Stuttgart 21 – ein unanständiger, politischer Betrug

Vorwort zum Buch von Peter Lenk „Zoff im Spätzlesumpf“

Manche halten ihn für einen spöttischen Spaßmacher. Andere für einen gefährlichen Sarkasten. Die Rede ist von Peter Lenk. Lange genug kenne ich ihn, um zu wissen, dass beides zutrifft – und doch nichts als eine dumme Verkennung ist. In Wirklichkeit verbirgt sich dahinter ein Künstler, der uns zwar gern den Spiegel vors Gesicht hält, aber zugleich liebevoll lachend, wütend empört und tief verstört die menschliche Komödie begleitet.

Jahrzehnte ist es her, seit ich ihm das erste Mal begegnet bin. An der „Laube“ in Konstanz hatte er einen Brunnen gestaltet. In den Medien wurde gebührend ausposaunt, dass darin einer meiner hochgeschätzten Berufskollegen als eher lächerliche Verkörperung des automobilen Straßenverkehrs karikiert werde. Erregt und wild entschlossen überfiel mich der Betroffene in meinem Büro, um mich zu veranlassen, gegen eine solche Beleidigung sofort und mit allen Mitteln zu Felde zu ziehen. Durchaus einiger Mühen bedurfte es, ihn schließlich zu überreden, doch lieber erst einmal, vielleicht sogar mittels eines persönlichen Zusammentreffens, herauszufinden, wer und was sich wohl hinter diesem unverschämten Künstler verbergen mochte – jenem Kerl, der dann kurz darauf illegal und unter nassforschem Übertölpeln des städtischen Gemeinderats am Hafen eine unanständige Großplastik errichten sollte.

Das schien mir umso naheliegender, als ich selbst anlässlich einer Veranstaltung im ehrenwerten Gebäude einer hochansehnlichen schweizerischen Großbank schon durch eine mir verdammt ähnlich sehende Plastik überrascht worden war, über deren Haupt nach Art eines Heiligenscheins ein dem klassischen Daimler-Stern ähnelndes Gebilde schwebte.

Die sich anschließende Begegnung mit jenem Lenk endete dann nicht etwa in einem handfesten Geraufe gestandener schwäbischer Mannsbilder, sondern entwickelte sich recht bald zu einem fröhlichen und nicht ganz trockenen Beisammensein. Begleitet war es von der Übereinstimmung der Beteiligten, dass es uns allen miteinander wohl kaum je zum Schaden gereichen dürfte, hie und da zu bedenken, dass niemand unter uns so ganz frei von Fehlern ist. An diese Weisheit haben sich Peter Lenk und ich uns seither immer wieder erinnert, wenn wir über seine neusten Missetaten schmunzelten – etwa über einen tief beleidigten dichterischen Großfürsten und dessen eisläuferische Reitkünste auf dem Überlinger Landeplatz.

Stuttgart 21 gehörte dazu. Freilich verbarg sich für mich hinter der Begegnung mit dieser Skulptur von Anfang an weit mehr als nur ein harmloses, ein amüsiertes oder womöglich sogar schadenfrohes Gelächter. Was sich der Künstler hier zugemutet hat, ist der Versuch, ein in vielfacher Hinsicht zugleich komisches wie tragisches Geschehen der politischen Zeitgeschichte bildhauerisch einzufangen.

Es geht dabei um einen veritablen Skandal, um einen bewussten und gewollten politischen Betrug. Die dem Bauprojekt zu Grunde liegende Idee mag ursprünglich für viele (auch für mich) auf den ersten Blick reizvoll erschienen sein. In die Tat umgesetzt wurde sie jedoch, indem einer scheinheilig angesetzten Volksbefragung Kostenangaben vorgegaukelt wurden, von denen die Verantwortlichen genau wussten, dass sie niemals einzuhalten sein würden.

Die Laokoon-Skulptur nimmt sich heraus, an die nicht geringe Zahl derjenigen zu erinnern, die unmittelbar dafür verantwortlich waren (und sind), das herbeigeschwindelte Projekt zu verwirklichen. Manche davon mögen sicherlich guten Glaubens gewesen sein, dass es sich tatsächlich um die ihnen vorgegaukelte Großtat handelt, andere nur leichtfertig. Einige der Beteiligten haben freilich von Anfang an in vollem Bewusstsein an der Täuschung der Wahlberechtigten mitgewirkt – eben: an einem schwerwiegenden, einem im Sinne des Wortes unanständigen politischen Betrug.

In diesem Sinne leistet die Skulptur von Peter Lenk einen gewichtigen Beitrag zur Wahrung und Stärkung der demokratischen Kultur in unserem Land. Künstlerisch ist sie ohnehin ein Meisterwerk. Der Stadt Stuttgart hätte es wahrlich wohlgetan, sie in ihren Mauern zu halten.

Schade…

Der hier wiedergegebene Text ist das Vorwort, das Edzard Reuter für das Buch „Peter Lenk, Zoff im Spätzlesumpf – S21-Denkmal in Stuttgart“ schrieb (Verlag Stadler, Konstanz, 65 Seiten, 15 Euro, ISBN 978-3-7977-8). Peter Lenk fertigte die Skulptur im Zeitraum 2018 bis 2020. In ihrem Mittelpunkt steht ein nackter Herr, der dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten ähnelt und der von Schlangen – wie einst Laokoon – gewürgt wird. Im Fall der Skulptur handelt es sich um ICE-Schlangen. Auf diesen Schlangen wiederum tummeln sich Dutzende Figuren, die in der einen und anderen Weise mit dem Skandalbau Stuttgart 21 verbunden sind. Auf den ersten und letzten drei Seiten des Büchleins sind die rund 1000 Namen derjenigen abgedruckt, die es mit ihren Spenden in einer Gesamthöhe von 172.000 Euro ermöglichten, dass die Material- und Fremdarbeitskosten für die Fertigung der Skulptur finanziert werden konnten. Der „Schwäbische Laokoon“ konnte in Stuttgart an prominenter Stelle, vor dem Stadtpalais, am 26. Oktober 2020 aufgestellt werden. Auf Druck der Stadtverantwortlichen wurde die Skulptur nach knapp acht Monaten öffentlicher Präsenz am 24. Juni 2021 wieder abgebaut. Der als Ersatzort angebotene Stockholmer Platz – eine Betonwüste im Abseits – war nicht akzeptabel.

Seither steht die Skulptur im „Museumsgarten“ von Peter Lenk in Bodman, Ludwigshafen, am Bodensee. Es gibt Gespräche auf unterschiedlichen Ebenen – mit der Stadt, mit der Deutschen Bahn – mit dem Ziel einer Rückkehr des Werks nach Stuttgart.