„Unser Kopfbahnhof soll sein Jubiläum würdig begehen“
Am Sonntag, dem 23. Oktober 2022, wird es 100 Jahre her sein, dass der Hauptbahnhof an der Schillerstraße, also unser Kopfbahnhof, in den frühen Morgenstunden seinen Betrieb aufnahm. Dieser Jahrestag soll würdig begangen werden.
Vor 35 Jahren, 1987, hat Matthias Roser die Geschich- te des Stuttgarter Hauptbahnhofs ausführlich doku- mentiert. Damit diese Ergebnisse einer breiten Öffentlichkeit bewusst gemacht werden, konnte er die damalige Bundesbahndirektion Stuttgart gewinnen, ein großes Jubiläumsfest „65 Jahre“ zu veranstalten. Als Ausstellungsobjekt wurde extra ein TGV nach Stuttgart geholt, der da- mals noch nicht eigenständig auf dem Netz der DB ver- kehren durfte. Die Festreden von Oberbürgermeister Rommel und DB-Vorstand Ulf Häusler preisen den Hauptbahnhof, wie ich es nicht besser machen könnte. Aber schon zehn Jahre später, also 1997, wollten OB und DB davon nichts mehr wissen und begeisterten sich nur noch für Stuttgart 21. Es gab einen Film zu „75 Jahre Hauptbahnhof“, aber keine Präsenz in der Öffentlichkeit. Auch zum 90-jährigen Jubiläum 2012 gab es keine Festveranstaltung. Nach Schwarzem Donnerstag, Schlichtungsrunden, angeblichem Stresstest, Abriss der Seitenflügel und Berufung auch der Grünen auf eine Legitimation des Projektes durch eine unsachliche Volksabstimmung konnte keine Feststimmung aufkommen. Im Jahr 2022 soll es anders werden.
Was wollen wir denn feiern? Am 23. Oktober 1922 ging der Kopfbahnhof mit seiner ersten Baustufe, den Gleisen 9 bis 16, Turm und großer Schalterhalle in Betrieb. An der Stelle, wo jetzt die Gleise 1 bis 8 liegen, sich kleine Schalterhalle und Mittelausgang befinden, lagen damals noch die Gleise zum Stuttgarter Zentralbahnhof an der Bolzstraße. Dort gab es zwar auch zwei Hallen mit acht Gleisen, aber nur vier Bahnsteiggleise. Am Ende befanden sich zwei Drehscheiben für die Dampflokomotiven. Dieser völlig überlastete Bahnhof hörte am 23. Oktober 1922 exakt um 2.00 Uhr betrieblich auf zu bestehen, und der neue Hauptbahnhof ging mit dem legendären Zug 561 nach Aalen um 4.15 Uhr in Betrieb. In der Fachwelt wurden die Kürze der Umstellungsphase und die bis ins Detail durchdachten Arbeitsabläufe hervorgehoben.
Die Inbetriebnahme vor 100 Jahren war eine Meisterleistung der württembergischen Ingenieure und Eisenbahner. Die Motivation war sicher eine andere als im heute weit aufgegliederten DB-Konzern und bei so mancher Privatbahn, die mit einem Niedrigpreis die Ausschreibung des Landes gewonnen hat. Es tut einfach gut, den Präsidenten Dr. Sigel aus dem Amtsblatt der Reichsbahndirektion Stuttgart vor der Inbetriebnahme zu zitieren:
„… Aber auch das außerhalb Stuttgarts stationierte Personal kann zu seinem Teil die Bewältigung dieser Aufgabe dadurch fördern, daß für die strenge Einhaltung des Fahrplans für alle Züge im Verkehr mit Stuttgart Hbf. gesorgt wird. Mit mir werden es alle beteiligten Eisenbahner als Ehrensache ansehen, daß der Betrieb im neuen Bahnhof sofort glatt läuft. Ich vertraue daher darauf, daß jeder einzelne das Seinige hierzu beitragen und daß die Tüchtigkeit und der gute Ruf der schwäbischen Eisenbahner sich auch bei dieser Gelegenheit aufs neue bewähren wird“.
Es war dann beispielsweise so organisiert, dass die Bahnhofsvorsteher im Umland von Stuttgart am 23. und 24. Oktober persönlich die pünktliche Abwicklung aller Arbeiten überwachen mussten.
Der Baubeginn für den Hauptbahnhof lag im Frühjahr 1914. Nur wenige Monate später brach der Erste Weltkrieg mit vielfältigen Störungen des Bauablaufs aus. Im Frühjahr 1917 wurden die Arbeiten komplett eingestellt und erst im Oktober 1919 wieder aufgenommen. Die reine Bauzeit lag also bei recht genau sechs Jahren. Vergleiche zu aktuellen Projekten drängen sich auf. Ebenso drängt sich ein Vergleich auf, wenn man bedenkt, dass schon deutlich vor dem Bau des Personenbahnhofs der Abstellbahnhof und das Bahnbetriebswerk Rosenstein mit Lokschuppen und Werkstätten begonnen und bereits 1919 in Betrieb genommen wurden. Mit dem Hauptbahnhof gingen auch die entsprechenden Zulaufstrecken in Betrieb, die sich mit den einmaligen Überwerfungsbauwerken (Brücken und Tunnel) kreuzungsfrei nach Bad Cannstatt, Feuerbach und Böblingen wenden und in der mittleren Ebene den Abstellbahnhof zunächst mit drei, wenige Jahre später mit fünf Verbindungsgleisen an den Kopfbahnhof anbinden.
Die Leistungen beim Bau und in nunmehr fast 100 Jahren Bahnbetrieb, das muss in diesem Jahr einfach gefeiert werden. Aber in der Öffentlichkeit sind keinerlei entsprechende Vorbereitungen bekannt – gezielte Nachfragen bestätigten dies. Daraufhin haben engagierte verkehrstechnisch und geschichtlich interessierte Bürger ein Festkomitee „100 Jahre Hauptbahnhof Stuttgart“ gegründet. Sie planen verschiedene Veranstaltungen im Vorfeld des Jubiläums und ein großes Festwochenende am Samstag und Sonntag, dem 22. und 23. Oktober.
Bereits am 20. Oktober wird im Großen Saal des Stuttgarter Rathauses eine Veranstaltung mit Vorträgen zur bahn- und baugeschichtlichen Würdigung des Stuttgarter Hauptbahnhofs stattfinden. Natürlich werden auch ausgewählte Fotografien aus der Zeit des Baus und aus 100 Jahren Bahnbetrieb präsentiert. An diesem Abend wird erstmals die Möglichkeit bestehen, die von namhaften Denkmalschützern vorbereitete Festschrift zu erwerben. Am Wochenende werden dann öffentliche Sonderfahrten mit historischen Zügen zwischen Hauptbahnhof, Esslingen, Ludwigsburg und Stuttgart-Vaihingen stattfinden.
Über diese Initiativen haben wir verschiedene Medien informiert und eine durchweg überrascht positive Reaktion erhalten. Die Aktionen sollen auf eine breite Basis gestellt werden; so laufen Abstimmungen mit den Verkehrs- und Umweltverbänden, aber auch mit den Miniaturwelten Stuttgart, dieser einmaligen Modelldarstellung der Stuttgarter Bahnanlagen mit dem Stand der 80er Jahre.
Auch Bahn, Stadt und Land wurden über unser Vorhaben bereits im Mai informiert. Aber sie können sich offenbar keine Beteiligung an Feierlichkeiten zu Ehren des Kopfbahnhofes vorstellen. Wir haben nicht einmal Nachfragen zum Konzept unserer Veranstaltungen erhalten.
Mit der Verdeutlichung der Leistungsfähigkeit des Stuttgarter Bahnhofs als Ganzes im Rahmen der Festveranstaltungen wollen wir natürlich auch sein Potential für den Bahnbetrieb der Zukunft verdeutlichen. Mit etwas Nachdenken kann dann die Idee eines Abrisses dieser gut funktionierenden Anlagen sehr schnell als das erkannt werden, was es wäre: ein Schildbürgerstreich.
Um dies zu vermeiden, gilt: Oben bleiben!