„Eine soziale, ethnische und territoriale Apartheid“

Leere Worte des französischen Premierministers zu den Trabantenstädten (Banlieues)
Bernard Schmid. Lunapark21 – Heft 29

Und plötzlich haben sie die Banlieues wiederentdeckt. Seit den spektakulären Morden und Attentaten in Paris von Anfang Januar 2015 tauchen sie wieder im politischen Diskurs auf, die Trabantenstädte. Jene peripheren Zonen des urbanen Raums, in denen im Großraum Paris immerhin sieben bis acht Millionen Menschen leben, auf einer Gesamtfläche von ähnlicher Größe wie das Saarland, wobei sich Hochhaus- und Plattenbauviertel mit historischen Stadtkernen, Reihenhaussiedlungen und einigen inselartigen eingesprengten Villenvierteln abwechseln. Innerhalb dieser Trabantenstadtzonen, die nicht nur rund um Paris, sondern auch rund um Lyon und andere größere Städte zu finden sind, wurden in den letzten Jahren rund 700 so genannte zones urbaines sensibles (ZUS) vom Staat definiert, also „soziale Brennpunkte“, die – theoretisch – besondere Aufmerksamkeit verdienen. In ihnen beträgt die durchschnittliche Arbeitslosigkeit 24 Prozent (2014), gegenüber derzeit offiziell zehn Prozent in ganz Frankreich. Real liegt sie in vielen der betreffenden Kommunen bei bis zu 40 Prozent.

In den letzten 25 Jahren, mit dem Rückgang der traditionellen Industrien und dem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf die genannten Quoten, sind die Banlieues oft zum Brennpunkt der sozialen Probleme geworden. Die Kombination von relativ hohem Immigrantenanteil (fast alle Einwanderungsströme wurden in diese Zonen gelenkt, so lange dort noch die Industrieanlagen konzentriert waren), Ghetto-Tendenzen, sozialer Perspektivlosigkeit und oft auch menschenfeindlicher Architektur wird vor diesem Hintergrund zum explosiven Cocktail.

Diese Problemmischung lässt alle gesellschaftlichen Phänomene leicht in einem „ethnisch“-kulturalistischen Zerrspiegel erscheinen, der aus ihnen vermeintlich „interkulturelle“ Schwierigkeiten oder aber „Integrationsprobleme bestimmter Bevölkerungsgruppen“ werden lässt. Dabei muss jedoch einer Legendenbildung entgegen getreten werden: Es gibt in den französischen Banlieues zwar gewisse Ghetto-Tendenzen, aber in Wirklichkeit keine „ethnisch“ strukturierten oder gar „ethnisch reinen“ Zonen. Anders als beispielsweise in bestimmten Vierteln vieler US-Großstädte (wie den dortigen Schwarzenvierteln oder Chinatowns) leben selten vorwiegend oder nur Menschen einer gemeinsamen nationalen oder „ethnischen“ Herkunft auf einem Raum. Frankreichs Trabantenstädte unterscheiden sich schon deswegen von US-amerikanischen „Ghettos“ – übrigens auch wegen einer doch wesentlich geringeren Präsenz von Gewalt.

Um die französischen Trabantenstädte war es in den letzten Jahren in der allgemeinen gesellschaftlichen Debatte weitgehend ruhig geworden. Die letzten massiven Unruhen hatten flächendeckend im Oktober/November 2005 – von der Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois ausgehend – und punktuell im November 2007, rund um die Pariser Trabantenstadt Villiers-le-Bel, stattgefunden. Seitdem finden Gewaltausbrüche fast nur noch örtlich Beachtung.

Auf den „Schock“ der massiven Riots vom Herbst 2005 folgte zunächst eine Welle von Absichtserklärungen. Man wolle nun wirklich etwas gegen die alltägliche Diskriminierung von Migrantenkindern oder Trabantenstadtbewohnern unternehmen. Am 31. März 2006 unterzeichnete der damalige Präsident Jacques Chirac ein Gesetzespaket mit dem schönen Namen „Gesetz für Chancengleichheit“ (Loi pour l’égalité des chances). Es enthielt vor allem einige wirtschaftsliberale Bestimmungen, die damit gerechtfertigt wurden, sie würden dazu beitragen, für die Zielgruppe, also etwa sozial ausgegrenzte Jugendliche nun zahllose neue Jobs zu schaffen. Zu den umstrittensten Bestimmungen, die die damalige Regierung unter diesem Vorwand durchzusetzen versuchte, zählte der CPE (Contrat première embauche), ein neuer Typus von Arbeitsvertrag für unter 30jährige, mit dem der Kündigungsschutz für eine Dauer von bis zu zwei Jahren vollständig aufgehoben wurde. Unter dem Druck der Straße, also massiver Jugend-, Schüler- und Studierendenproteste, musste das Projekt CPE dann Anfang April 2006 schnell wieder zurückgezogen werden.

Das oben zitierte Gesetz enthielt aber auch zumindest eine Bestimmung, die nicht aus einem wirtschaftsliberalen Angriff auf arbeitsrechtliche Bestimmungen bestand. Es handelte sich um die Legalisierung der so genannten „anonymen Bewerbung“, den CV anonyme: Dieses neue Verfahren sollte es künftig ermöglichen, dass Bewerberinnen und Bewerber für eine Arbeitsstelle nur unter Berücksichtigung von Ausbildung und/oder Berufserfahrung zum Gesprächstermin vorgeladen werden sollten. Dass zahllose Lebensläufe von vornherein wegen „falscher“ Hautfarbe, Herkunft oder Adresse (in schlecht beleumdeten Trabantenstädten) aussortiert werden und im Müll landen, sollte dadurch vermieden werden.

Doch keine der folgenden Regierungen war bereit, die wohlklingenden Ankündigungen zur Diskriminierungsbekämpfung auch in die Tat umzusetzen; die erforderlichen Ausführungsverordnungen zu dem Gesetz wurden nicht beschlossen. Solche konkretisierenden Ausführungsbestimmungen wären aber erforderlich gewesen, um das Gesetz in die Praxis umzusetzen, denn erst aus ihnen hätte sich ergeben, welche persönlichen Angaben etwa im Bewertungsverfahren erhoben werden dürfen oder müssen. Am 9. Juli 2014, also über acht Jahre nach dem formellen Inkrafttreten des Gesetzes, verurteilte der Conseil d’Etat – der oberste Verwaltungsgerichtshof – deswegen den französischen Staat, wegen Nichtbeachtung seiner eigenen Gesetzgebung.

Doch nun rückten die Trabantenstädte erneut in den Blickpunkt, nämlich nachdem die Lebensläufe einiger der Tatbeteiligten an den Attentaten vom 7. und 9. Januar 2015 sowie ihrer Komplizen bekannt wurden. Nicht alle von ihnen stehen im unmittelbaren Zusammenhang mit der sozialen Misere der Trabantenstädte: Die beiden Attentäter, die die Redaktion von Charlie Hebdo angriffen, wuchsen nicht in einer Banlieue auf, sondern in einem Stadtteil von Paris, wenngleich in extrem zerrütteten und traumatisierenden Verhältnissen (ihr Vater war früh abgehauen und früh verstorben, ihre Mutter verdiente ihren Lebensunterhalt mit Prostitution, beging Selbstmord und hinterließ fünf Kinder im vorpubertären Alter). Der frühere „Guru“ der salafistischen Sekte, der die beiden Brüder Chérif und Saïd Kouachi ideologisch massiv beeinflusst hatte, Farid Benyettou, hingegen lebt sozial relativ abgesichert, hat laut eigenen Angaben „im Leben in Frankreich nie Diskriminierung erfahren“ und seiner Ideologie heute offiziell abgeschworen. Hingegen kam der dritte Attentäter, Amedy Coulibaly, der am 9. Januar einen koscheren Supermarkt in Paris bewaffnet attackierte, aus dem Herzen der sozialen Brennpunkte in den Banlieues. Er wuchs in Grigny südlich von Paris auf. Sozial verhärtete er sich, nachdem sein bester Freund im Jahr 2000 bei einer kleinkriminellen Tat durch die Polizei erschossen wurde – es gab nie ein Ermittlungsverfahren. Coulibaly machte eine Straftäterkarriere, ging 2008/09 ins Gefängnis, verhärtete sich dort weiter und tauchte über das Häftlingsmilieu in die salafistische Szene ein. Über ihn und sein Umfeld wurde auch eine Verbindungslinie zwischen den Pariser Attentaten und den Bewohnern der Banlieues hergestellt – was ohne Zweifel deren Wahrnehmung als bedrohliche Kulisse in anderen Gesellschaftsschichten noch verstärkt haben dürfte.

Am 20. Januar 2015 merkte Premierminister Manuel Valls in einer Rede kritisch an, manche Spaltungslinien zwischen Gruppen in der französischen Gesellschaft erklärten sich auch so: „Ja, es gibt eine Form der sozialen, ethnischen, territorialen Apartheid in diesem Land.“[1] Eine Anspielung, die in Anbetracht der massiven räumlichen Segregation zwischen sozialen Gruppen, die es in dieser Form und diesem Ausmaß sonst in Europa nirgendwo gibt, durchaus nachvollziehbar ist. Dafür wurde er vom konservativen Oppositionsführer Nicolas Sarkozy heftig und massiv angegriffen – doch in Umfragen gaben 54 Prozent Valls gegen Sarkozy ausdrücklich Recht.[1]

Nur: Konsequenzen dürfte dies voraussichtlich keine haben. Ähnliche Erkenntnisse trug auch der damalige Präsident Jaques Chirac im Winter 2005/06 nach den damaligen Unruhen in den Trabantenstädten vor. Es blieb beim verbalen Schockbekenntnis – und dabei, dass das oben erwähnte Gesetz auf den Weg gebracht wurde.

Wird es auch dieses Mal bei Worten ohne positive Veränderungen bleiben? Die nähere Zukunft wird es uns zeigen.

Anmerkungen:

[1] Vgl. http://www.lemonde.fr/politique/article/2015/01/21/apartheid-en-france-valls-leve-un-tabou_4560357_823448.html

[2] Vgl. http://www.lexpress.fr/actualite/politique/apartheid-en-france-valls-soutenu-par-54-des-francais_1644185.html

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