Harte kapitalistische Realitäten und nichtkapitalistische Kollektive

Linke Errungenschaften in der Ökonomie Kataloniens – linke Positionen in der Wirtschaftspolitik

Bei einem Besuch in Barcelona Ende November scheint das Leben – schon eingetaucht in das übliche, weihnachtliche Lichtermeer – seinen gewöhnlichen Gang zu gehen. Nur wenige Fahnen hängen von den Balkonen und aus den Fenstern – sei es die Estelada, die katalanische Fahne mit weißem Stern auf blauem Grund als Zeichen der Unabhängigkeit, sei es die Verbindung aus spanischer und katalanischer Fahne derer, in deren Brust zwei Herzen schlagen oder sei es, ganz selten, die spanische Fahne als Zeichen gegen die Unabhängigkeit. Die Guardia Civil ist wieder aus den Straßen verschwunden, auch wenn die Schiffe, auf denen die Angehörigen dieser Polizeieinheit stationiert sind, noch im Hafen liegen.

Ein anderes Bild bieten die Parteilokale, in denen fieberhaft der Wahlkampf für die Wahlen zum katalanischen Parlament, die am 21. Dezember 2017 (und damit nach Redaktionsscluss dieser LP21-Ausgabe) stattfinden, vorbereitet wird.

Dennoch nimmt sich Ricard Torné Codina, bei der CUP verantwortlich für Ökonomie, Zeit, um mit dem Autor über die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Unabhängigkeitsprozesses in Katalonien zu diskutieren.

Die erste Frage zielt auf die 2.724 Unternehmen, die Katalonien seit dem Referendum am 1. Oktober 2017 angeblich verlassen haben. Zu Recht weist Ricard Torné darauf hin, dass ´verlassen haben´, hier nichts anderes bedeutet, als dass diese Unternehmen ihren juristischen (und teilweise auch ihren für die steuerliche Veranlagung maßgeblichen) Sitz in andere comunidades autonomas (Bundesländer) verlegt haben. Dies bedeutet jedoch nur, dass irgendwo ein Büro angemietet wurde, um so eine formal-juristische Verlegung der Unternehmenszentrale zu realisieren. Von Produktionsstätten, die aus Katalonien verlegt worden sind, wird nichts berichtet. Ein Blick auf die entsprechende Seite der katalanischen Statistikbehörde zeigt darüber hinaus, dass am 1. Januar 2017 in Katalonien insgesamt 684.290 Unternehmen registriert waren. Damit haben weniger als 0,3 Prozent der Unternehmen Katalonien verlassen – und dies fast ausschließlich auf dem Papier. Es geht hier darum, so Ricard Torné, den Politikerinnen und Politikern in Madrid zu Gefallen zu sein. Eine wirkliche Flucht aus Katalonien gibt es damit nicht.

Auch dem Fall des Madrider Aktienindex IBEX 35 von gut 11.000 Indexeinheiten im Mai auf knapp über 10.000 Punkten Ende November misst er keine große Bedeutung bei. Die eine Sache seien die spekulativen Bewegungen an der Börse, die der Unabhängigkeitsbewegung keine Sorgen machten. Eine ganz andere Sache seien Bewegungen in der realen Wirtschaft, die jedoch völlig unabhängig davon sind, ob Katalonien Teil Spaniens oder unabhängig ist. „Die Basis der katalanischen Ökonomie ist intakt.“ So Ricard Torné. Es gibt einen breiten Mittelstand, der die katalanische Wirtschaft trägt. Dank des in Katalonien exzellenten Schulsystems seien die Menschen gut ausgebildet. Die Löhne und Gehälter (allerdings auch die Lebenshaltungskosten) liegen deutlich über dem spanischen Durchschnitt.

Ricard Torné sieht auch keinen Nachteil für die Ökonomie eines kleinen, selbständigen Kataloniens, verglichen mit einem Katalonien als Teil von Spanien. Im Gegenteil. Angst müsse vielmehr der korrupte spanische Zentralstaat haben. Im Fall eines Austritts Kataloniens und möglicherweise auch des Baskenlandes aus dem spanischen Zentralstaat würden diesem die – neben der Region Madrid – wirtschaftsstärksten Regionen verloren gehen. Ein Ausschluss eines unabhängigen Kataloniens aus dem EU Binnenmarkt wäre also – so Ricard – „ein Tritt Madrids gegen das eigene Schienbein“.

Martin Brami und Prof. Gabriel Felbermayr vom deutschen IfoInstitut liegen hier im übrigen auf der gleichen Linie. Nach ihren Untersuchungen lässt sich die Behauptung, kleine Staaten könnten nicht wirtschaftlich nicht erfolgreich sein, nicht belegen. In der EU haben die kleinen Staaten (Irland, Österreich, Niederlande) die höchsten Pro-Kopf-Einkommen (FAZ vom 13. November 207). Die Kleinstaaten Schweiz, Norwegen und Singapur gehören zu den reichsten Staaten der Welt. In Wirklichkeit gehe es schlicht darum, mit der Drohung eines Ausschlusses aus der EU Nachahmer abzuschrecken. Diese Behauptung folge „keiner wirtschaftlichen Rationalität“.

Auf einem ganz anderen Blatt steht, dass die CUP der EU in ihrer jetzigen Form gänzlich ablehnend gegenüber steht (siehe das Interview mit Gabriela Serra Frediani). Auch Carles Puigdemont stellt inzwischen den Verbleib Kataloniens in der EU in Frage.

Ein Thema unseres Gesprächs ist der Finanzausgleichs, der immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen der Zentralregierung und der Regierung Kataloniens führt. Oft heißt es, das ´reiche´ Katalonien, wolle nur unabhängig werden und seinen Reichtum für sich zu behalten. Ricard Torné kann über solche Behauptungen nur mit dem Kopf schütteln. Der Finanzausgleich werde einseitig von Madrid aus dirigiert und sei mehr klientelistisch ausgerichtet. Ein sozialer Ausgleich zwischen den einzelnen Bundesländern werde damit nicht herbeigeführt. Außerdem diene er dazu, die Taschen der korrupten politischen Kaste in den von der PP regierten Bundesländern zu füllen.

So kommen im „reichen“ Katalonien auf eine Lehrkraft 12,5 Schülerinnen und Schüler, im – vermeintlich armen – Galicien sind es 10,1, in der Extremadura 11,2 (spanischer Durchschnitt: 12,1). Ähnlich sieht es bei der medizinischen Versorgung aus: in Madrid kommen 6,41 Ärztinnen bzw. Ärzte auf 1000 Menschen, in Katalonien 5,25, in Aragon 6,27 (spanischer Durchschnitt: 5,13). Ein Ausgleich müsse also zu Gunsten der in dieser Hinsicht benachteiligten Menschen in Katalonien stattfinden.

Gegen einen Ausgleich auf EU- oder spanischer Ebene sei nichts zu sagen. Er müsse jedoch transparent sein und den wirklich Benachteiligten zu Gute kommen.

Von hieraus ist der Bogen schnell geschlagen zu den Forderungen, die die CUP an eine soziale und gerechte Wirtschaftsordnung stellt und was es an Erreichtem in Katalonien gegen den spanischen Staat zu verteidigen gilt. Das fortschrittliche Kooperativengesetz vom 9. Juli 2015 ist, wie könnte es anders sein, der in Madrid regierenden PP ein Dorn im Auge. Kooperativen werden in Katalonien steuerlich besser gestellt und auch sonst vom katalanischen Staat unterstützt. 2017 werden 208 Kooperativen gezählt, die zum Großteil in der CIC (Cooperativa Integral Catalana) zusammengeschlossen sind. Die Aktivitäten der CID orientieren sich ausdrücklich auf eine Wirtschaft, die sich gegen das kapitalistische System richtet. Insbesondere sollen die Grundbedürfnisse der Bevölkerung (Schule, Gesundheit, Wasser, Elektrizität etc.) dem kapitalistischen Sektor entzogen und staatlich oder kollektiv organisiert werden. So bezieht Ricard Torné seinen Strom von Somenergia, einer Kooperation, die ihre Mitglieder mit alternativer Energie versorgt und damit das Monopol von ENDESA in Frage stellt. Er hat sein Konto bei FIARE, einer auf die Gemeinwirtschaft orientierten Bank, die ebenfalls als Kooperative organisiert ist. Den Handy-Vertrag hat er mit Som Conexio abgeschlossen, ebenfalls einer Kooperative.

So baut sich in Katalonien eine Wirtschaft von unten auf, die mit nicht kapitalistischen Strukturen einen – kleinen – Gegenpol zum Neoliberalismus setzt. Da sowohl die Regierung Kataloniens als auch die Regierung Barcelonas (mit Ada Colau als Bürgermeisterin für Catalunya en Comú) diese Entwicklungen fördert und finanziell unterstützt, besteht ein permanenter Gegensatz zur neoliberalen Politik Madrids.

Nur vordergründig geht es um Zentralstaat gegen Unabhängigkeit bzw. Autonomie. Im Hintergrund geht es um die Interessen der großen multinational agierenden spanischen Unternehmen, die ihre Parteigänger in PP und Ciudadanos in Stellung bringen, die, zusammen mit der PSOE, im Madrider Parlament eine deutliche Mehrheit haben.

In einem Gegensatz zu diesen stehen die linken Mehrheiten in Katalonien und Barcelona, die andere Schwerpunkte setzen, die auf kleine, mittelständische Unternehmen, Kooperativen und staatliche Daseinsvorsorge orientieren und damit dem Großkapital und seinen neoliberalen Privatisierungs-Bestrebungen Grenzen setzen.

Hier würden sich durch die Unabhängigkeit neue, breitere Räume für eine anderes Wirtschaften und eine sozialere Politik öffnen, betont Ricard Torné zum Abschluss unseres Gesprächs.

 

Wie die Unabhängigkeitsbestrebungen in Katalonien im Allgemeinen und die wirtschaftlichen Folgen einer Unabhängigkeit im Besonderen zu bewerten sind, ist auch unter Linken umstritten. Diese Meinungsunterschiede bestehen auch unter den Macherinnen und Machern von Lunapark21, wie eine intensive Diskussion auf dem letzten Plenum unseres Projekts gezeigt hat. Der hier veröffentlichte Artikel legt im Wesentlichen die Meinung der CUP aus Katalonien dar. Im nächsten Heft (41), das im Frühjahr erscheinen wird, lassen wir die gegenteilige Meinung zu Wort kommen. Dann können wir auch die Wahlergebnisse vom 21.12.17 und die weiteren politischen und ökonomischen Entwicklungen kommentieren.