[kolumne winfried wolf] Der VW-Skandal als Skandal Automobilität

Aus: LunaPark21 – Heft 31

Die Führung des VW-Konzerns musste eingestehen, weltweit bei rund 11 Millionen Diesel-Pkw eine spezifische Software zur „Abgas-Nachbehandlung“ so programmiert zu haben, dass diese Pkw bei Schadstoffmessungen auf dem Prüfstand auf einen spezifisch sparsamen Modus schalten, so dass während der Tests deutlich niedrigere Abgasemissionen gemessen werden als im normalen Fahrbetrieb. Die speziell manipulierte Software würde – so VW im schriftlichen Eingeständnis gegenüber der US-Umweltbehörde EPA – „seit mindestens sechs Jahren“ eingesetzt. Sie sei gezielt zu dem Zweck verwandt worden, die Behörden „zu täuschen“. Betroffen sind Pkw der Marken VW, Audi, Seat und Skoda. In Deutschland geht es um 2,8 Millionen, in Österreich um 62000 VW-Pkw. Die Schweizer wissen es besonders genau: betroffen sind hier 128802 Autos.

Der Skandal wurde zum jetzigen Zeitpunkt eher zufällig publik. Es handelt sich nicht primär um einen VW-Skandal. Es geht um den Skandal Automobilität.

VW ist spätestens seit Mai 2014 über die wissenschaftliche Studie des eher kleinen Instituts International Council on Clean Transportation (ICCT) informiert, in der für VW-Diesel-Modelle – und übrigens auch für Pkw bislang nicht genannter anderer Hersteller – im realen Straßenverkehr massiv höhere Abgasemissionen dokumentiert wurden als zertifiziert. Mehr noch: Die deutsche Bundesregierung ist seit rund einem Jahr darüber informiert, dass die realen Abgasemissionen von Diesel-Pkw verschiedener deutscher Hersteller deutlich über den offiziellen Grenzwerten liegen. In einem an die EU-Kommission gerichteten Schreiben der Berliner Regierung vom 18. August 2015 – also vor Dieselgate datiert! – heißt es: „Belastbare Indizien, dass die realen durchschnittlichen NOx-Emissionen auch von derzeit auf den Markt kommenden Euro-6-Diesel-Pkw erheblich höher sind als der einzuhaltende Grenzwert (80 mg/km), liegen erst seit Herbst 2014 vor.“ Es geht in diesem Schreiben ersichtlich nicht um die Modelle eines spezifischen Autokonzerns. [1]

Der aktuelle VW-Skandal kann als ein Ausreißer gewertet werden in einem Gesamtskandal, der die weltweite Branche seit Jahrzehnten prägt. Einen wesentlichen Hintergrund bilden die elementaren Trends im Automobilsektor, wie sie auf der jüngsten Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA) in Frankfurt/M. dokumentiert wurden. Danach wiegt der durchschnittliche Pkw mit Baujahr 2015 mit 1,25 Tonnen rund doppelt so viel wie ein durchschnittlicher Pkw mit Baujahr 1975. Er weist gegenüber den 1975er Modellen eine zweieinhalbfach höhere PS-Leistung auf. Und er verfügt neben dem eigentlichen Hauptmotor noch über mindestens ein halbes Dutzend weitere Motoren und Motörchen – nicht zuletzt zum Betrieb einer (1975 noch ziemlich unbekannten) Klimaanlage. Dass diese Hilfsmotoren bei den herkömmlichen Verbrauchstests im Stand-by-Zustand schlummern, ist ein Skandälchen im Gesamtskandal. Es sind diese grundlegenden Trends, die den spezifischen Energieverbrauch je Pkw steigern, was durch immer aufwendigere Technik (die erneut zusätzliches Gewicht mit sich bringt) teilweise wieder reduziert, vor allem aber zunehmend durch mal raffinierte, mal banale Manipulationen verschleiert wird. Banal ist beispielsweise, dass die Fahrzyklen bei den Prüfstand-Tests meilenweit entfernt von der realen Fahrpraxis sind: Der Test-Pkw darf nicht zu kalt, nicht zu heiß, nicht vollbesetzt sein; er darf vor allem nicht in Voll-Last – und schon gar nicht mit aggressiver Macho-Lust – beschleunigt werden, ja er muss „verbrauchsbewusst gefahren“ werden usw. Nicht getestet werden gewissermaßen die meisten Betriebsweisen des Autoalltags. Die Fachleute des Umweltbundesamts gehen davon aus, dass die realen Emissionen um 30 bis 50 Prozent höher sind als offiziell zertifiziert. Das doppelte Resultat lautet: Es gibt in den letzten 15 Jahren keinen relevanten Rückgang der Abgase je Pkw; durch die weiter zunehmende Motorisierung gab es sogar eine Zunahme der Schadstoffemissionen, die dem Kfz-Verkehr zuzuschreiben sind.

Dies zur ökologischen Krise der Weltautobranche. Dennoch gibt es eine spezifische VW-Komponente. Der VW-Konzern stellt seit Jahrzehnten seinen besonders aggressiven – auf Expansion nach außen und Vereinnahmung nach innen – gerichteten Charakter unter Beweis.

Mitte der 1990er Jahre gab es den López-Skandal: Das VW-Management unter Ferdinand Piech kaufte sich einen Top-Manager von GM, José Ignacio López, der Tausende Seiten GM-Geheimdokumente mitgehen ließ und von einem „Krieg“ zwischen VW und der US-Konkurrenz sprach. Zwischenzeitlich wagte VW-Chef Ferdinand Piech es nicht mehr, US-Boden zu betreten, da ihm Knast drohte. Am Ende musste López gehen und VW eine fette Kompensation an GM zahlen.

Ein Jahrzehnt später dann der Hartz-Skandal. Es stellte sich heraus, dass das VW-Management, nachweislich der VW-Personalvorstand Peter Hartz, sich den VW-Gesamtbetriebsrat mit einem feinen, flächendeckenden Korruptions-Netz gefällig gemacht hatte. Der Betriebsratsvorsitzende durfte sich – auf Konzernkosten, versteht sich – sogar eine brasilianische Geliebte halten. Am Ende mussten Peter Hartz und der Betriebsratsvorsitzende Klaus Volkert gehen.

Und jetzt also das VW-Dieselgate. Bereits 2005 wurde im Konzern der Beschluss zur beschriebenen großangelegten Fälscherei gefällt. Kurz darauf gaben die damaligen VW-Oberen Ferdinand Piech und Martin Winterkorn das Ziel aus, bis spätestens 2018 der größte Automobilhersteller der Welt zu sein. Im Juli 2015 hatte VW dieses Ziel erreicht. Seit September nun der Absturz von Aktienkurs und wohl auch Pkw-Absatz.

In Wirklichkeit sind alle drei Skandale keine Sonderfälle, sondern kapitalistischer Alltag. López damalige Einsicht stimmt ja: Es herrscht weltweit Autokrieg – damals wie heute. Peter Hartz Engagement war ja verdienstvoll für seine Klasse, indem er bei VW selbst und bundesweit als Lohndrücker wirkte – mit einem VW-Arbeitsmodell („5000 mal 5000“) bzw. als Erfinder des Hartz-IV-Sozialhilfe-Dumping-Modells. Und dem künstlichen Absenken der Abgaswerte entspricht die reale Anhebung der Profitrate.

Auto und Umwelt sind ein ebenso antagonistischer Widerspruch wie Profit und Menschenwürde. Es geht bei Dieselgate immerhin um schwere Körperverletzung für Hunderttausende Menschen.

Die aktuelle Wertekrise in der kapitalistischen Gesellschaft wird insbesondere in der Autogesellschaft auf perverse Weise aufgriffen. Porsche – ebenfalls eine VW-Tochter – schaltete jüngst flächendeckend Anzeigen mit dem Slogan: „Sie haben Benzin im Blut? Wir legen Ihnen Faszination Porsche ans Herz!“. Die Frage, warum eine hochgradig giftige Substanz im Blut anregend wirken soll, stellt sich offensichtlich zumindest den Werbestrategen nicht. Zum gleichen Zeitpunkt schaltete der Autovermieter Sixt eine Anzeige mit dem Bild einer Frau am Steuer und der Schlagzeile: „Blumen sind nett. Rasen ist geil!“ Ein Zusammenhang einer solchen PR mit den jährlich 50000 Straßenverkehrstoten in Europa ergibt sich offensichtlich nur für wenige. Auf der Automesse IAA waren es erneut in erster Linie die extrem PS-starken Pkw, die als Publikumsmagneten wirkten. Bei diesen liegen selbst die offiziell ausgewiesenen Schadstoffwerte weit über den Werten, die die EU und die Regierungen in Berlin, Brüssel und Bern als anzustrebende Limits benennen. Und nicht nur Auto-Bild, auch die seriöse Frankfurter Allgemeine Zeitung begeistert sich für eine Autohochrüstung, die mit zusätzlichem, vielfachen Tod verbunden ist. Wobei dies in der Sprache der Autotests kaum verhüllt ausgesprochen wird. [2]

Letzten Endes kann nur eine radikale Verkehrswende eine menschliche und umweltgerechte Perspektive weisen: eine Politik der Verkehrsvermeidung, der Förderung der nichtmotorisierten Verkehrsarten Gehen und Radeln und des öffentlichen Verkehrs, bei gleichzeitigem Zurückdrängen des Pkw-Verkehrs und der Verwirklichung autofreier Städte.

 

Anmerkungen

1 Laut diesem Brief lag der gemessene NOx-Schadstoffausstoß bei den zur Debatte stehenden Diesel-Pkw im Durchschnitt sechs Mal höher als nach Grenzwert für die Euro-6-Norm gestattet. Das entspricht dem unteren Wert dessen, was in der ICCT-Studie für die VW-Diesel-Modelle ermittelt wurde. Danach wiederum lagen „die [in der zitierten ICCT-Studie gemessenen Werte] im Durchschnitt um das Siebenfache, bei einem getesteten Pkw sogar um das 25-fache über den Vorgaben.“ Weiter heißt es dort: „Klar wird nun: Nicht allein VW ist betroffen. Mehr noch: Die Abgaswerte von Volkswagen sind noch nicht einmal die schlimmsten.“ Nach: „Gegen die Wand“, ein ausführlicher Bericht von U. Schäfer, M. Bauchmüller, Th. Fromm, C. Gammelin, M. Hägler, A. Mühlauer und K. Werner, in: Süddeutsche Zeitung vom 26. September 2015.

2 Auto-Bild vom 17.4.2015: „Die sind irre! Anders lassen sich [BMW] X5M und [Porsche] Cayenne Turbo nicht erklären. 575 PS und 280 km/h Spitze. Und 570 PS und 284 km/h Spitze. […] Zwei Monstermaschinen mit schier unfassbarem Potential. Der schiere Wahnsinn. […] Der Typ [Porsche Cayenne] ist echt gewalttätig.“ FAZ vom 28. Juli 2015: „Audi zeigt mit dem R8, wie man Gutes besser macht. […] Rasseln, fauchen, ein dumpfes Plop beim Schalten, und immer wieder dieses irrwitzig schnelle Hochdrehen. Wir sitzen im […] schnellsten jemals gebauten Audi mit Straßenzulassung.[…] 330 km/h Spitze […] Der Wagen passt […] gar nicht zur vornehmen Zurückhaltung der anderen Markenvertreter, etwa, wenn der R8 mit 610 PS starkem V10 bellt, brutal antritt.“

Winfried Wolf ist Chefredakteur von Lunapark21 und – zusammen mit Bernhard Knierim – Koautor von „Bitte umsteigen! 20 Jahre Bahnreform

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