und TV – überwiegend wohlwollend. In der Stuttgarter Zeitung hieß es anerkennend: „Ein Weckruf aus Heslach“. Die reflexhaften Versuche der Haus-und Grundeigentümer-Lobby, diese Aktion und ihre Unterstützung durch unsere Fraktion zu kriminalisieren („Rechtsbruch!“- „Linksextremisten!“) liefen ins Leere. Denn sie hatte offenbar den Nerv getroffen und mit einem Paukenschlag Mietpreiswahnsinn, Wohnungsleerstand und Spekulation ins Scheinwerferlicht gezerrt.
Der „Weckruf“ ist im Stuttgarter Rathaus bis heute nicht angekommen – nach wie vor wird städtischer Grund privatisiert. Auch in den aktuell laufenden Haushaltsberatungen sind Mehrheiten für einen grundlegenden Kurswechsel nicht in Sicht.
Dafür sind weitere Aktionen dringend nötig. Das führt uns auch Berlin vor. Das 2018 gegründete Stuttgarter „Aktionsbündnis Recht auf Wohnen“, das Mieterinitiativen, den Verdi-Bezirk und Recht-Auf-Wohnen-Aktive zusammenbringt, startete mehrere Aktionen, um die Verhältnisse in Bewegung zu bringen. Nach mehreren Hausbesetzungen, kleineren stadtteilbezogenen und einer größeren Demonstration mit über 4000 Teilnehmern im April 2019, initiiert das Aktionsbündnis derzeit ein Bündnis für den bundesweit zweiten Demo-Aktionstag am 28. März 2020 sowie – analog zu Frankfurt – eine Kampagne für einen „Mieten-Entscheid“. Damit der „Weckruf aus Heslach“ endlich im Rathaus ankommt.
Tom Adler, Die Linke, ist Co-Fraktionsvorsitzender der FrAktion LINKE-SÖS-PIRAT-TIERSCHUTZ im Stuttgarter Stadtrat und Wohnungspolitischer Sprecher.
Quellen: Mietspiegel Stuttgart, Jahresbericht Wohnungswesen Stadt Stuttgart, Monatshefte Statistisches Amt, Deutsches Institut für Urbanistik Edition DiFu Bd.17