Wie immer ist in einem Bild auch das wichtig, was fehlt. Wenige Tage, bevor die FDP aus der Bundesregierung flüchtete, hatte sie bereits einen Abschiedsbrief übergeben: die Ausarbeitung des Bundesfinanzministeriums Wirtschaftswende Deutschland – Konzept für Wachstum und Generationengerechtigkeit. In diesem 18-seitigen Dokument kommen die Worte Außenhandel, Export, Exportüberschuss und Auslandsvermögen nicht vor. Einen Prüfling würden deutsche Oberlehrer mit der Bemerkung nach Hause schicken: Thema verfehlt, sechs.
Nach Auffassung der Liberalen wird in Deutschland zu wenig gearbeitet, zu viel staatlich reguliert und zu wenig investiert. Lautstark sorgen sie sich um die unzureichenden deutschen Unternehmensinvestitionen. In den USA und Frankreich sei es in den letzten Jahren viel mehr gewesen! Und sie haben auch eine Begründung zur Hand: Die Besteuerung der Unternehmen im deutschen Vaterland sei zu hoch. Dabei wissen die Beamten im Bundesfinanzministerium, wie die Verwendung des deutschen Bruttoinlandsproduktes (BIP) aussieht. Im Jahr 2023 machten 2205,6 Milliarden Euro privater und 905,2 Milliarden staatlicher Konsumausgaben zusammen gut 74 Prozent des BIP aus. Auf die Investitionen entfielen knapp 22 Prozent. Und dann ist da noch ein Rest – die 4 Prozent des Außenbeitrags, der Exportüberschuss. Jahr für Jahr verkaufen deutsche Unternehmen mehr Waren und Dienstleistungen ins Ausland, als sie von dort einkaufen. Während der Eurokrise wurde dieser Überschuss gern als das Urte il des Marktes den Verlierern vorgehalten: Die hart arbeitenden Deutschen sind konkurrenzfähiger, Punkt. Regelmäßig finden sich die Nachrichten über den Exportüberschuss in den Medien – und es sind meist gute Nachrichten. Nicht alles ist positiv, der deutsche Saldo im Außenhandel aber gewiss.
Weniger laut wird erörtert, was mit diesem Überschuss gemacht wird: Jedes Jahr vergrößert sich das deutsche Auslandsvermögen, das nicht allen Bewohner:innen dieses Landes zu gleichen Teilen gehört. Wenn man von den Vermögenswerten im Ausland die Forderungen aus dem Ausland abzieht, ergibt sich der Auslandsvermögensstatus, das Netto-Auslandsvermögen. Es ist auch im Verlauf des Jahres 2023 um 206 Milliarden Euro gestiegen, trotz negativer Einflüsse durch Wechselkursveränderungen, und betrug Ende 2023 2964 Milliarden Euro. Das Statistische Bundesamt meldet, dass sie etwa 70 Prozent des BIP entspricht. Aber das BIP ist eine Stromgröße. Die sinnvollere Bezugsgröße ist das Anlagevermögen. Ende 2023 erreichte das deutsche Bruttoanlagevermögen 28.810 Milliarden Euro. Davon entfielen fast 50 Prozent auf Wohnbauten, weitere 33 Prozent auf Nichtwohnbauten (Hoch- und Tiefbau). Ausrüstungen machte gerade mal 12 Prozent aus, darunter 3 Prozent Fahrzeuge. Mit dem gesamten Bruttoanlagevermögen verglichen, entsprach das Netto-Auslandsvermögen Ende 2023 etwa 10 Prozent – das war mehr als alle Maschinen der deutschen Industrie.
Allerdings ist das deutsche Auslandsvermögen nicht überall gleichermaßen sicher und rentabel angelegt. Risiken gab es immer. 2008 hatten sich deutsche Investoren auf dem US-Markt verspekuliert und mussten massive Verluste verbuchen. Inzwischen sind neue politische Gefahren aufgetaucht, die mit Investitionen jenseits der EU verbunden sind. Doch dem liberalen Ex-Finanzminister geht es nicht um eine objektive Analyse der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und globalen Verflechtung. Ihn interessiert nicht der Zusammenhang, dass ein Land, das hohe Überschüsse im Außenhandel einfährt, im Inland offensichtlich zu wenig konsumiert und investiert – was alles mit den Unternehmenssteuersätzen nichts zu tun hat. Christian Lindner interessiert die Chance, sich als Vertreter deutscher Unternehmer anzubieten: Rettet die Schuldenbremse! Weniger Regulierung, weniger Steuern, weniger Sozialleistungen, mehr Arbeit! Selbstverständlich sollen auch Subventionen gestrichen wer den, die der FDP nicht am Herzen liegen. Das heißt: Vieles soll weg, nur nicht das Dienstwagenprivileg und das Ehegattensplitting.
Erklärungsbedürftig ist nicht der Geltungsdrang des Vorsitzenden einer Kleinpartei, die um ihr parlamentarisches Überleben kämpft. Erklärungsbedürftig ist, dass darüber eine Bundesregierung stürzt. Die übertriebene Rolle der FDP ist ein Teil einer Umgruppierung der politischen Kräfteverhältnisse. Die Rahmenbedingungen deutscher Politik haben sich geändert. Atomausstieg und Kohleausstieg wurden der Industrie noch mit der Erdgasnutzung als Brückentechnologie erleichtert: Erdgas als Methadon für energiesüchtige Betriebe. Dann folgte der russische Überfall auf die Ukraine alles war anders. Chemie- wie Stahlindustrie haben noch keine Antwort auf diesen Umbruch gefunden. Die Umstellung auf einen anderen, klimaneutralen Akkumulationstyp wird schwieriger als gedacht. Keine der populistischen Vorschläge für eine langsamere Umstellung wird mit den Kosten der Klimaveränderungen verglichen, die schon gestern angefallen sind, die heute, mor gen und übermorgen anfallen.
Die deutsche Wirtschaft stagniert. Welcher Art ihre kapitalistischen Schwierigkeiten sind, das zeigt sich am Fehlen jeder Diskussion über die Wettbewerbsfähigkeit. Die Konkurrenz aus den USA oder in Europa ist kein Problem. Nach wie vor wird dort der größte Teil des deutschen Ausfuhrüberschusses realisiert. Aber die Zeit ist vorbei, in der die deutsche Automobilindustrie, ihre Beschäftigten und auch viele ihrer Kritiker auf die chinesische Konkurrenz herabschauten. VW hat einen Konzernumbau an- und die Beschäftigungssicherung aufgekündigt und 30 Jahre unternehmensinterner Sozialpartnerschaft beendet. Nicht, dass der Konzern Verluste macht. Es geht darum, dass die Gewinne nicht hoch genug ausfallen, ob die Gewinnrücklagen angegriffen werden müssen oder die Belegschaft – im Zweifel beide.
Uns steht ein Wahlkampf bevor. Keine Parlamentspartei hat vor, das deutsche Exportmodell zu kritisieren. Nicht einmal der Linkspartei fällt auf, dass es um das deutsche Exportmodell geht. Die Probleme werden stattdessen gern woanders gesucht. Der Ex-Finanzminister erklärte, die Bürgergeld-Regelsätze »liegen im Jahr 2025 weiterhin über dem Bedarf und sollten daher durch die Abschaffung der ‚Besitzstandsregelung‘ abgesenkt werden, um Arbeitsanreize zu stärken.« Und er ist in seiner Sorge um die Arbeitsanreize nicht allein. Sahra Wagenknecht erkundigte sich bei der Bundesregierung, wie es mit der Rückkehr der Bürgergeldempfänger auf den ersten Arbeitsmarkt aussieht. Empört stellte sie fest, dass 51 Prozent ein halbes Jahr nach einer Arbeitsaufnahme noch oder wieder im Leistungsbezug waren. Dabei stand schon in der offiziellen Antwort der Bundesregierung: »Der Regelleistungsbezug SGB II allein sagt nichts darüber aus, ob erwerbsfähige Le istungsberechtigte zu diesem Zeitpunkt einer Beschäftigung nachgehen oder nicht. Es kann lediglich die Aussage getroffen werden, dass eine möglicherweise vorhandene Beschäftigung nicht bedarfsdeckend ist.« Es fehlt nicht an Arbeitsanreizen, die niedrigen Regelsätze und unzureichenden Regelungen zur Wohnkostenübernahme sind Anreiz genug. Leider treffen weitere Einschränkungen bei Erwerbslosen und Geflüchteten, wie Politiker:innen wissen, bei der Wählerschaft auf wenig Widerstand, wenn nicht auf Zustimmung. Irgendwann wird auch die letzte Kernbelegschaft feststellen, dass die Erpressung nicht vor ihrem Werktor halt macht. Doch solange nur über das Geld geredet wird, wird über Sinn und Zweck, über Folgen und Folgeschäden der Arbeit nicht diskutiert. Dass die Arbeit einen wesentlichen Teil unseres Lebens ausmacht, das Leben aber viel mehr ist – das kommt in der Debatte nicht vor. Jedenfalls nicht ohne uns.
Sebastian Gerhardt, Jahrgang 1968, lebt und arbeitet in Berlin.