Im Schatten des „weißen Goldes“

Baumwoll-Wirtschaft in Usbekistan

Nach der Überquerung des über 2000 Meter hohen Kamchik-Passes, der den Blick auf die dahinter liegenden Ketten des Pamirgebirges frei gibt, eröffnet sich das Fergana-Tal, eine fruchtbare Hochebene, die sich im angrenzenden Kirgistan und Tadschikistan fortsetzt. Es gibt Weizen- und Maisfelder, Gemüse, Obstplantagen und Maulbeerbäume für die Seidenraupenzucht. Dominierend ist allerdings der Baumwollstrauch, dessen weiße Kapseln sich im September zu öffnen beginnen und das Land in eine Wattelandschaft verwandeln. In der Nähe von Oltiariq, das bis vor kurzem noch den Namen Hamza nach dem ortsansässigen kommunistischen Schriftsteller trug, hat die Ernte schon begonnen.

weiterlesenIm Schatten des „weißen Goldes“

Armut in die Finanzwelt clever einbinden

Wo banaler Neoliberalismus Trumpf ist

Schon seit Jahren bezeichnet die Wirtschaftspresse das Ehepaar Esther Duflo und Abijith Banerjee als die zwei „heißesten Wirtschaftswissenschaftler“. Nun haben sie es geschafft und werden am 10. Dezember zusammen mit ihrem Kollegen Michael Kremer mit dem sogenannten „Wirtschaftsnobelpreis“ ausgezeichnet (siehe Kasten). Sie werden „für ihren experimentellen Ansatz“ geehrt, „globale Armut zu lindern“, wie die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften bekanntgab. Sie sind „Mikro-Entwicklungsökonomen“, die angeblich die Wirtschaftswissenschaften revolutioniert haben.

weiterlesenArmut in die Finanzwelt clever einbinden

Der Weg in die Klimakatastrophe kann gestoppt werden

Das Beispiel der Ölkrise 1973 ist lehrreich

Die Klimakonferenz in Madrid unterstreicht ein weiteres Mal: Die Klimaerwärmung ist in ein entscheidendes Stadium gelangt. Der UN-Generalsekretär Antonio Guterres hat das Wort längst durch den Begriff „Klima-Notfall“ ersetzt. Hans Joachim Schellnhuber, Gründer des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, spricht davon, dass wir uns in einem „Irrsinnstempo auf eine unberechenbare globale Situation zubewegen.“

weiterlesenDer Weg in die Klimakatastrophe kann gestoppt werden

Heft 48: Klima & Kapital

Das neue Lunapark21 Heft (Nr. 48) hat den Schwerpunkt “Klima und Kapital”. Auf knapp 20 Seiten des entsprechenden Lunapark21-Spezial (Seiten 30 bis 49) wird das Klimapaket der Bundesregierung auseiander genommen, Greta Thunbergs New York-Rede dokumentiert, das Projekt einer Tesla-Fabrik in Brandenburg als unökologisch und Verlängerung der Fixierung auf das Auto interpretiert und in einem Zuruf aus dem Süden – hier Costa Rica – darauf verwiesen, dass auch die Solarenergie in Teilen der Dritten Welt als Teil der Rohstoffausbeutung gesehen wird. Der gesamte Komplex “Kapital und Klima” müsse, so der einleitende Artikel zum “Spezial”, als logische Folge des Wachstumszwangs, der dem Kapital innewohnt, gesehen werden.

weiterlesenHeft 48: Klima & Kapital

Schmelztiegel des modernen Industrieproletariats

Wenn von WissenschaftlerInnen die Frage gestellt wird, wo in unserer heutigen Welt denn das Industrieproletariat zu finden sei, dann muss die Antwort heißen: in Guandong und Shenzhen. Hier wird für die Welt produziert. Auf der Liste der weltweit wichtigsten Flughäfen nimmt jener von Shenzhen Platz 24 ein. Hongkong hat den wichtigsten und größten Frachtflughafen der Welt. Die Güter, die hier umgeschlagen werden, stammen aus Shenzhen. Auch hier zeigt sich wieder die enge Verbindung zwischen beiden Städten.

Um es klar zu sagen: Der I-Pod mit dem Menschen in Deutschland sich auf dem Weg zur Arbeit ablenken, das Smartphone welches für viele ein ständiger Begleiter ist, der Fernseher mit dem neueste Serien angeschaut werden, Laptops, PCs, Küchenmaschinen, eigentlich alles, was irgendwie mit Elektronik zu tun hat – die Chance, dass all diese Dinge von Shenzhen via Hongkong in die heimischen Wohnzimmer geflogen worden ist, liegt bei über 90 Prozent.

Shenzhen ist ein Beispiel dafür, wie sich Dinge in ihr Gegenteil verwandeln können. Im 19. Jahrhundert war die Region rund um das Perlfluss-Delta Schauplatz des Opiumkrieges, mit welchem sich Großbritannien und andere europäische Großmächte China gefügig machten. Hongkong wurde damals zur britischen Kronkolonie, welche erst 1997 wieder abgetreten wurde.

Über viele Jahrzehnte war Shenzhen mit seinen 3.000 EinwohnerInnen ein Beispiel für die Rückständigkeit Chinas. 1980 wurden vom chinesischen Regime Weichen gestellt, um diese Situation schlagartig zu ändern. Shenzhen wurde zur ersten Sonderwirtschaftszone der Volksrepublik erklärt. Das hügelige und fruchtbare Ackerland der Gegend wurde planiert, um Platz zu schaffen für die Entwicklungen, die da kommen sollten.

Sonderwirtschaftszonen als Kern chinesischer Entwicklungsstrategie

Schlüssel zum Verständnis der chinesischen Herangehensweise an Sonderwirtschaftszonen (es gibt derzeit fünf von ihnen in China) ist eine Frage: Wie kann man an ausländisches Industrieknowhow herankommen, es sich aneignen und schließlich selber für den Export produzieren? Das ist eine Frage, mit der in vergangenen Jahrhunderten jede aufstrebende Industrienation konfrontiert war. Deutschland war zum Beispiel im 18. und 19. Jahrhundert in Großbritannien für seine Industriespionage berüchtigt. Ohne geklautes britisches Wissen hätte es Krupp und Thyssen in ihrer bekannten Form nie gegeben. Das ist nicht ohne Ironie, betrachtet man die heutige Sorge deutscher Großkonzerne vor chinesischem „Wissenstransfer“.

Die Sonderwirtschaftszone Shenzhen spielte bei diesem Wissenstransfer eine wesentliche Rolle, und wieder ging es dabei auch um den „Zwilling“ Hongkong. Im Wesentlichen war die Zone zum Zeitpunkt ihrer Gründung eine große Einladung an das Hongkonger Kapital: „Kommt her und produziert bei uns. Die Löhne sind billig und ihr müsst keine Steuern oder Zölle zahlen.“ Die Werbung funktionierte, die Hongkonger kamen. Noch immer werden 75 Prozent der in Shenzhen tätigen Unternehmen, das sind 9.000 an der Zahl, durch Hongkonger Auslandskapital finanziert.

Der wissenschaftliche Dienst des deutschen Bundestages befasste sich 2018 ausführlich mit dem Thema Sonderwirtschaftszonen. Dabei wird ausführlich aus einer Makroanalyse Chinas von Dirk Bronger und Johannes Wamser zitiert. Sie bezeichnen die chinesischen Sonderwirtschaftszonen als „Versuchsfelder für marktwirtschaftliche Experimente“ und schreiben weiter: „Die Küste mit ihren komparativen Vorteilen als mögliche Exportbasis vor Augen wurde als Standort ausländischer Direktinvestitionen anvisiert, und so erfolgte die Standortwahl in den südchinesischen Provinzen Guandong und Fujian, die in unmittelbarer Nähe zu Hongkong und Taiwan liegen: Shenzhen und Zhuhai im Hinterland von Hongkong, Xiamen gegenüber Taiwan und Shantou in der Mitte zwischen beiden gelegen. (…) Mit der Standortwahl war die Erwartung verknüpft, dass die festlandchinesischen Regionen von der Leistungskraft Hongkongs und Taiwans profitieren würden (…). Mit der Einrichtung d er vier SWZ verfolgte man außerdem die langgehegte Zielsetzung, eine wichtige Voraussetzung für die politische (Wieder-)Vereinigung mit den „Provinzen“ Hongkong und Taiwan auf dem (Um-)Weg einer wirtschaftlichen Integration zu erreichen.“ Aus der Sicht des chinesischen Regimes stellt die Hongkonger Protestbewegung ein großes strategisches Hindernis für diese Pläne dar. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, wie das Regime über seine Integrationspolitik potentielle Totengräber seiner Herrschaft erzeugt hat. Je kürzer die Verbindungswege zwischen Hongkong und dem Festland, desto kürzer der Weg, den Funken des Aufstands zurücklegen müssen.

Technologiesprünge und Ausbeutung: Huawei,Foxconn und Co

Ren Zhengfei ist ein Name, den man kennen sollte. Ursprünglich arbeitete er am Forschungsinstitut der Volksbefreiungsarmee, um dort der chinesischen IT auf die Sprünge zu helfen. 1987 gründete er den Huawei-Konzern und siedelte diesen in Shenzhen an. Das Startkapital betrug umgerechnet 9.000 Euro.

Ganz im Sinne der Strategie der Sonderwirtschaftszonen befasste sich Huawei in den ersten Jahren mit Technologietransfer, indem man Dienstleistungen für Hongkonger Unternehmen verrichtete. Dort wartete und installierte der chinesische Konzern Telefonanlagen. Als nächsten Schritt begann Huawei damit, diese Anlagen auf das chinesische Festland zu importieren und von Shenzhen aus in andere chinesische Regionen weiterzuverkaufen. Ganz nebenbei eignete man sich so ein Expertenwissen in der Telekommunikation an, welches in den kommenden Jahrzehnten stetig erweitert wurde.

2018 machte Huawei einen Gewinn von 7.87 Milliarden Euro. Aus dem Startup ist ein Weltkonzern mit 180.000 Beschäftigten geworden. Der Technologietransfer funktioniert längst zweigleisig. Schon lange kopiert China nicht mehr nur ausländische Technologien. Ein Problem, mit dem sich die USA in ihrem Handelskrieg gegen China konfrontiert sehen, ist, dass wachsende Teile amerikanischer Infrastruktur mit Kommunikationstechnologien des Huawei-Konzerns funktionieren. Auch die Forschungseinrichtung CERN in der Schweiz läuft mit Huawei-Knowhow.

Den Preis für dieses rasante Wachstum zahlen arbeitende Menschen. Ein großer Teil von ihnen sind WanderarbeiterInnen aus den inneren Regionen Chinas. In China besteht ein großes Ungleichgewicht zwischen den Sonderwirtschaftszonen und anderen Landesteilen, die entweder ländlich oder durch marode Staatsbetriebe geprägt sind. Aus diesen Gegenden stammen die 30 Millionen ArbeitsmigrantInnen, die in der Region Guangdong arbeiten. Ihnen ist es gesetzlich verboten, sich dauerhaft in der Nähe ihres Arbeitsplatzes niederzulassen.

Auch der Foxconn-Konzern produziert in Shenzhen. Er ist einer der weltweit größten Hersteller von Elektronik und Computertechnik. Zu seinen Auftraggebern zählen Hewlett-Packard, Dell, Apple, Nintendo, Microsoft und Intel. Mehr als 80 Prozent der für Foxconn arbeitenden Menschen sind Wanderarbeiter. 2010 machte Foxconn internationale Schlagzeilen, weil es in den Produktionsstätten des Konzerns zu einer Selbstmordserie kam: Die Leute hielten die 80-Stundenwochen, den Arbeitsdruck und das militarisierte Arbeitsregime nicht aus. Inzwischen hält die Digitalisierung Einzug: 60.000 Beschäftigte wurden im Jahr 2016 entlassen und durch Roboter ersetzt. Der technologische Wandel, an dem China kräftig mitgewirkt hat, führt auch im Land selbst zu Konflikten.

Immer wieder kam es in den vergangenen Jahren in Shenzhen zu Massenstreiks. Die Menschen fordern höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und das Recht auf von der Kommunistischen Partei unabhängige gewerkschaftliche Organisierung. Im August 2018 nahmen Spezialeinheiten der Polizei in der Stadt 50 Personen fest, denen die Gründung einer solchen Gewerkschaft vorgeworfen wurde. Das Regime hat Angst vor einer unabhängigen Arbeiterbewegung, die hier im Schmelztiegel des modernen Industrieproletariats entstehen könnte.

Christan Bunke lebt in Wien und ist bei Lunapark21 für „Ort & Zeit“ verantwortlich.


ort & zeit

Ort Sonderwirtschaftszone Shenzhen, VR China, Region Südchina, Provinz Guandong

Fläche 1991 Quadratkilometer

Einwohnerzahl 1950 3.000 Einwohnerzahl 2011 12.470.000

Angrenzende Gewässer Perlflussdelta, südchinesisches Meer

Bedeutende Nachbarstadt Hongkong

Wichtige Parole Lasst den Westwind herein. Reichtum ist ruhmvoll. Deng Xiaoping, 1980

Hongkongs industrieller Nachbar

Wer die Proteste in Hongkong verstehen möchte, muss auch die chinesische Provinz Guandong im Blick haben, und hier insbesondere die Großstadt Shenzhen. Shenzhen grenzt direkt an Hongkong an. Getrennt werden die beiden Städte nur durch die Flüsse Sham-Chun und Sha-Tau-Kok. Im deutschsprachigen Raum wurde Shenzhen einer größeren Öffentlichkeit bekannt, als Mitte August Berichte verbreitet wurden, wonach chinesische militärische Aufstandsbekämpfungseinheiten dort zusammengezogen wurden – ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung der Protestbewegung in Hongkong.

Shenzhen ist vielfach mit Hongkong verbunden. Ohne Shenzhen wäre Hongkong nicht überlebensfähig. Shenzhen produziert einen großen Teil des Strombedarfs von Hongkong. Täglich strömen hunderttausende Menschen von Shenzhen nach Hongkong, um dort zu arbeiten. Sie wohnen lieber in Shenzhen, weil sie sich das Leben in Hongkong nicht leisten können. Gleichzeitig machen viele BewohnerInnen Hongkongs ihren Wocheneinkauf am liebsten in Shenzhen, eben weil es dort einfach billiger ist. Um Hongkong noch enger an China zu binden, wurde 2018 mit der Hongkong-Zughai-Macao-Brücke die längste Brücke der Welt eröffnet. Sie kostete 15 Milliarden Euro und ist 15 Kilometer lang.

Es findet ein täglicher Austausch zwischen beiden Metropolen statt. Das bedeutet aber auch, dass regimekritische Bewegungen potentiell nach Shenzhen übergreifen können. Die gestiegene Militärpräsenz in Shenzhen richtet sich somit nicht nur an den Unruheherd auf der anderen Seite des Flusses. Sie soll auch der eigenen Bevölkerung die Konsequenzen eines Aufstands vor Augen führen.

„Gebrauchswert“

Die klassische politische Ökonomie wollte einen Zusammenhang herstellen zwischen dem Nutzen eines Gegenstandes und dessen Preis. Der Tauschwert schwanke zwischen einer für den Verkäufer sehr interessanten Variante, bei der man alles gibt – wie beim Kauf des letzten Glases Wasser in der Wüste oder beim Tausch eines Königreichs für ein Pferd in aussichtsloser Schlacht – und der, bei der sich nichts verkaufen lässt, weil nützliche Gegenstände so reichlich vorhanden sind wie Steine am Strand oder Sand in der Wüste. Die normale Austauschsituation bewege sich zwischen diesen Extremen und müsse auf den Zusammenhang von Gebrauchswert und Preis untersucht werden.

weiterlesen„Gebrauchswert“

Warum steigen die Preise?

Die Zentralbanken und ihre Sorge um eine zu geringe Inflation

Der Wert einer Ware ist nach Marx durch den zu ihrer Reproduktion erforderlichen Arbeitsaufwand bestimmt. Sinkt dieser Arbeitsaufwand, beispielsweise durch eine Steigerung der Arbeitsproduktivität, so sinkt auch der Wert der einzelnen Ware. Ihr Preis hingegen ist, ebenfalls nach Marx, der Geldausdruck ihres Werts. Die Preise können seiner Meinung nach zwar infolge eines veränderten Verhältnisses von Angebot und Nachfrage schwanken, aber das Gravitationszentrum, um das sie schwanken, bleibt der Wert. Im Idealfall, wenn Angebot und Nachfrage übereinstimmen, ist der Preis der exakte Geldausdruck des Werts, und wenn die Arbeitsproduktivität steigt, fallen die Preise. So weit die Theorie.

Ein Blick in die historische Statistik zeigt, dass seit Marxens Zeiten die Preise enorm gestiegen sind, beispielsweise der Goldpreis in London von 1865 bis August 2019 von 4,24 Pfund Sterling auf 1245,57 Pfund, also auf fast das Dreihundertfache, und im selben Zeitraum die allgemeinen Warenpreise in Großbritannien auf immerhin knapp das 94fache.1 Den daraus zu ziehenden Schluss jedoch, dass die allgemeine Arbeitsproduktivität auf ein Hundertstel gesunken sei, die spezielle in der Goldproduktion gar auf ein Dreihundertstel, wird wohl niemand für richtig befinden. Ist also die Marx’sche Arbeitswerttheorie falsch?

Marx fügte seiner Feststellung „Preis ist an sich nichts als der Geldausdruck des Werts“ die Erläuterung hinzu: „Hierzulande z. B. werden die Werte aller Waren in Goldpreisen, auf dem Kontinent dagegen hauptsächlich in Silberpreisen ausgedrückt. Der Wert von Gold und Silber wie der aller andern Waren wird reguliert von dem zu ihrer Erlangung notwendigen Arbeitsquantum.“2 Diese prononcierte Aussage, die seine außerordentlich verwickelte Darstellung der verschiedenen Wertformen im Kapital-Band I auf den Punkt bringt, entzieht all jenen Diskussionen den Boden, die davon ausgehen, dass Marx im ersten Band lediglich eine Werttheorie entwickelt habe, der erst im dritten Band eine Preistheorie folgen sollte (an der er gescheitert sei).

Mithin ging Marx davon aus, dass Geld in Gestalt von Gold- oder Silbermünzen Produkt gesellschaftlicher Arbeit ist, die in Arbeitszeit gemessen wird, also selbst einen bestimmten Wert hat. Allerdings bemerkte er schon damals, dass Gold „in dieser Funktion durch relativ wertlose Papierzettel ersetzt werden kann“.3 Das Geld, mit dem heute eingekauft wird, das Papiergeld, aber auch das „Plastikgeld“ (Bank- bzw. Kreditkarten) und erst recht das „virtuelle Geld“, mit dem die bestellte Ware beim Online Banking bezahlt wird, sie alle symbolisieren daher einen Wert, der mit dem Arbeitsaufwand zu ihrer Herstellung nichts zu tun hat: Die Herstellung eines Fünfhundert-Euro-Scheins kostet nicht mehr als die eines Fünf-Euro-Scheins, und der Preis, der für den Erwerb einer Kreditkarte gezahlt werden muss, hängt nicht davon ab, ob mit ihr Einkäufe von zwanzig Euro „bezahlt“ werden oder Einkäufe von zwanzigtausend Euro.

So betrachtet, ist auch voll verständlich, dass die „relativ wertlosen Papierzettel“ nahezu beliebig vermehrt werden können, um anschließend, wenn die darin ausgedrückten Preise allzu stark gestiegen sind, auf den Zetteln ein paar Nullen wegzustreichen; die deutsche Hyperinflation von 1923 und ihr mit der Streichung von neun Nullen angezeigtes Ende ist wohl das instruktivste Beispiel, aber auch die seit 1990 vorgenommenen Streichungen von drei bis sechs Nullen in Polen, der Türkei, Russland, Argentinien usw. waren bemerkenswert.

Bleibt die Frage, was das Spiel mit den Papierzetteln bewirkt, welchen Sinn diese „Schöpfung aus dem Nichts“ hat, warum diejenigen, die viel Geld und zudem in der Wirtschaft das Sagen haben, nichts dagegen unternehmen. Die Antwort ist ebenso einfach wie sie unverständlich ist für die meisten, die nur wenig Geld haben: Das eigene Geld interessiert wirklich Reiche kaum. Sie reagieren, vielleicht nicht in der Öffentlichkeit, aber im trauten Kreis genauso wie der russische Oligarch Oleg Deripaska, der in der Finanzkrise von 2008 neunzig Prozent seines Geldvermögens, etwa 25 Milliarden US-Dollar, verlor, und im Interview meinte: Es ist doch nur Geld… Recht hatte er, denn sein Realvermögen – die ihm gehörenden Fabriken, Bergbauunternehmen, Elektrizitätswerke usw. – blieb ihm ja erhalten, und das ist das Entscheidende für den Kapitalisten, nicht das eigene Geld.

Das Geld der anderen dagegen, das ist interessant, denn „die anderen“, das sind die, die die im Unternehmen produzierten Waren und Dienstleistungen kaufen. Ob sie über das Geld wirklich verfügen oder es sich auf dem Wege des Kredits besorgen müssen, ist schon zweitrangig. Zweitrangig, aber keineswegs ohne Effekt: Die künstliche, durch Kreditvergabe erzeugte Erhöhung der zahlungsfähigen Nachfrage bewirkt eine erhöhte Geldmenge, und die führt bei gleichbleibender Geldumlaufgeschwindigkeit nahezu automatisch zu steigenden Preisen.

Zu Marx’ Zeiten war die Masse des als Zirkulationsmittel funktionierenden Geldes durch die Preissumme der Waren und die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes bestimmt.4 Heutzutage, da Geld „aus dem Nichts erschaffen“ werden kann, ist es umgekehrt: Die Preissumme der Waren ist durch die Masse des als Zirkulationsmittel funktionierenden Geldes und dessen Umlaufgeschwindigkeit bestimmt. Das durch Kreditvergabe erzeugte Anwachsen der Geldmenge hat die steigenden Preise zur Folge. Steigen die Preise nicht mehr, ist – von durch exorbitanten technischen Fortschritt bewirktem Preisverfall abgesehen – Gefahr im Verzug, denn schon ein Gleichbleiben der Preise deutet auf eine nachlassende Kreditvergabe hin, die eine Abschwächung der kreditierten Konjunktur zur Folge haben kann. Und umgekehrt in der Phase einer Überhitzung der Konjunktur: Nicht nur steigt die kreditierte Geldmenge enorm, auch ihre Umlaufgeschwindigkeit erhöht sich, was die Preise zwangsläufig noch weiter st eigen lässt.

Daraus resultiert, dass die Konjunkturforschungsinstitute mit besonderer Sorgfalt die Bewegung der Preise beobachten. Zurzeit sind sie besorgt, dass die Inflation in Europa so gering ist, und meinen, dass sie wieder auf zwei Prozent pro Jahr steigen müsse. Dass bei der gegenwärtigen Nullzinspolitik diejenigen, die ihre kleinen Ersparnisse auf der Bank zu liegen haben, damit Jahr für Jahr zwei Prozent Verlust zu verbuchen haben, stört die Forschungsinstitute offenbar nicht, denn zur Behebung dieses „Kollateralschadens“ genügt es ja, den Geschädigten im Bedarfsfalle neue Kredite auszureichen.

Allerdings zeigt die Geschichte auch, dass die Wege kreditierter Konjunktur nur eine begrenzte Reichweite haben, ganz einfach deshalb, weil die ausgereichten Kredite nicht mehr zurückgezahlt werden können. Dem kann zwar durch weitere Kreditaufnahme entgegengewirkt werden, womit aber früher oder später die sogenannte Konjunkturüberhitzung beginnt, die dann meistens im Krach endet: Die regelmäßig wiederkehrenden Finanzkrisen zeigen, dass die nur scheinbare Abkoppelung von der materiellen Produktion (der sog. Realwirtschaft) nichts daran ändert, dass es realwirtschaftliche Vorgänge sind, die die Eigentümer auch der ausgeklügeltsten Finanzprodukte aus ihren Wolkenkuckucksheimen wieder auf den harten Boden der Realität zurückschleudern, erst recht natürlich die Besitzer auf Kredit gekaufter Eigenheime, die in Wahrheit der kreditierenden Bank gehören. Das hat, sicherlich nicht zum letzten Male, die Finanzkrise von 2007 sehr nachdrücklich demo nstriert.

Thomas Kuczynski lebt und arbeitet in Berlin

Anmerkungen:

1 Zu den konkreten Daten vgl. http://www.measuringworth.com sowie https://www.gold.de/kurse/goldpreis/britische-pfund/ (konsultiert am 16. 8. 2019).

2 Karl Marx: Lohn, Preis und Profit. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 16, S. 127. – In der von mir 2015 im Hamburger LAIKA-Verlag herausgegebenen kommentierten Einzelausgabe S. 76.

3 Karl Marx: Das Kapital, Bd. 1. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 23, S. 140/41. – In meiner 2017 im Hamburger VSA: Verlag erschienenen Neuen Textausgabe S. 96.

4 Vgl. ebenda, S. 133 bzw. S. 89.

Autokritische Rede des Arbeiters Lars Hirsekorn auf einer VW-Betriebs-versammlung in Braunschweig

Guten Morgen liebe Kolleginnen 
und Kollegen,

es sind schon denkwürdige Zeiten, in denen wir da leben. Am Wochenende war ich mit meiner Kinderfeuerwehr im Zeltlager. Und auf der Fahrt dahin habe ich erst festgestellt, wie viele Bäume in unserer Region dieses Jahr nicht mehr grün geworden sind. Gestern bin ich dann einfach mal kurz durch Wipshausen, Neubrück und Didderse geradelt und habe ein paar Fotos gemacht. Die laufen jetzt im Hintergrund durch.

Als ich vor gut 25 Jahren in diesem Unternehmen angefangen habe, hatte ich nicht einmal einen Führerschein. Nicht, dass ich etwa ein Autohasser war. Ich bin einfach nur in der Stadt immer Fahrrad gefahren und in andere Orte bin ich liebend gerne mit der Bahn gefahren. Da konnte ich während der Fahrt ganz entspannt Bücher lesen, oder auch eine Rede für die nächste Jugendversammlung schreiben. 1994, also noch unter Kohl, wurde die Deutsche Bahn AG gegründet, angeblich um die Bahn zu modernisieren.

2005, am Ende der Regierung Schröder, war dann der öffentliche Nah- und Fernverkehr so weit ruiniert, das auch ich mich gezwungen sah, einen Führerschein zu machen und mir ein Auto zu kaufen. Der Autokanzler Schröder und sein olivgrüner Umweltminister haben im neoliberalen Privatisierungswahn nicht nur unsere Rente zerstört, sondern auch die Deutsche Bahn weithin kaputtgespart.

In der ganzen Privatisierungsdebatte wird immer betont, dass sich die Bahn und alle anderen öffentlichen Einrichtungen wie Schwimmbäder, Krankenhäuser usw. angeblich rentieren müssten. Mit dem Argument der fehlenden Unrentabilität wurden 2010 auch die Pläne für eine „RegioStadtBahn“ Braunschweig nach 14 Jahren Planung eingestellt.

Das ist genau so ein Schwachsinn, wie die These, dass ein Krankenhaus Gewinn erwirtschaften müsse. Ein Schwimmbad muss sich nicht lohnen. Der Gewinn ist doch, dass die Kinder schwimmen lernen und sich gesund bewegen. Genau so wenig muss ein öffentlicher Verkehr Gewinn abwerfen. Umweltfreundliche Mobilität für alle, das ist gesellschaftlicher Reichtum, der ruhig aus Steuergeldern unterstützt werden darf.

In dieser Gesellschaft tun sich geistige Abgründe auf, unbeschreiblich und tiefer noch als der Marianengraben.

Im Gegensatz zu den plumpen Behauptungen in dieser ausgelegten Werbebroschüre sind nur die wenigsten Wissenschaftler der Meinung, dass private Elektromobilität umweltfreundlich ist. Die meisten sind der Meinung, dass allein der Aufbau der benötigten Infrastruktur so viel CO2 produziert, das es ökologisch eine Katastrophe ist. Die Produktion der Elektroautos und der Akkus benötigt unglaublich viel Energie. Nicht umsonst will Volkswagen die Batteriezellenfertigung nur nach Salzgitter bringen, wenn der Staat auf die Energiesteuern so gut wie ganz verzichtet. Und woher kommt dann dieser enorme Strom, der für die Batteriefertigung benötigt wird? Aus den Kohlekraftwerken, die noch fast 20 Jahre laufen sollen. Super, da haben wir richtig was gewonnen! Natürlich kann ein Elektroauto CO2-neutral produziert werden, wenn sowohl die Produktion als auch der Betrieb der Fahrzeuge über erneuerbare Energie geleistet werden. Wie viele Windräder wollen wir bei dem stän dig steigenden Strombedarf der Volkswagenflotte denn noch aufstellen? Wollen wir so weitermachen, bis selbst der Sonnenuntergang dahinter verschwindet? Das kann sich doch niemand ernsthaft wünschen.

Das Elektroauto oder auch der Lkw sind keine Lösung unserer Probleme, sondern eine absolute Sackgasse. Volkswagen erpresst ja sogar den Staat, damit der Konzern die Umlage für Erneuerbare Energien nicht zahlen muss. Und wenn ich höre, das die grüne hessische Umweltministerin Priska Hinz völlig begeistert davon ist, die Autobahn mit Oberleitungen für Lkw zu versehen, wird mir ehrlich gesagt ganz übel. Die geschätzten Kosten für 1000 Kilometer Autobahn liegen bei eine Milliarde Euro. Staatskosten, versteht sich.

Die mittlerweile 28.000 Wissenschaftler, die den Aufruf der Science for Future unterschrieben haben, fordern aber jetzt gegenzusteuern und nicht noch auf Teufel komm raus Kohle zu verfeuern. Genau das bedeutet aber der Ausbau der Elektromobilität.

Wenn Herbert Dies als Vorstandsvorsitzender gemeinsam mit Ministerpräsident Weil jetzt fordert, dass der Bund die Infrastruktur für die E-Autos bauen soll, kann ich nur laut und deutlich „nein danke!“ sagen. Nein, nein und nochmals nein! Nicht in meinem Namen! Wir müssen weniger Auto fahren und nichts anderes. Wir brauchen Busse und Bahnen und nicht Millionen Pkw und Lkw. Warum sollte der Staat Elektroparks bauen, wenn wir nicht mal genug Kindergärten haben. Es kann doch nicht sein, das der Staat einen Millionär von der Steuer befreit, nur weil er sich einen Porsche Spider für 1,5 Millionen oder auch nur einen Tuareg für 80.000 Euro leisten kann und will. Wer so große Autos fährt, soll gefälligst 5.000 Euro Kfz-Steuer im Monat zahlen anstatt auf null gesetzt zu werden, nur weil es ein Elektro-Auto ist.

Wir brauchen einen wirklich attraktiven und günstigen öffentlichen Verkehr. Im Moment fährt der Bus doch nur für diejenigen, die nicht anders wegkommen. Wir brauchen schnelle Verbindungen, die alle 20 Minuten über die Dörfer fahren, nur noch ein- oder zweimal im Ort halten, aber dafür auch zügig voran kommen. Wir brauchen eine Zugverbindung zwischen Harz und Heide, die wie eine S-Bahn pendelt und nicht wie ein Bummel-Express. Das sind Aufgaben des Staates, Busspuren mit E-Autos zu verstopfen hingegen keine. Wir brauchen mehr Ärzte und Krankenhäuser auf dem Land, dann müssen die Menschen auch nicht ständig in die Stadt fahren.

Natürlich werden wir dann weniger Autos bauen und entsprechend weniger Arbeit haben. Dann müssen wir halt für Arbeitszeitverkürzungen kämpfen. Wir müssen weniger produzieren, wenn wir über kurz oder lang hier noch leben wollen.

Der Dieselbetrug und die Folgen hat den Volkswagen Konzern gute 30 Milliarden Euro gekostet. Das sind die Gelder gewesen, die wir in den letzten 20 Jahren versäumt haben, gerecht zu verteilen. Wir sollten im großen Stil über eine 30-Stunden-Woche reden, anstatt darüber nachzudenken, was wir noch alles produzieren können.

Der Bahnvorstand hat erst kürzlich erklärt, dass die Politik der letzten 25 Jahre ein Fehler war. Er fordert den Bund auf, stillgelegte Strecken wieder in Betrieb zu nehmen und die Bahngesellschaften in eine Gesellschaft öffentlichen Rechts zu überführen. Geplant wird mit einem zusätzlichen Personalbedarf von 100.000 Menschen. Da ist zwar viel Spinnerei und leere Versprechung dabei, aber es macht allemal mehr Sinn als Steuergelder in einer Technik zu versenken, die nicht umweltfreundlich ist und deren Gewinne dann wieder in die Taschen der Millionäre fließen.

Wir wollen unseren Kindern einen lebenswerten Planeten hinterlassen!

Lars Hirsekorn, auf der Betriebsversammlung von VW am 27. Juni 2019 in Braunschweig

Nach den uns vorliegende Berichten wurde die Rede von den anwesenden VW-Kolleginnen und Kollegen nachdenklich und ohne Buh-Rufe aufgenommen. Die LP21-Redaktion

Zerstörte Gesundheit und zerstörerischer Kapitalismus

„Die vielfältigen Wechselwirkungen u.a. chemischer Stoffe auf die menschliche Gesundheit werden ignoriert“.

Ein Interview mit Kathrin Otte vom Gemeinnützigen Netzwerk für Umweltkranke

Was war der Anlass, Grund und das Ereignis, das Dich zur Beschäftigung mit Reaktionen auf chemische Stoffe veranlasste?

weiterlesenZerstörte Gesundheit und zerstörerischer Kapitalismus