Takt vor Tempo

Bahn an sich ist noch keine Klimabahn

Liebe Klimabahn-Engagierte!

Es gibt einen Riesenriss zwischen Klimaanspruch und Realität. Dabei meine ich NICHT den klassischen SUV-Fahrer … sondern ich spreche von den Menschen im ökologischen Spektrum. Von Menschen, die einerseits radikalste CO2-Senkungs-Forderungen erheben – aber andererseits die klimaschädlichen Bahntendenzen überhaupt nicht wahrnehmen:

• zum Beispiel beim EU-Green-Deal, der das Ziel eines dichten EU-Hochgeschwindigkeitsnetzes proklamiert

• zum Beispiel in meiner Partei, den Grünen Baden-Württembergs, wo die Kritik an S 21 verstummt

• oder das Desinteresse des Klimaforschers Mojib Latif an der konkreten Bahnpolitik.

Dieser Riss unter Klima-Bewegten hat mich motiviert, diese Tagung mit vorzubereiten.

Mit der falschen Annahme, „Bahn an sich“ sei gut fürs Klima, wird falsche, klimaschädliche Politik gemacht. Stattdessen müssen wir die Frage stellen: Welche Bahn braucht das Klima?

Die Antworten:

1. Die Bahn als HAUPT-Verkehrsmittel (das den Autoverkehr weitgehend ersetzt)!

2. Diese Großverlagerung auf die Schiene muss möglichst klimaschonend erfolgen – und zwar sowohl beim Betrieb als auch beim Bau von Bahninfrastruktur. Denn Tunnelstrecken sind hochproblematisch: Ein Kilometer Tunnelstrecke hat den CO2-Ausstoß von 26.000 PKW-Jahresverbräuchen.

3. Nicht das „Feeling“ darf entscheidend sein, sondern die klimawissenschaftliche Evaluation.

4. Es muss da angesetzt werden, wo schnell große CO2-Einsparungen erreicht werden können.

Die Antworten im Einzelnen:

1. Die Bahn muss wieder DAS HAUPT-Verkehrsmittel bei Entfernungen zwischen 15 und 1500 Kilometern werden!

Das war die Bahn bis in die 60er Jahre hinein. Noch 1950 hatte die Bahn 38% des Anteils am Personenverkehr, der motorisierte Individualverkehr (MIV) nur 25%. Heute liegt der Bahn-Anteil bei 6,7 Prozent.

Dass die Bahn Haupt-Verkehrsmittel war, konnte man zum Beispiel an der Bahnhofsinfrastruktur erkennen (auch in kleinen Städten besetzte Schalter, akzeptable Bahnhofsgaststätten und Frachtgutabfertigung) .

Mit den Kurswagen und den Nachtzügen gab es zwischen den meisten großen Städten im In- und Ausland direkte, umsteigefreie Verbindungen – von Paris bis Istanbul, von Kopenhagen nach Rom, von Athen nach Duisburg, von Warschau nach Frankfurt. Die Kurswagen wurden ab den 1990er Jahren fast vollkommen abgeschafft. Der Nachtverkehr wurde Ende 2016 komplett eingestellt.

Der Container früherer Zeit war der Güterwagen, der europaweit transportiert und umrangiert wurde und der sogar die letzten Kilometer auf der Straße befördert werden konnte.

Seit den 70er Jahren ist die Eisenbahn als einstiges europäisches Haupt-Verkehrsmittel zu einem zumeist nur national orientierten Ergänzungsverkehrsmittel herabgesunken:

Also Bahn nicht mehr als Alternative zum Auto, sondern als Mittel zur Entlastung des Autoverkehrs:

• als Pendlerverkehrsmittel im Umfeld der großen Städte bei gleichzeitigem Rückzug des Fernverkehrs aus der Fläche: sogar größere Städte wie Zwickau, Chemnitz, Görlitz, Konstanz oder Trier haben (fast) keinen Fernverkehr mehr!

• der größte Teil der internationalen Direktverbindungen wurde eingestellt – so zwischen den Metropolen Dresden und Wroclaw, von Deutschland nach Spanien, Griechenland (einst drei Zugpaare pro Tag), Paris-Berlin, Stuttgart-Rom, Nürnberg-Prag.

• als teuer ausgebautes Hochgeschwindigkeitsverkehrsmittel zwischen den Metropolen (weil die Autobahnen den Verkehr nicht mehr bewältigen können).

• extrem gut ausgebaut für den Verkehr zu und von den Flughäfen.

Die ganze Verachtung dieses Ergänzungsverkehrsmittels für den Nicht-Autofahrer ist am sogenannten Schienenersatzverkehr hautnah zu spüren: Schikanöse Behandlung derjenigen, die sich von der Bahn abhängig gemacht haben.

Ganz besonders extrem wurde dieses Konzept „Bahn als Ergänzungsverkehrsmittel“ in Frankreich durchgesetzt: Während einerseits der Bahnverkehr in der Fläche viel extremer als in Deutschland stillgelegt wurde, verbinden TGV-Strecken vor allem Paris mit den großen Städten. Viele neue TGV-Bahnhöfe liegen weit außerhalb der Städte und sind darauf angelegt, dass Menschen mit dem Auto zum TGV kommen.

2. Eine Bahn ist nur dann Klima-positiv, wenn sie die Zurückverlagerung von der Straße auf die Schiene schafft und ein Leben ohne eigenes Auto ermöglicht!

Dabei geht es nicht um eine nette, provokante These – sondern um eine unabdingbare Konsequenz aus der Umsetzung der Pariser Klimaziele und der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Entsprechend muss da angesetzt werden, wo sehr viel Straßenverkehr sehr schnell verlagert werden kann und dadurch sehr große Mengen CO2 eingespart werden können:

• Das sind im Personenverkehr nicht die Fernstrecken, sondern die Strecken mit weniger als 200 Kilometer Entfernung. (Der größte Teil der Investitionen floss aber bisher nicht in diesen Bereich, sondern in den Hochgeschwindigkeits-Fernverkehr für Strecken von mehr als 500 km.)

• Im Güterverkehr ist es umgekehrt – da kann im Ferngüterverkehr besonders viel CO2 eingespart werden.

Aber brauchen wir nicht Hochgeschwindigkeitsstrecken als Alternative zum Flugverkehr? Die Antwort lautet NEIN! Das gilt dann, wenn auf die Hochsubventionierung des Luftverkehrs verzichtet wird. Statt dass der Staat den Konkurrenten künstlich billig päppelt (u.a. durch Verzicht auf Kerosin-Steuer), könnte er den Luftverkehr auf ein sinnvolles Maß zurückstutzen. Eine extrem einfache, unbürokratische Lösung – bis irgendwann einmal eine internationale Besteuerung realisiert wird – könnte eine Abflugabgabe von 50 Euro pro Abflug von einem deutschen Flughafen sein. Bei größeren Distanzen und auch dringenden inländischen Flügen (bei dringenden Geschäfts- oder Familienangelegenheiten) würden diese 50 Euro kein Hindernis darstellen, für die Sauftour oder den Betriebsausflug per Flugzeug aber schon.

Für eine große Verlagerung des Personenverkehrs ist übrigens nicht die maximale Geschwindigkeit entscheidend, sondern

• der Preis (und der muss im Flugzeug mindestens das Doppelte des Bahnpreises kosten und nicht die Hälfte

• die Aufenthaltsqualität in den Zügen durch Trennung von Reisendengruppen (dass es echte Ruhebereiche gibt, in die keine Gruppen und Familien mit kleinen Kindern gebucht werden)

• die Aufenthaltsqualität in den Bahnhöfen

• Vor allem aber ist die Zuverlässigkeit entscheidend: Dass sich nicht mehr die Reisende um den gefährdeten letzten Anschluss kümmern muss, sondern eine einheitliche Bahnorganisation. Lieber 10 Prozent weniger Angebot, aber dafür genug Reservekapazitäten)

3. Diese Großverlagerung auf die Schiene muss Klima-, Natur- und Menschen-schonend erfolgen.

A Im Betrieb: Die enorme Energieverbrauchs-Steigerung pro gefahrenen Kilometer zwischen Tempo 130 und Tempo 300 muss abgewogen werden. Außerdem braucht es im Güterverkehr „Flüsterwaggons“, damit die anwohnenden Menschen den Güterverkehr auf der Schiene besser oder sogar gut ertragen können.

B Beim Bau: Hier bedeutet Klimabahn die möglichst optimale Nutzung des Bestandsnetzes. Neubauten müssen einen hohen Klima-Nutzen haben. Bei ICE-Strecken, auf denen nur ein bis zwei Züge pro Stunde fahren, ist das nicht der Fall. Insbesondere Tunnelstrecken müssen auf den Ausnahmefall konzentriert werden.

Faszinierend ist in diesem Zusammenhang das Konzept Takt vor Tempo“: Dieses Konzept könnte in der ersten Phase bei nur wenigen sofortigen Ausbauten innerhalb weniger Jahre eine VERDOPPELUNG der Bahnkapazitäten ermöglichen. In einer zweiten Phase hin zur Verdreifachung der Kapazitäten könnten neue Schienenstrecken entlang von oder sogar auf heutigen Autobahntrassen ziemlich schnell gebaut werden.

Wie soll es möglich sein, dass durch „Takt vor Tempo“ die Bahnkapazitäten bei nur kleinen Ausbauten in kurzer Zeit verdoppelt werden? Am Beispiel eines bekannten Nadelöhrs im bundesweiten Güterverkehr kann die Funktionsweise von „Takt vor Tempo“ gut gezeigt werden – nämlich der für den Schiffscontainer-Verkehr wichtige Abschnitt Lüneburg – Celle auf der Linie Hamburg-Hannover. Wenn im „Nadelöhr-Bereich“ alle Züge (ICEs, Regionalzüge und Güterzüge) das gleiche Tempo – zum Beispiel 120 fahren würden, könnte die Durchlässigkeit der Strecke extrem gesteigert werden.

In der zweiten Phase ab 2030 kann und muss der weitere Ausbau der Bahninfrastruktur entlang der Autobahnen oder gar auf einem Teil der dann nicht mehr im heutigen Umfang gebrauchten Autobahntrassen erfolgen.

Bilanz

Bei dieser Perspektive geht es nicht um eine Wunsch-Utopie, sondern um die Konsequenz aus den verpflichtenden Klimazielen der Bundesregierung. Das hier skizzierte Konzept bietet

• die Chance zur wirklich großen CO2-Einsparung

• es ist viel schneller zu realisieren, weil Ausbau mit Augenmaß auch juristisch viel leichter durchgesetzt werden kann.

• dieses Konzept ist wesentlich billiger – und auch angesichts des Mangels an Bauressourcen viel schneller zu realisieren.

Eine Schlussbemerkung zu Stuttgart 21: Der Klimagedanke bietet die Möglichkeit zu einem späten Kompromiss: Soweit sicherheitsmäßig genehmigungsfähig, den unterirdischen Bahnhof nutzen einerseits und andererseits den oberirdischen Kopfbahnhofs weiter nutzen. Als Stuttgart 21 geplant wurde, spielte der Klimagedanke nur eine untergeordnete Rolle.