Paul Kleiser. Lunapark21 – Heft 29
Bei der deutschen Linken stellt die Schweiz zumeist eine terra incognita dar. Man weiß um ihr „Geschäftsmodell“ als Hort der Geldwäscher und Steuerhinterzieher. Man weiß um Niedrigsteuern für Superreiche und Konzerne – wobei das Ultimatum der USA an die Schweiz, die Guthaben US-amerikanischer Bürger mitzuteilen oder aber vom Finanzplatz New York gefegt zu werden, diesem Modell einen Tiefschlag versetzt hat. Aktuell bedroht der Kursanstieg des Franken gegenüber dem Euro einen Gutteil der exportorientierten produktiven Wirtschaft. Der Nationalismus und Chauvinismus des Multimillionärs Blocher und seiner Schweizer Volkspartei (SVP), möglichst viele Flüchtlinge und Menschen ohne Schweizer Pass (insoweit nicht Millionäre) loszuwerden und die Schweiz von ihrem europäischen Umland zu isolieren, gleichzeitig aber die neoliberale Ausrichtung zu verstärken, wird auf Dauer nicht aufrecht zu erhalten sein.
Das „Denknetz“ ist eine vor gut zehn Jahren gegründete Vereinigung von Linken aus den Bereichen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und Aktiven aus sozialen Bewegungen, deren Kernthemen „Fragen der Wirtschafts-, Sozial-, und Arbeitspolitik“ sind und die „Diskursnetze mit sozialkritischer Ausrichtung aufbauen“ möchte. Insbesondere sollen Fragen der Migration, der Umwelt, der Bildung und Genderfragen in die Arbeit integriert werden. Das Netz steht auch für den Austausch mit Ansätzen und Positionen, die in anderen Ländern entwickelt wurden. Im aktuellen Jahrbuch finden sich zahlreiche Statistiken zur Schweizer Wirtschaft, zur Verteilung des BIP und den Steuereinnahmen sowie zur Debatte um einen Schweizer Mindestlohn.
Das Jahrbuch 2014 setzt sich vor allem mit den herrschenden neoliberalen Diskursen in Wirtschaft und Gesellschaft auseinander. Im einleitenden Beitrag beschreibt Marcus Hawel, wie die Ideologiekritik – nicht erst seit der Frankfurter Schule ein breiter und wichtiger Teil der linken und marxistischen Analyse – nach dem Zusammenbruch des „Realsozialismus“ ins Abseits gedrängt und durch „Meinung“ ersetzt wurde, die „zufällig, sprunghaft und banal“ ist. Dies bedeutet, dass die Welt überwiegend nicht mehr unter dem Aspekt der Gestaltbarkeit und der Veränderbarkeit gesehen werde. Doch laut Hawel „schreien die Verhältnisse geradezu nach Ideologiekritik“, denn die „kollektiven Wahnsysteme“ sind übermächtig geworden. Die Ideologie par excellence sei heute der Nationalismus, der „das Einzelinteresse als Gemeinsinn ausgibt“. Im Nationalismus werden „die kulturellen Differenzen zu nationalen stilisiert und mit kollektiven Ressentiments“ angereichert. Der Nationalismus ist eine „konformistische Rebellion gegen die verdinglichenden Tendenzen der Normalform der bürgerlichen Gewalt, welche die Anerkennung der Einzelnen zugleich ermöglicht und wieder annulliert“.
In Karl-Heinz Brodbecks Beitrag geht es um die ethischen Normen in der Ökonomie, die von Adam Smith bis John M. Keynes immer als „moral science“ verstanden wurde, die aber im vorherrschenden „neoklassischen“ oder neoliberalen Denken unterschlagen werden. Er fragt, warum den Konjunkturberichte verfertigenden Professoren („Sachverständigenrat“) viel Geld in den Rachen geschoben wird, wiewohl nicht eine ihrer Prognosen zugetroffen sei. Doch ein genaueres Nachfragen bringt zu Tage, dass es sich bei diesen „Prognosen“ gar nicht um Vorhersagen handele, sondern um „Imperative für die Politik“. Brodbeck spricht von einer „Immunisierungsstrategie“, deren implizite Aussage auf die Feststellung hinausläuft, dass „Märkte Gesellschaften zu deren Bestem regeln“; Wirtschaft wird dann auf Märkte und Preise zurückgeführt. Eine solche „Wissenschaft“ ist noch nicht einmal in der Lage, ihre eigenen Kategorien zu verstehen, wie sich etwa beim Preisbegriff von Hans-Werner Sinn zeige. Menschen kommen in dieser Theorie nicht als Lebewesen, sondern nur als Automaten (eine „Roboterimitation vom Menschen“) vor.
Als eine Art Gegengift zur Ideologie des neoliberalen homo oeconomicus möchte ich auf den Beitrag der australischen Professorin Susan Donath „Vorschlag für eine eigenständige feministische Ökonomie“ (sowie die Diskussionsbeiträge hierzu) verweisen. Die Erzählung von Wettbewerb und Austausch auf den Märkten blendet die (mehrheitlich weibliche) Care-Arbeit, also die Sorgeleistungen für Kinder, Alte und Kranke, fast vollständig aus. Der Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Tatsache, dass Frauen in der Wirtschaft nach wie vor eine erheblich andere Stellung einnehmen als Männer. Sie haben „niedrigere Einkommen, arbeiten in hochsegmentierten Beschäftigungsgruppen und Industriezweigen mit niedrigem Status und nehmen einen weit größeren Anteil der unbezahlten wirtschaftlichen Tätigkeiten auf sich, die zu Hause ausgeführt werden.“ Viele der Unterschiede ergeben sich natürlich aus dem jeweils unterschiedlichen Engagement hinsichtlich der Kindererziehung und der Reproduktionsarbeit; außerdem wird Kinderbetreuung in den meisten Ländern schlecht bezahlt. Würden diese Arbeiten nach der Logik kapitalistischen Wirtschaftens erfolgen, würden die Menschen zu „emotionalen Asketen“.
Summa summarum ein Sammelband mit vielen informativen und anregenden Beiträgen.
Denknetz-Jahrbuch 2014: Kritik des kritischen Denkens · Hrsg. von Iris Bischel, Ulrike Knobloch, Beat Ringger und Holger Schatz · Broschur, Fr. 25.00, Euro: 19.00 ISBN: 978-3-85990-244-2 · www.denknetz-online.ch