Die Mühen der Ebene

Griechenland nach dem Wahlsieg von Syriza
Paul Kleiser. Lunapark21 – Heft 29

Kurz vor den Parlamentswahlen am 25. Januar 2015 schaltete die konservative Nea Dimokratia von ex-Premier Samaras einen Wahlkampfspot, in dem alle möglichen Schrecken einer linken Regierungsübernahme vorgestellt wurden: der Bankrott des Staates der Hellenen, Rentner, die vergeblich auf ihre kleinen Renten warten, Schlangen vor Tankstellen, an denen es kein Benzin mehr gibt. Das Dumme war nur, dass solche Katastrophenbilder die große Mehrheit der Griechen und Griechinnen nicht mehr schrecken können, denn in den letzten fünf Jahren haben sie eine Krise erlebt, deren Auswirkungennach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der „kalten Privatisierung“ der russischen Staatsbetriebe Anfang der 1990er Jahre zu vergleichen sind.

Noch Mitte Juni 2013 sah der inzwischen zum Chef der EU-Kommission avancierte frühere Ministerpräsident Luxemburgs, Jean-Claude Juncker, Griechenland „auf einem guten Weg“. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble rühmten vielfach die „Sparanstrengungen“ und „Reformbemühungen“ der griechischen Regierung aus den „Altparteien“ Nea Dimokratia und PASOK. Angesichts der heutigen sozialen Realität in Griechenland muss man davon ausgehen, dass es sich bei diesen Politikern um Zyniker oder Ignoranten handelt.

Die Prognosen der Zyniker
Denn wenige Tage nach dem Juncker-Statement vermeldete die Presse ein weiteres „Minuswachstum“ von 5,2 Prozent für das erste Quartal 2013; laut Monatsberichten der Deutschen Bundesbank schrumpfte die griechische Wirtschaft im Gesamtjahr 2013 wiederum um vier Prozent. 2012 war im Gegensatz zum von der Troika und der griechischen Regierung zur Schau gestellten Optimismus über die angeblichen „Erfolge der Sparpolitik“ die Wirtschaftsleistung um sechs Prozent zurückgegangen. Seit drei Jahren verkündet die Regierung jeweils einen Aufschwung für das kommende Jahr. Aber auch 2014 ist die Wirtschaft trotz Touristenbooms weiter eingebrochen. Seit Ausbruch der Krise ist die griechische Wirtschaft insgesamt um über 25 Prozent geschrumpft. In einem Bericht gab der IWF Anfang Juni 2013 zu, dass es „einen sehr großen Unterschied“ gebe zwischen den eigenen Vorhersagen und der eingetretenen Realität. Doch die Politik des Kahlschlags ging unvermindert weiter; die sozialen Folgen verschlimmern sich zusehends. Das hat Angel Gurria, den Generalsekretär der OECD, nicht gehindert, zu prahlen: „Kein Land hat solche Strukturreformen durchgeführt wie Griechenland“. Also: Operation gelungen – Patient tot.

Sogar ein Spekulant wie George Soros schrieb den europäischen Sparmeistern, allen voran der deutschen Kanzlerin, die mit Verweis auf die Plünderungspolitik des Dritten Reiches in Griechenland häufig mit Nazi-Armbinde gezeigt wird, ins Stammbuch: „Wenn ein Land nur noch spart, sinkt die Nachfrage massiv, und damit brechen die Gewinne der Unternehmen ein. Also kürzen die Firmen die Löhne und Gehälter ihrer Angestellten, die dadurch weniger Geld in der Tasche haben. So sackt die Nachfrage noch weiter ab, und das Wirtschaftswachstum bricht ein. John Maynard Keynes, der legendäre Ökonom, hat es ganz verständlich zusammengefasst: Sobald die private Nachfrage schwächelt, muss die Politik dieses Defizit ausgleichen. Nur die Deutschen scheinen ihm nicht zugehört zu haben.“ (Der Spiegel, Nr. 7/2012) Nach dem Wahlsieg von Syriza warnte Nobelpreisträger Paul Krugman Kanzlerin Merkel vor einem Corleone-Angebot, also einem weiteren Auspressen des Landes.

Sparpolitik mittels krasser Rechtsbrüche
Die Politik der Mitte-Rechts-Koalition setzte gehorsam die brutalen Austeritäts-Vorgaben der Troika – bestehend aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds – in die Tat um. Sie kürzte den Haushalt wie noch kein europäisches Land zuvor, zerschlug den Sozialstaat, stürzte das Volk in Massenarmut und berief sich angesichts des Massenwiderstandes auf Gesetze aus der Zeit der Militärdiktatur, um angekündigte Streiks von Beschäftigten des Öffentlichen Nahverkehrs oder Lehrerinnen und Lehrern zu untersagen. Während hierzulande bei der Forderung nach Mindestlöhnen gerne auf die Tarifautonomie verwiesen wird, hob die Athener Regierung per Diktat die geltenden Verträge einfach auf und ordnete drastische Lohnsenkungen an. Die europäische Kommission, die die EU gerne als „Raum des Rechts und der Demokratie“ ausgibt, schwieg zustimmend. Binnen weniger Jahre wurden die seit dem Sturz der Militärdiktatur 1974 von den Beschäftigten und ihren Gewerkschaften erkämpften Löhne und sozialen Absicherungen dem Austeritätsmoloch geopfert. Und die Demokratie weicht mehr und mehr einem autoritären Regime, dessen Repressionsapparat (mit teilweiser Unterstützung der „Stiefelnazis“ der „Goldenen Morgenröte“) brutal gegen die Widerstandsaktionen der einfachen Bevölkerung vorgeht. Hinter dem Regierungshandeln verbergen sich letztlich die Interessen der griechischen Reeder- und Bankerbourgeoisie, die für Griechenland die gleiche Bedeutung hat wie in Deutschland die Automobilindustrie: gut zehn Prozent der abhängig Beschäftigten stehen in ihren Diensten. Längst haben die Reeder gleich den russischen Oligarchen einen erheblichen Teil ihres Besitzes außer Landes gebracht. Ihre Vermögen in der Schweiz sollen den gleichen Umfang haben wie die der deutschen Steuerhinterzieher. Ihnen gehört die größte Handelsflotte der Welt; doch unter welcher Flagge sie fahren, entscheiden sie allein nach ihren pekuniären und strategischen Interessen. Eine ganze Reihe von ihnen findet man auf der Forbes-Liste der 500 reichsten Familien der Welt. Selbst Kriegszeiten waren für die Oligarchen Onassis, Niarchos Bobolas oder Latsis usw. ein ziemlich gutes Geschäft. Seit der Militärdiktatur sind sie von direkten Steuerzahlungen ausgenommen; dafür machten sie damals den Diktator Papadopoulos zum „Ehrenvorsitzenden auf Lebenszeit“. Sie kontrollieren auch die privaten Fernsehstationen (Mega-Channel) und die meisten Presseorgane des Landes. Letztlich war die alte Regierung völlig von ihnen abhängig, so dass sie bislang trotz zahlreicher Mahnungen aus Brüssel eine effektive Besteuerung der Reichen verhindert hat. Die Behandlung der Lagarde-Liste von Familien mit Vermögen in der Schweiz spricht Bände über das griechische Netzwerk von Korruption und Klientelismus.

Auf der anderen Seite müssen allein in Athen täglich mindestens 50000 Menschen nach Suppenküchen suchen, um überleben zu können. Mindestens ein Viertel der Bevölkerung lebt inzwischen an oder unter der Armutsgrenze. In Athen kann man z.B. rund um die Universität Hunderte von Menschen beobachten, die in aller Öffentlichkeit mit schmutzigem Besteck Drogen konsumieren. Man braucht sich nicht zu wundern, dass die Zahl der AIDS-Infizierten steil nach oben geht. Die Regierung strich die geringen Geldmittel für die Vorsorge bei Infektionskrankheiten zusammen und beauftragte statt dessen die Polizei, Drogenabhängige und Infizierte einzusperren.

Aber – so wird man einwenden – haben „wir“ nicht Milliarden an Griechenland bezahlt? Dankenswerterweise hat attac Österreich sich die Mühe gemacht und hat einfach mal nachgerechnet, wohin die vielen Milliarden geflossen sind, denen man das Etikett „Rettungspläne“ oder „Hilfszahlungen“ angeklebt hat. Von den 207 Milliarden an „Hilfen“, die seit Mai 2010 in den vier „Memoranden“ vereinbart worden sind (inzwischen sind es 240 Milliarden), wurden 55 Milliarden für die Rückzahlung fällig gewordener Staatsanleihen und elf Milliarden für den Rückkauf alter Schulden verwendet.

Hilfsgelder – für den internationalen und griechischen Finanzsektor
Mit 58 Milliarden wurde das Eigenkapital griechischer Banken aufgestockt – nachdem es durch Kapitalflucht der Reichen ins Ausland kräftig ausgezehrt worden war. Mit 35 Milliarden wurde den Banken und „Investmentfonds“ der Welt der Schuldenschnitt des Jahres 2012 schmackhaft gemacht – nachdem sie vorher angesichts von Zinsen bis 35 Prozent einen kräftigen Reibach gemacht hatten. Die Gesamtzahlungen Griechenlands für Zinsen und Tilgung dürften sich für die vergangenen 20 Jahre auf über eine Billion Dollar belaufen – das Land wurde von den Gläubigern also kräftig ausgenommen. Seit 1991 soll das Land allein 640 Milliarden Euro an Zinsen bezahlt haben, wovon etwa 75 Prozent an ausländische Kreditgeber gingen. Dabei war der Beitritt zum Euro ja gerade mit der Hoffnung verbunden, bei den Zinsen, die angesichts einer rasch an Wert einbüßenden Drachme (die durchschnittliche Inflation lag bei ca. acht Prozent) häufig bei 20 bis 30 Prozent lagen, kräftig sparen zu können, was bis 2008 ja auch gelang.

Jedenfalls kommt attac Österreich zum Schluss, dass sich mindestens 77 Prozent der Kredite direkt oder indirekt dem Finanzsektor zuordnen lassen. Selbst von den knapp 47 Milliarden Euro, die überhaupt im Staatsbudget aufgetaucht sind, musste (oder wollte) die Athener Regierung 35 Milliarden als Zinszahlungen an die Besitzer von Staatsanleihen weiterreichen. Dazu kommen noch gut zehn Milliarden für die „Landesverteidigung“, denn „Merkozy“ machten im Interesse der deutschen und französischen Rüstungsindustrie mächtig Druck zu verhindern, dass Athen Rüstungsaufträge stornierte. In Griechenland stehen mehr Panzer deutscher Fabrikation als hierzulande! Die Griechen müssen also ihre Panzer und U-Boote bezahlen, auch wenn sie dabei vor Hunger krepieren – so sieht die Moral „christlicher“ Politikerinnen und Politiker aus. Die Programme der Bankenrettung waren und sind also im Wesentlichen Rettungsprogramme für die Reichen und Superreichen, die seit 2007 ihre Einkommen deutlich steigern konnten, während der Großteil der Bevölkerung auf der Strecke bleibt oder sogar in bittere Armut gestoßen wird.

Rekordarbeitslosigkeit und Hungerlöhne
Die offizielle Arbeitslosigkeit (laut www.statistics.gr) lag im Oktober 2013 bei 27,8 Prozent, ein Jahr später bei 26,7 Prozent. Bei den 15- bis 24-Jährigen lag sie bei 57,9 Prozent; im angeblich „produktivsten Alter“ von 25 bis 34 Jahren immer noch bei 37,8 Prozent; im Oktober 2014 waren insgesamt 1,37 Mio. Menschen arbeitslos gemeldet. Von ihnen waren 71 Prozent Arbeitslose von „langer Dauer“, also über einem Jahr; 23,3 Prozent waren „neue Arbeitslose“, die noch nie in Lohn und Brot standen. Das Wachstum der Arbeitslosigkeit zwischen dem 3. Quartal 2010 und dem 3. Quartal 2013 lag bei 130,1 Prozent. Die Zahlen des wissenschaftlichen Instituts der GSEE (Gewerkschaft der Privatangestellten) sind noch höher. Eine genauere Prüfung der offiziellen Zahlen zeigt eine besonders alarmierende Realität des sog. „Arbeitsmarktes“. So ist die Zahl der (zwangsweise) Teilzeitbeschäftigten (die gerne voll arbeiten würden) seit dem dritten Quartal 2010 von 135100 auf 213900 im dritten Quartal 2013 angestiegen. Die Zahl der Menschen, die aus Frustration überhaupt nicht mehr nach Arbeit suchen, aber gerne arbeiten würden, hat sich im gleichen Zeitraum von 54900 auf 96700 erhöht. Im Privatsektor sind 1371450 Menschen beschäftigt, was der Zahl der Arbeitslosen entspricht. Der Mindestlohn wurde von 751 Euro auf 586 Euro, für die unter 25 Jährigen sogar auf 511 Euro zusammengestrichen. Die neue Regierung möchte ihn auf das alte Niveau anheben, was bereits zum Aufschrei von Politikern und Ökonomen hierzulande führte.

Diese Situation hilft den Kapitalisten, das „Gesetz des Dschungels“ durchzusetzen. In zahlreichen Sektoren sind die Löhne um mehr als ein Drittel gefallen, im Öffentlichen Dienst um 30 Prozent. Außerdem wird ein bedeutender Teil der Arbeitskräfte offiziell in „Teilzeit“ für vier oder weniger Stunden angestellt, arbeitet aber acht und mehr Stunden ohne entsprechende Bezahlung. Hinzu kommt, dass viele Menschen über mehrere Monate auf ihren „Scheißlohn“ warten (vier Monate haben sozusagen „Tradition“), aber dennoch arbeiten, um ihre Sozialversicherung zu behalten.

Junge Menschen, insbesondere besser Qualifizierte, wandern zu Tausenden ins Ausland ab, weil sie zuhause keinerlei Perspektive sehen. Die schmale Arbeitslosen-Unterstützung wird – wenn überhaupt – höchstens ein Jahr lang bezahlt und liegt zwischen 180 und 468 Euro. In über 40 Prozent der Haushalte gibt es mindestens einen Arbeitslosen.

Gleichzeitig wurden die Steuern massiv erhöht. Die Mehrwertsteuer stieg auf 23 Prozent; für den Öffentlichen Dienst wurde eine zusätzliche „Solidaritätssteuer“ eingeführt und alle Eigenheimbesitzer (dies sind etwa drei Viertel der Griechen) haben nun (neben drei schon bestehenden Steuern) eine neue Immobiliensteuer zu bezahlen, die mit der Stromrechnung eingezogen wird. Gegenwärtig wird monatlich etwa 30000 Haushalten die Stromversorgung abgeklemmt, weil sie die Rechnungen nicht bezahlen können. Mindestens 300000 Haushalte haben gegenwärtig keinen Strom. Inzwischen steigt auch die Zahl der Haushalte stark an, denen sogar das Wasser abgestellt wird. Als eine Sofortmaßnahme plant daher die neue Regierung, die Bedürftigen kostenlos mit Strom zu versorgen.

Viele Schulen, Kindergärten – aber auch Privathaushalte – waren im vergangenen Winter ohne Heizung. Wie im Krieg wurden Bäume und Wälder illegal abgeholzt, um nicht frieren zu müssen. In Thessaloniki wurden Verschmutzungswerte der Luft gemessen, die um ein Vielfaches über dem von der EU festgelegten höchstens zulässigen Grenzwert lagen.

Notstand im Gesundheitssektor
Besonders dramatisch ist die Lage im Gesundheitswesen, das schon immer unter zahlreichen Problemen der Unterversorgung und der Korruption (die berüchtigten „Fakelaki“ = Briefchen) litt. Arbeitslose verlieren nach einem Jahr die Krankenversicherung; daher sind mindestens ein Drittel der Bevölkerung ohne diesen Schutz (manche sagen: fast die Hälfte). Die Medikamente muss man selbst bezahlen und kann dann hoffen, irgendwann max. 75 Prozent der Kosten zurückerstattet zu bekommen; doch dabei lässt sich der Staat sehr viel Zeit. Außerdem war der Staat sehr erfinderisch im Ausdenken weiterer Selbstbeteiligungen. Die aus einem Zusammenschluss mehrerer Kassen neugeschaffene Krankenversicherung EOPYY soll mit fast zwei Milliarden Euro bei den Versicherten in der Kreide stehen. Denn der Staat wollte die Vorgaben der Troika erreichen und um jeden Preis im Budget einen „Primärüberschuss“ vorweisen können, damit nach Auslaufen der Memoranden im Februar 2015 mit den internationalen Institutionen neue Kredite vereinbart werden können.

Vom früheren isländischen Gesundheitsminister Gudjun Magnusson soll die Frage stammen, was der Unterschied sei zwischen einen Vampir und dem IWF? (Island hatte sich geweigert, den Sparvorgaben von IWF und OECD im Sozial- und Gesundheitsbereich nachzukommen. Dafür hat es seine qualifizierte Versorgung der Bevölkerung behalten.) Seine Antwort: Der Vampir hört auf, einem das Blut auszusaugen, wenn man tot ist. Der neue griechische Finanzminister Giannis Varoufakis spricht höflicher von einem „fiskalpolitischen Waterboarding“.

Dass die Austeritätspolitik Menschen buchstäblich umbringt, lässt sich am griechischen Beispiel leicht belegen. Im Jahr 2009 verlangte die Troika unter Führung des IWF, dass der Gesundheitsetat von 24 auf 16 Milliarden Euro heruntergekürzt werde. Griechenland dürfe höchstens sechs Prozent des (schrumpfenden) BIP für die Gesundheit ausgeben, während es in Deutschland etwa elf Prozent (USA 18%) sind. Die Folgen: eine um 40 Prozent angestiegene Kindersterblichkeit oder Krebspatienten, die so lange nicht zum Arzt gehen, bis ihnen die Tumore durch die Haut wuchern. Im vergangenen Jahr haben gut zwei Drittel der Bevölkerung keinen Arzt gesehen, nicht weil sie so gesund wären, sondern weil sie einfach nicht über die nötigen Mittel für einen Arztbesuch verfügen. Das führt zu unvorstellbaren Zuständen in den Notaufnahmen der Krankenhäuser, deren Personal bis zur Erschöpfung arbeiten muss – und öfters lange auf die (gekürzten) Lohnzahlungen warten kann. Es fehlt an allem, an sauberen Spritzen, Handschuhen und Desinfektionsmitteln.

Seit Beginn der Krise wurden 35000 Arbeitsplätze im Gesundheitssektor gestrichen. Laut Encyclopaedia Britannica (Book of the Year) gab es 2007 in Griechenland 47944 Ärzte, einen auf 229 Einwohner, was etwa der deutschen Ärztedichte entsprach; diese Zahl ist bis 2012 auf 22462 oder einen auf 502 Einwohner gefallen. Allein die Ausgaben für Medikamente sind von 4,3 Milliarden Euro auf 2,8 Milliarden Euro zusammengestrichen worden. Sie sollen weiter bis auf zwei Milliarden abgesenkt werden. (The Lancet, vol. 383, 22. Febr. 2014) Damit gibt Griechenland weniger für Gesundheit aus als alle Länder, die vor 2004 der EU beigetreten sind. Dabei machen so tiefe Krisen eigentlich eine deutliche Erhöhung der Ausgaben nötig. Man weiß seit langem, dass in Krisen aufgrund des physischen und psychischen Stresses die Zahl der Erkrankungen zunimmt. Vor allem Herz-Kreislauferkrankungen und Diabetes, aber auch Krebserkrankungen treten vermehrt auf. Diese durch die Politik von EU und Troika mitverursachte Lage kann man nur als humanitäres Desaster bezeichnen! Der frühere Gesundheitsminister Andreas Loverdos meinte zynisch, man habe das „Metzgermesser“ angesetzt. Nach etwas mehr als einem Jahr saß auf seinem Ministerstuhl bereits der vierte Nachfolger, der aus der rechtsradikalen LAOS-Partei stammende Jannis Voiridis eingenommen, der vor der Wahl dabei war, die zur EOPYY gehörenden ambulanten Polikliniken zu schließen, um weitere 8500 Beschäftige loszuwerden. Auch 90 Krankenhäuser wurden bereits dichtgemacht oder gar nicht eröffnet, wie das moderne 40 Millionen-Projekt auf der Insel Santorin, das vergammelt, weil die vier Millionen für Unterhalt und Personal gestrichen wurden!

Angesichts dieser Situation sind überall in Griechenland Formen der Selbsthilfe und der Selbstorganisation entstanden. Bauern verkaufen ihre Produkte direkt an die Verbraucher, Menschen schließen sich zusammen, um Suppenküchen zu organisieren, es gibt Formen des geldlosen Austausches von Gütern und Dienstleistungen usw. Mit „Solidarity for all“ ist auch eine Art Dachorganisation entstanden, die die verschiedenen Initiativen koordinieren und zusammenführen soll. Die Abgeordneten der Linkspartei Syriza spenden 20 Prozent ihrer Diäten, damit diese Koordinierungsstelle und ihre Arbeit bezahlt werden kann.

Rassismus und Faschismus im rasanten Aufstieg
Einige Jahre lang konnten Flüchtlinge noch am ehesten über die türkische Grenze nach Griechenland kommen und so in die „Festung Europa eindringen“. An eine Weiterreise war und ist jedoch zumeist nicht zu denken, weil die nationalen Egoismen gerade der reichen EU-Länder eine gerechte Lastenverteilung hintertreiben. Etwa eine Million Menschen aus Albanien oder Bulgarien, sowie Flüchtlinge aus asiatischen oder afrikanischen Ländern „strandeten“ in Hellas. Mit der Krise nehmen die Überlebensmöglichkeiten der Flüchtlinge in Griechenland weiter ab und der Rassismus der Einheimischen zu. Verzweiflung und ohnmächtige Wut einer verarmten und gedemütigten Bevölkerung – das lehrt die historische Erfahrung der 1930er Jahre – können sich auch gegen diejenigen richten, denen es noch dreckiger geht. An der Grenze zur Türkei wurden in den vergangenen Jahren hunderte Menschen umgebracht; nur in den seltensten Fällen wird ein Täter ermittelt.

Besonders besorgniserregend ist der rasche Aufstieg der neofaschistischen Partei „Goldene Morgenröte“ (Chrysi Avgi) von einer 1980 gegründeten Kleinstgruppe zur drittgrößten Partei des Landes. Man kann sie als eine Art Sumpfblüte der griechischen Wirtschafts- und Gesellschaftskrise bezeichnen. Ihre Führung tritt bei jeder Gelegenheit mit „Hitlergruß“ auf; einige Abgeordnete riefen sogar im Athener Parlament „Heil Hitler!“ und ihr Pressesprecher Ilias Kasidiaris, ein früherer Elitesoldat, der die Verminung der griechisch-türkischen Grenze fordert, griff im Wahlkampf 2012 vor laufender Kamera zwei Abgeordnete von Syriza tätlich an.[*] Öffentlich wird der Holocaust in zahlreichen Reden und Schriften geleugnet. Solange die sozialen Verwüstungen, die langjährige Arbeitslosigkeit, die Ruinierung der Mittelklassen und die soziale und politische Krise weitergehen, findet der Faschismus immer Gehör in jenem Teil der Gesellschaft, der für seine vergiftete Botschaft empfänglich ist. Nachdem nun der Niedergang der Nea Dimokratia begonnen hat und sich sogar Teile der konservativen Mittelklasse von ihr entfernen, müssen wir längerfristig mit einem neuen Anwachsen von Chrysi Avgi rechnen. Gerade die Übernahme der Regierung durch Syriza hat in der Mehrheit der Bevölkerung riesige Hoffnungen geweckt, die sie nicht enttäuschen darf; ansonsten besteht die Gefahr eines Putsches mit Unterstützung des rechten Flügels der Nea Dimokratia und der diversen rechtsradikalen und neofaschistischen Gruppen. Bei den jüngsten Parlamentswahlen konnte sich diese neofaschistische Partei als drittgrößte Kraft mit 6,3 Prozent Stimmenanteil knapp verteidigen.

Auf das Konto von Chrysi Avgi gehen zahlreiche Verbrechen und Gewalttaten, vor allem gegen Migrantinnen und Migranten. Sie verfügt auch über gute Verbindungen zu Teilen der Polizei, der sie bisweilen bei der Festnahme von „Illegalen“ half. Erst der Mord an dem antifaschistischen Sänger und Rapper Pavlos Fyssas am 18. September 2013 brachte die Justiz dazu, den bulligen „Führer“ Nikos Michaloliakos und anderer Abgeordnete von Chrysi Avgi verhaften zu lassen. Insgesamt wurden über dreißig Mitglieder und Funktionäre festgenommen. Sie werden – abgesehen vom Mord an Fyssas – folgender Verbrechen beschuldigt: Bildung einer verbrecherischen Organisation, versuchter Mord, Totschlag, schwere Körperverletzung, Erpressung und Geldwäsche (Kathimerini, 28.9.2013 und Süddeutsche Zeitung, 30.9.2013).

Nach dem erfolglosen Generalstreik von Anfang November 2012 zur Verhinderung der Verabschiedung des 4. Memorandums durch das Athener Parlament dachten viele, die Bevölkerung sei zu müde für weitere großangelegte Widerstandsaktionen. Ministerpräsident Samaras von der Nea Dimokratia versuchte, diese Situation auszunützen, als er zur Erfüllung der Forderung der Troika nach Entlassung von 15000 Staatsbediensteten die öffentliche Rundfunk- und Fernsehstation ERT einfach schließen ließ, ohne vorher seine „Partner“ in der Regierung zu konsultieren. Dadurch sollten auf einen Schlag 2700 Arbeitsplätze „abgebaut“ werden. Unter diesen Bedingungen verließ die „Demokratische Linke“ von Fotis Kouvelis das Kabinett. Schon damals drohten eine Regierungskrise und Neuwahlen, die zu einem Wahlsieg von Syriza hätten führen können – eine Schreckensvision für die Granden der EU und der Troika. Offensichtlich wurde hinter den Kulissen massiver Druck aufgebaut, damit die PASOK von Evangelos Venizelos in der Regierung verblieb und ihr eine schwache Mehrheit sicherte.

Die neue Regierung hat angekündigt, ERT wieder zu eröffnen. Damit hätte sich der lange Kampf der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnnen, die die ganze Zeit übers Internet gesendet haben, zumindest ausgezahlt.

Paul Kleiser lebt in München und engagiert sich dort u.a. bei attac und im Münchener Sozialforum. Er ist Herausgeber von Griechenland im Würgegriff, das im April 2014 im neuen ISP-Verlag erschienen ist.


[*] Dimitris Psarras, Neonazistische Mobilmachung im Zuge der Krise. Der Aufstieg der Nazipartei Goldene Morgenröte in Griechenland, Analysen der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2013, S. 42.