Sackgasse Stagnation

Wir sollten das Finanzkapital zu einer drastischen Entwertung zwingen
Lucas Zeise. Lunapark21 – Heft 27

Sechs Jahre nachdem die New Yorker Investmentbank Lehman Brothers kollabiert ist, sechs Jahre also, seitdem die große Weltwirtschafts- und Finanzkrise für jedermann sichtbar geworden war, kann man sich fragen, was aus dieser Krise geworden ist. Ist sie ein abgeschlossenes historisches Ereignis? Dauert sie fort und bestimmt die Wirtschaftsweise unseres Kapitalismus bis zu seinem Ende? Oder muss man sich die Krise wie einen Tsunami vorstellen, auf den weitere Wellen folgen, die aber erfreulicherweise immer kleiner und harmloser werden?

Mit den statistischen Daten kann man alle drei Sichtweisen in Einklang bringen. Im Herbst 2007, also schon zehn Monate vor der Lehman-Pleite ging die US-Konjunktur in die Knie. Es folgte ab Frühjahr 2008 ein dramatischer Konjunktureinbruch weltweit, der erst im Sommer 2009 in einem kurzen Wiederaufschwung mündete. Schon 2010 ging es – vor allem in Europa – wieder bergab. Die zarte Verbesserung der Konjunktur danach ist als einheitliche globale Konjunkturentwicklung nicht mehr wahrzunehmen. Während in Euro-Europa eine Art Dauerrezession herrschte, die nur in einigen Ländern wie Deutschland zwischendurch etwas aufgebessert wurde, gab es in den USA etwas höhere Wachstumsraten. Die Schwellenländer Asiens und Südamerikas wiesen nach der Wiedererholungsphase 2009/10 weiter ansehnliche Wachstumsraten auf, die aber überall hinter denen vor Ausbruch der Krise zurückblieben.

Keine Frage, das Wirtschaftswachstum auf dem Globus verlangsamt sich weiter und es ist seit Ausbruch der Krise niedriger als zuvor. Das ist allgemeiner Konsens. Ob und inwiefern das eine Konsequenz der Krise ist, bleibt umstritten. Nur der empirische Befund wird, weil er schlechthin kaum zu leugnen ist, akzeptiert, dass nach einer massiven Aufblähung der Vermögenswerte und hoher Kreditausweitung, vulgo Verschuldung und einem anschließenden Zusammenbruch der Vermögenswerte die betroffene Volkswirtschaft meist mindestens ein Jahrzehnt lang braucht, um sich von den Folgen des Desasters einigermaßen zu erholen. Wenig strittig ist auch, dass die besonders schlechte Situation in Europa mit der Staatsschuldenkrise im Eurogebiet und der ihr folgenden Austeritätspolitik zu tun hat.

Beispiel Japan
Die Folgen einer Spekulationsblase und ihrer Implosion lassen sich lehrbuchartig an der japanischen Volkswirtschaft ablesen. Nach Jahrzehnten sehr hohen Wachstums (und relativ niedrigen Profitraten) erlebte Japan zwischen 1985 und 1989 einen beispiellosen Aufschwung des Aktien- und Immobilienmarktes. Auf dem Höhepunkt dieses Booms Ende 1989 waren die Kapitalisierung der japanischen Börse höher als die der US-Börsen und der Grund und Boden der Innenstadt Tokios mehr wert als der des ganzen Bundesstaates Kalifornien. Wenn die Preise für Immobilien und Aktien steigen, wächst die Kreditvergabe entsprechend mit. Weil Sicherheiten in Form von Unternehmensanteilen und Immobilien in riesigen Beträgen zur Verfügung stehen, geben die Banken gern und zu günstigen Konditionen Kredit. Haushalte, Unternehmen und Banken verschuldeten sich massiv. Die Wende kam in Japan zum Jahreswechsel 1989/90. Mit den danach rapide sinkenden Preisen für Aktien und Immobilien waren die Sicherheiten viel weniger wert, Kredite wurden massenhaft dubios. Die Banken begannen zu wackeln. Im Bemühen, ihre Verschuldung zurückzuführen, schränkten die Haushalte ihren Konsum ein, die Unternehmen investierten nicht mehr. Die Nachfrage brach ein, und das Land fiel in die Rezession.

Allein der Staat war bereit und in der Lage, die fehlende Nachfrage zu ersetzen und sich zu diesem Zweck zu verschulden. Eine Vielzahl von Konjunkturprogrammen wurde in den zweieinhalb Jahrzehnten seitdem aufgelegt. Mit einer Staatsverschuldung von mehr als 200 Prozent, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist Japan in dieser Hinsicht Weltmeister. Die aktive Konjunkturstützungspolitik hat Japan vor einer sich beschleunigenden Abwärtsspirale (sinkende Einkommen, sinkende Nachfrage, sinkende Produktion, steigende Arbeitslosigkeit) bewahrt. Sie hat jedoch nicht ausgereicht, das Land vor einer Dauerstagnation zu bewahren, die bis heute anhält.

Der einfache Zusammenhang zwischen dem Zusammenbruch der Finanzspekulation und dem dann folgenden Nachfrageeinbruch war im Fall Japans besonders gut zu beobachten und zu verstehen, weil diese, zu Beginn der Krise zweitgrößte, heute hinter China immer noch drittgrößte Volkswirtschaft der Welt eine relativ geringe Verflechtung mit der übrigen Welt aufweist. Im Fall Nordamerika und Europa sind dagegen Sonderfaktoren wirksam, die das Bild weniger klar werden lassen. So spielte die Dominanz der USA und des Dollar bei Ausbruch und Verlauf der Krise eine wichtige Rolle. In Europa führte die gemeinsame Währung und damit die Machtlosigkeit der Euro-Einzelstaaten zu Sondereffekten.

Ben Bernanke, der bis Anfang dieses Jahres amtierender Chef der US-Notenbank war, hat sich vor seiner Zeit bei der Fed intensiv mit dem japanischen Problem und der japanischen Krankheit befasst. Sein Urteil lautete, der Staat und vor allem die Notenbank hätten entschiedener, schneller und mit mehr Wucht die Stützung der Nachfrage betreiben sollen. Das war deshalb auch sein Rezept, das er für die USA (und damit auch für die übrige kapitalistische Welt) zur Anwendung brachte. Daher die frühe Rückkehr zu niedrigen Zinsen schon im Herbst 2007 und sehr bald die Politik des Quantitative Easing, der massenhaften Geldschöpfung durch Aufkauf von Staatsanleihen. Ganz wirkungslos war diese Politik nicht. Dennoch ähnelt die Entwicklung in den USA (plus Europa) seit 2007 der Japans nach 1990.

Im wichtigsten Punkt war die US-Politik in der Krise exakt die gleiche wie die Japans. Auch die europäischen Regierungen verhielten sich so. Sehr viel Geld der Steuerzahler wurde aufgewendet, um die Banken und die von ihnen verwalteten Finanzvermögen zu retten. Dabei ist der Fall von Lehman Brothers das entscheidende Datum. In der ersten Phase der Finanzkrise von August 2007 bis Oktober 2008 mussten Banken, Geldmarkt- und Hedge-Fonds noch großflächig Kredite abschreiben. Nach den Verwerfungen, die die Pleite von Lehman auslöste, gingen die Staaten zur Übernahme aller faulen oder auch nur schlecht riechenden Kredite über. In Deutschland stellte die Bundesregierung 480 Milliarden Euro dafür bereit. Dieses Stützungsprogramm für deutsche Banken ist immer noch in Kraft, weil es jedes Jahr verlängert wird, und so dafür sorgt, dass die deutschen Banken, um ein Kanzlerin-Wort aufzugreifen, heute „stärker als vor der Krise sind“.

Finanzvermögen so groß wie dreifaches Welt-BIP
Die Finanzvermögen sind dank dieser konsequenten Rettungspolitik sowohl in Japan als auch im Rest der Welt noch fast so hoch wie vor dem jeweiligen Krisenbeginn. Sie machen weltweit etwa 300 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung der Weltwirtschaft aus. Das Finanzvermögen sind finanzielle Forderungen, die vom Schuldner bedient werden müssen. Sie werden von Unternehmen, Fonds, Stiftungen und vom Staat als Passiva auf der rechten Seite der Bilanz verbucht. Bei Privatpersonen erscheinen sie als einmalige oder regelmäßige Zahlungsverpflichtung, die aus ihrem Einkommen bedient werden müssen.

Um sich zu verdeutlichen, dass das Volumen, das das Dreifache der jährlichen Wirtschaftsleistung beträgt, viel zu hoch ist, kann man eine kleine Bierdeckelkalkulation vornehmen. Angenommen das Nominalwachstum der Weltwirtschaft betrüge sechs Prozent, so müsste bei einem Durchschnittszins von nur zwei Prozent der gesamte Einkommenszuwachs an die Finanzgläubiger fließen. Für Nettoinvestitionen oder Zuwachs bei der Nachfrage von Konsumgütern bliebe kein Platz.[*] Das Beispiel macht klar, dass der Zustand völlig unhaltbar ist. Die Weltwirtschaft befindet sich in einem Dauerzustand der Zahlungsunfähigkeit. Das äußert sich in der Schwäche der Banken, die laufend von den Notenbanken alimentiert werden müssen. Das Wachstum wird systematisch abgewürgt.

Theoretisch ist der Weg aus dieser Sackgasse der Zahlungsunfähigkeit einfach: Die Finanzvermögen müssten massiv entwertet werden, entweder durch drastische Vermögenssteuern oder, besser noch, durch einen großen Staatsbankrott, der, am besten, international veranstaltet würde. Praktisch allerdings – und das ist die politische Schwierigkeit – müsste man das Finanzkapital, das, wie wir spätestens seit Hilferding und Lenin wissen, die politische Macht hat, zu dieser Entwertung zwingen.

Lucas Zeise ist Finanzjournalist. Er schreibt außer für Lunapark 21 regelmäßig für die junge welt, die ZU und die Marxistischen Blätter.


[*] Diese Überlegung ist von André Kühnlenz’ Blog weitwinkelsubjektiv übernommen. Der blog-Autor ging dort nur von einem nominalen Wachstum von 3 Prozent aus und schrieb am 24.8.2014 wie folgt: „Nun hat die niedrige Verzinsung in der Tat damit zu tun, dass das Finanzvermögen auf der Welt […] in Privathaushalten und Unternehmen sehr groß geworden ist. Wie wir gesehen haben, macht es schon seit Jahren mehr als 300 Prozent des jährlichen Einkommens der Welt aus: bei 1 Prozent Verzinsung müsste der gesamte Einkommenszuwachs auf der Welt (von aktuell gut 3 Prozent) für die Verzinsung aufgebracht werden.“

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