Boykott und Pandemie

Kubas Gesundheitswesen im Stresstest

Ohne Geld kein Arzt. Wer krank wurde und medizinische Hilfe benötigte, musste zahlen können. Die Gesundheitsversorgung auf Kuba war bis 1959 keinen Deut besser als in den anderen lateinamerikanischen Ländern. Die wenigen Ärzte arbeiteten vorwiegend in den Städten, die Betreuung der ländlichen Bevölkerung war praktisch inexistent. Als die Revolutionäre mit der Verstaatlichung und Umstrukturierung der Medizin begannen, verließen innert eines Jahres die Hälfte der Ärzte die Insel in Richtung Florida.

Kubanisches Gesundheitswesen als Modell

Heute gibt es auf der größten der karibischen Inseln mehr als 95.000 Ärzte und Ärztinnen, in Relation zur Bevölkerung doppelt so viele wie in den USA. Kuba kann 20.000 Ärzt:innen ins Ausland schicken, ohne die Versorgung der eigenen Bevölkerung zu gefährden.

2019 lag die mittlere Lebenserwartung auf Kuba mit knapp 79 Jahre ebenso hoch wie in den USA. Hinsichtlich der Neugeborenen-Sterblichkeit schneidet Kuba sogar besser ab. Die Weltgesundheitsorganisation empfahl das kubanische Gesundheitssystem als Modell, das zumindest in allen weniger entwickelten Ländern übernommen werden sollte.

Die Erfolge erzielte Kuba trotz einer 60-jährigen Wirtschaftsblockade seitens der USA, die seine Wirtschaft Hunderte von Milliarden Dollar gekostet hat. Nach dem Untergang der Sowjetunion geriet Kubas Gesundheitssystem in die Krise. Wie in Industrie und Landwirtschaft standen auch in den Krankenhäusern Maschinen still. Es gab keine Ersatzteile, es fehlte an Medikamenten und Hilfsmitteln. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Kubas nahm innert eines Jahres um mehr als die Hälfte ab.

Seit 1986 besuche ich fast jährlich Kuba und erlebte, wie damals während des sogenannten Período especial alle vierzehn Krebs-Bestrahlungszentren den Dienst einstellten. 1992 gründeten einige Schweizer Ärzte den Verein mediCuba-Suisse und später mediCuba-Europa, um das kubanische Gesundheitssystem zu unterstützen. Die beiden Vereine konnten seither Hilfsprojekte im Umfang von über 20 Millionen Euro realisieren.

Gesundheit als Grundrecht

Die kubanische Verfassung von 2019 garantiert ein Grundrecht auf Gesundheit: „Die öffentliche Gesundheit ist ein Recht aller Personen. Es ist die Verantwortung des Staates, strukturell den Zugang, die Kostenlosigkeit und die Qualität, die für die Behandlung, den Schutz und die Rehabilitation notwendig sind, zu garantieren. Um dieses Grundrecht im täglichen Leben zu organisieren, entwickelt der Staat ein Gesundheitssystem, das überall und auf jedem Niveau für die Bevölkerung zugänglich ist. Der Staat entwickelt aber auch Programme für die Gesundheitserziehung und die Vorsorge, wobei die Gesellschaft und die Familien ein Mitspracherecht haben.“

Seit der Revolution fließt durchschnittlich ein Drittel der kubanischen Staatsausgaben ins Gesundheitssystem. Vertreter kubanischer Behörden erklären das Recht auf Gesundheit und Leben zum wichtigsten aller Menschenrechte – im Gegensatz zu Ländern, die Gesundheit zur Ware gemacht und das Gesundheitssystem auf Konkurrenz getrimmt haben.

Struktur und Entwicklung des Gesundheitswesens

Eine zentrale Rolle im kubanischen Gesundheitswesen kommt den Familienärzt:innen zu, die für je 150 bis 200 Familien verantwortlich sind. Jede betreute Person muss mindestens einmal pro Jahr vom zuständigen Arzt oder der zuständigen Ärztin untersucht werden. Menschen, die nicht in die Arztpraxis gehen können, werden vom ärztlichen Personal aufgesucht. Zudem müssen die Ärzt:innen wenigstens alle zwei Jahre die Familien zuhause besuchen und die Lebensbedingungen und hygienischen Verhältnisse beurteilen.

Schon während des Studiums werden die künftigen Mediziner:innen auf Grundversorgung als die wichtigste Aufgabe trainiert. Während der sechsjährigen Ausbildung müssen die Studierenden einmal die Woche in einem bestimmten Bezirk von Haus zu Haus gehen, um die Menschen mit präventiven Maßnahmen gegen Infektionen und Durchfallerkrankungen vertraut zu machen.

In Kuba wird die medizinische Grundversorgung „Medicina general integral“ genannt: Es wird versucht, alles, inklusive traditioneller Heilmittel und alternativer Behandlungen, zu integrieren. Der Schwerpunkt liegt auf der Prävention. Kuba ist das einzige lateinamerikanische Land, in dem die Tumorvorsorge wirklich funktioniert. Auch das promovierte medizinische Personal, hat vor der Spezialisierung mindestens ein Jahr in der Grundversorgung gearbeitet.

Das kubanische Gesundheitswesen ist gradlinig organisiert. Nach der Grundversorgung kommen als nächste Stufe die Polikliniken, wo Fachärzt:innen arbeiten und die nötigsten diagnostischen Geräte wie Ultraschall- und Röntgenapparate, selten Computertomographen, stehen. Jede Poliklinik ist für 25 bis 50 Familienärzt:innen zuständig, also im Schnitt für 20.000 bis 50.000 Personen. Benötigen die Patient:innen eine noch spezialisiertere Diagnostik oder Behandlung, werden sie an die zuständigen Universitätsspitäler oder an die nationalen Fachzentren (Onkologie, Kardiologie usw.) überwiesen, die die tertiäre Stufe darstellen.

Ärztliches Ethos in der Krise

Viele junge Leute aus dem Ausland lassen sich in Havanna zu Medizinern ausbilden. An der 1999 gegründete Escuela Latinoamericana de Medicina (ELAM) haben bis heute etwa 30.000 Medizinstudierende aus über achtzig Ländern ein Studium absolviert. Wohnen, Verpflegung und Lernmaterial sind für sie weitgehend kostenlos. Auch etwa 250 Studierende aus den USA haben sich an der ELAM ausbilden lassen.

Das kubanische Gesundheitswesen hat verschiedene Etappen durchlaufen. Während der ersten Phase nach dem Sieg der Revolution wurde mit breit angelegten Kampagnen versucht, vor allem Infektionen, tödliche Durchfallkrankheiten und schwere Ernährungsdefizite unter Kontrolle zu bringen. Erst in den 1980er und 1990er Jahren wurde schrittweise das System der Medicina general integral realisiert. Vor 1990 konnte ich beobachten, wie häufig Behandlungen ohne Rücksicht auf ihre Kosten, vor allem auf der tertiären Stufe, durchgeführt wurden. Während des Período especial aber musste rationalisiert werden. Fortan ließ sich Kuba die Hilfsleistungen seiner im Ausland tätigen Mediziner:innen bezahlen, zumindest von Ländern, die es sich leisten konnten. Ein Drittel des Geldes zuzüglich ihres Gehalts in Kuba bekommen die Ärzt:innen, das technische Personal und die Pflegekräfte. Der Rest des Geldes geht an den kubanischen Staat, für den der Medizinexport a uch Devisenquelle ist und rund elf Milliarden Dollar im Jahr erlöst. Zurzeit unterhält Kuba ärztliche Missionen in etwa sechzig Ländern. Auf Grund der Zunahme solcher Auslandsmissionen, wurde in den letzten zehn Jahren das Pflichtenheft der in Kuba verbleibenden Mediziner:innen erheblich erweitert, und zwar ohne Lohnausgleich, was zu verbreitetem Missmut führte.

Pandemie

Die Pandemie hat Kuba wirtschaftlich hart getroffen. Die zwei wichtigsten Einnahmequellen sind versiegt: Die Touristen – 2019 hatte Kuba mehr als vier Millionen Besucher:innen – und die Überweisungen der in den USA lebenden Kubaner:innen an ihre Familien. Die Trump-Regierung hat den Geldtransfer mit verschiedenen Maßnahmen unterbunden, um den Inselstaat zu strangulieren.

Mitte November 2020 konnte ich als Präsident von mediCuba-Europa nach Kuba fliegen und stellte fest, dass es dort auf eine fast unglaubliche Art gelungen war, die Pandemie in Schach zu halten. Im Vergleich zum ähnlich stark bevölkerten Belgien verzeichnete Kuba damals nur ein Hundertstel an Todesfällen – Ergebnis seines gut organisierten, auf Prävention ausgerichteten Gesundheitssystems. Ich habe auf Havannas Straßen keine einzige Person ohne Maske gesehen. Beim Betreten eines Gebäudes stand immer jemand bereit, die Temperatur zu messen und Hände und Schuhe zu desinfizieren.

Alle positiv getesteten Personen wurden in ein Krankenhaus eingewiesen und erst nach zwei Wochen und bei Vorliegen eines negativen Testergebnisses entlassen. Für Personen, die mit coronainfizierten Personen in Kontakt gekommen waren oder in engen Wohnverhältnissen lebten, wurden Quarantänezentren eingerichtet. Diejenigen, die sich zuhause in Quarantäne befanden, wurden täglich von einer medizinischen Fach- oder Pflegeperson besucht. Symptomfreie Corona-Patient:innen, Personen in Quarantäne und das medizinische Personal wurden täglich prophylaktisch mit in Kuba entwickelten Medikamenten behandelt, die der Stärkung der Immunabwehr dienen sollten.

Kuba hat eigene Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 entwickelt. Für die wichtigsten, Soberana 2 und Abdala, wurden die klinischen Prüfungen im April mit sehr guten Resultaten abgeschlossen. Etwa 92 beziehungsweise 94 Prozent der geimpften Probanden wurden geschützt. Ende Juli war mehr als ein Viertel der Bevölkerung mit den kubanischen Impfstoffen voll geimpft worden.

Kuba kann eine eindrucksvolle Geschichte der Entwicklung von biotechnologischen Produkten und Impfstoffen vorweisen. Mit dem Entscheid, Interferon zu produzieren, leitete Fidel Castro 1983 die Entwicklung der kubanischen Biotechnologie ein, die sich heute mit derjenigen entwickelter westlicher Länder messen kann. So wurde etwa der erste Impfstoff gegen die Meningokokken-B, dem Erreger der meisten Fälle von bakteriell bedingten Hirnhautentzündungen, auf der Karibikinsel entwickelt. Im Forschungspool Havanna sind heute mehr als 20.000 Personen tätig.

Für die Menschen auf Kuba sind dreizehn verschiedene Impfungen obligatorisch. Die meisten der dazu benötigten Impfstoffe werden im Land produziert. Zurzeit werden weltweit mehr als fünfzig verschiedene Impfstoffe gegen das neue Coronavirus getestet, einige sind bereits eingesetzt: Sie unterscheiden sich in ihrem Wirkungsmechanismus kaum, jedoch in der Technologie ihrer Herstellung. Die neuen von Pfizer und Moderna entwickelten mRNA-Impfstoffe erfordern eine aufwendige Kühlkette, was den Einsatz in armen Ländern nahezu unmöglich macht. Die kubanischen Impfstoffe scheinen auch bei höheren Temperaturen von zwei bis sechs und sieben Grad stabil zu bleiben. Aufgrund dieser Eigenschaft und ihres günstigen Preises dürften die kubanischen Impfstoffe vor allem für die lateinamerikanischen Länder von Bedeutung sein.

Die jetzigen Probleme

Nach dem Zerfall der Sowjetunion konnte sich Kuba nur retten, indem es sich dem Tourismus öffnete mit der Folge, dass geringqualifizierte Angestellte in der Tourismusbranche bald mehr verdienten als die Ärzte- oder Lehrerschaft. Man schätzt, dass zurzeit zehn bis zwölf Prozent der kubanischen Ärzt:innen in ausländischen Missionen nicht auf die Insel zurückkehren. Nachdem Kuba seine Grenzen geöffnet hat, werden vor allem Spezialärzt:innen mit lukrativen Offerten abgeworben. Solchen Brain Drain können die ausländischen Ärzt:innen, die nach einer Promotion an der ELAM in Kuba bleiben, nicht kompensieren. Setzte sich die Entwicklung fort, würde nicht nur das kubanische Gesundheitswesen leiden, sondern auch die Bevölkerung vieler Länder, die heute von den kubanischen medizinischen Missionen profitieren.

Zurzeit durchlebt das Land die schwerste Rezession der vergangenen 30 Jahre. Das BIP ist 2020 um mindestens elf Prozent eingebrochen. Die Deviseneinnahmen schrumpften auf knapp die Hälfte des erwarteten Wertes, weshalb die Importe um 40 Prozent niedriger ausfielen als geplant. Die Lage könnte sich kurzfristig durch die am 1. Januar 2021 in Kraft getretene Währungsreform noch verschlechtern. Die sozialistische Insel kehrt nach mehr als 25 Jahren zu einer einzigen Landeswährung zurück. Mit der damit verbundenen Abwertung des Peso hat sich das gesamte Lohn- und Preisgefüge verändert, mit Folgen für Haushalte und Unternehmen, die noch nicht abzuschätzen sind. Das betrifft auch den Gesundheitssektor, unter dessen Beschäftigten die Unzufriedenheit zunimmt.

Franco Cavalli ist Onkologe und lebt in Ascona. Er ist Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und war von 1999 bis 2002 ihr Fraktionschef im Nationalrat.

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