Berlin im Kielwasser von Washington

„Handelsblatt“ warnt vor Kriegsgefahr
Lunapark21 – Heft 27

In der Wochenendausgabe vom 8./9./ 10. August 2014 der führenden deutschen Wirtschafts-Tageszeitung Handelsblatt erschienen auf acht Seiten Beiträge, in denen vor der Gefahr gewarnt wurde, die Ukraine-Krise könne in einen großen Krieg münden. Unter anderem argumentierte so in einem Interview Egon Bahr, ehemals Weggenosse von Willy Brandt. Auf die Frage: „Kann man ausschließen, dass in Europa jemals wieder Krieg geführt wird?“ antwortete Bahr: „Leider nicht zweifelsfrei“.

Für den ehemaligen sozialdemokratischen Außenpolitiker ist die Kriegsgefahr dabei nicht allein Resultat der Ukraine-Krise, sondern Ergebnis des systematischen Vorrückens der Nato an die russischen Grenzen. Bahr: „In seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 hat Putin gewarnt, wenn die Ausweitung der Nato so weitergehe, werde das einen tiefen Vertrauensverlust zur Folge haben. Das war klar als Warnung analysierbar.“

Vor allem aber gab es auf diesen Seiten einen vierseitigen Artikel des Handelsblatt-Chefredakteurs Gabor Steingart mit der Überschrift „Der Irrweg des Westens“. Dieser Artikel steht auf der Website dieses Blattes auch in englischer und russischer (!) Sprache. Wenn das kein grelles Signal ist! Es unterstreicht nochmals: In deutschen Kapitalkreisen gibt es durchaus auch Kritik am Konfrontationskurs, wie er seitens der offiziellen Politik in Washington, Brüssel und Berlin betrieben wird. Dieser Kritik liegt kein Pazifismus zugrunde. Die materielle Basis dieser Kritik lautet: Der US-Kurs widerspricht den deutschen Exportinteressen.

Allerdings wird auch „rein politisch“ argumentiert. Steingart vergleicht die aktuelle Lage mit derjenigen vor dem I. Weltkrieg, als bürgerliche Prominente wie Max Weber und Thomas Mann den Kriegseintritt bejubelten. Der Handelsblatt-Chefredakteur prangert die heutige blinde Pro-Kriegs-Haltung der deutschen Medien an („Das Meinungsspektrum wurde auf Schießschartengröße verengt“).

Steingart über die US-Politik: „Alle Konflikte werden durch Washington hochgekocht. Aus dem Angriff der Terrorgruppe al-Quaida wird ein globaler Feldzug gegen den Islam. Unter fadenscheinigen Gründen bombardiert man den Irak, bevor die US-Luftwaffe in Richtung Afghanistan und Pakistan weiterfliegt. Das Verhältnis zur islamischen Welt darf als zerrüttet gelten. Hätte der Westen die damalige US-Regierung, die ohne Beschluss der UNO und ohne Beweise für das Vorhandensein von Massenvernichtungswaffen im Irak einmarschierte, nach den gleichen Wertmaßstäben beurteilt wie heute Putin, wäre George W. Bush unverzüglich mit Einreiseverbot in die EU belegt worden. Die Auslandsinvestments von Warren Buffet hätte man einfrieren, den Export von Fahrzeugen der Marken GM, Ford und Chrysler untersagen müssen. Die amerikanische Neigung zur […] Eskalation hat sich nicht bewährt. Die letzte erfolgreiche militärische Großaktion, die Amerika durchgeführt hat, war die Landung in der Normandie. Alles andere – Korea, Vietnam, Irak und Afghanistan – ging gründlich daneben.“

Das mag sich wie „großbürgerlicher Antiamerikanismus“ anhören. Dabei verweist Gabor Steingart durchaus auch auf die kriminelle Tradition der deutschen Kriegs-Außenpolitik: „Zweimal hat Deutschland in den vergangenen 100 Jahren gegen den östlichen Nachbarn Krieg geführt“. Dabei habe sich in Deutschland eine Friedenshaltung oft erst nach fürchterlichen Niederlagen eingestellt: „Den Umweg über die Schlachtfelder sollten wir im 21. Jahrhundert vermeiden. Geschichte muss sich nicht wiederholen. Vielleicht lässt sie sich dieses Mal abkürzen.“

Man darf gespannt sein, wie lange der Mann noch an der Spitze dieser Zeitung steht bzw. wann die maßgeblichen Anzeigenkunden dort Aufträge abziehen. Denn die Mehrheitsposition in den deutschen Kapitalkreisen ist spätestens seit dem Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs eine andere. Versteckt hinter der Formel „Es gilt das Primat der Politik“ wird inzwischen überwiegend der Konfrontationskurs, wie er von Washington vorgegeben wird, unterstützt.
Siehe auch: www.handelsblatt.com

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