Was reguliert die Wirtschaft?

Tatsächliche und angebliche Funktionen von Markt und Plan
Thomas Kuczynski. Lunapark21 – Heft 24

„Smith erläutert, wie die ‘unsichtbare Hand des Markts’ den Egoismus des Einzelnen in wachsenden Wohlstand für die Allgemeinheit transformiert.“ So immer noch nachzulesen im derzeitigen Standardlehrbuch der Volkswirtschaftslehre,[1] fast zwanzig Jahre, nachdem Emma Rothschild nachgewiesen hatte, dass Adam Smith die Wendung „led by an invisible hand“ (geführt von einer unsichtbaren Hand), obgleich sie hundertfach in zeitgenössischen Predigten und religiösen Traktaten verwendet worden war, ein einziges Mal in seinem Buch über den Reichtum der Nationen verwendet hat, sie also bei dem geschworenen Pfaffenfeind Smith genau deshalb nur ironisch zu verstehen ist.[2]

Mehr noch, Rothschild assoziiert die Wendung mit dem Ausruf von Macbeth, die blendende Nacht („seeling night“), mit ihrer blutigen und unsichtbaren Hand („with thy bloody and invisible hand“), möge dem zarten Auge den Anblick eines jammervollen Tags verschließen („scarf up the tender eye of pitiful day“), also die Verbrechen decken, die zu begehen er dabei ist.[3]

Shakespeare und kapitale Verbrechen
Kein sehr ersprießlicher Kontext für das „Vater Unser“ der Marktwirtschaftsfanatiker, aber offenbar auch kein Anlass für Gegner der gegenwärtig herrschenden Wirtschafts(un)ordnung, daran weitergehende Überlegungen anzuschließen.

Weit gefehlt, denn auch jene, die sich ökonomisch gegen die „Allmacht der Märkte“ und politisch gegen eine „marktkonforme Demokratie“ aussprechen, betrachten den Markt als den eigentlichen Regulator gegenwärtigen Wirtschaftens, und in den Debatten über den notwendigen sozialökologischen Umbau der Ökonomie werden sie nicht müde, darauf hinzuweisen, dass dabei die Planung den Markt nicht ersetzen könne, vielmehr über eine geeignete Kombination der beiden Regulatoren nachzudenken sei.[4] Womit offensichtlich auch sie dem Gerede vom Markt als Regulator auf den Leim gegangen sind.

Gewiss, auch nach Marx sind es „blind wirkende Gesetze“, die die kapitalistische Wirtschaft regulieren. Dem oberflächlichen Betrachter allerdings bleibt ihr blindes Wirken unsichtbar[5], denn es findet außerhalb des Markts bzw. der Zirkulationssphäre statt. Diese Gesetze, wie überhaupt das „Geheimnis der Plusmacherei“ zu „enthüllen“, müsse man daher, seiner Meinung nach, den Markt, diese „geräuschvolle, auf der Oberfläche hausende und aller Augen zugängliche Sphäre verlassen…, zusammen mit Geldbesitzer und Arbeitskraftbesitzer, um beiden nachzufolgen in die verborgne Stätte der Produktion, an deren Schwelle zu lesen steht: No admittance except on business (Kein Zutritt, außer in Geschäftsangelegenheiten).“[6]

In der Tat ist es nicht der Markt, der die Waren-, Kapital- und Finanzströme reguliert, sondern der Profit, präziser: die Profitrate. Wenn heutzutage Produktionsstandorte verlagert werden, so ganz gewiss nicht wegen irgendwelcher Marktverhältnisse, sondern weil die Verlagerung, trotz ihrer ja auch nicht ganz geringen Kosten, profitabel zu werden verspricht, d.h. am neuen Standort werden voraussichtlich (noch) höhere Profite realisiert als am alten. Auch werden brandneue Produkte nicht auf den Markt gebracht, weil eine Nachfrage nach ihnen besteht (die potentiellen Abnehmer kennen sie ja noch gar nicht), sondern weil man glaubt, sie profitabel absetzen zu können, wozu allerdings auch gehört, eine Nachfrage nach ihnen zu erzeugen. Zu seiner Zeit völlig richtig vermerkte Marx dazu: „Die Produktion produziert daher nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand.“[7] Letztgenannte Aufgabe wird heute arbeitsteilig vor allem durch professionelle Werbeagenturen erledigt, die von den Unternehmern selbst eingerichtet oder von ihnen bezahlt werden: Wird in der Produktion ein Gegenstand für das Bedürfnis erzeugt, so in der Werbung das Bedürfnis für den produzierten Gegenstand. Zwar ist die Werbung selbst keine produktive, keine Mehrwert produzierende Tätigkeit, aber sie ist heutzutage ungemein wichtig für den Verkauf der produzierten Gegenstände. Deshalb werden die zunächst nur Kosten verursachenden Werbeagenturen auch sehr gut bezahlt und deren Eigentümer partizipieren auf diese Weise an dem Mehrwert, der von den Produzenten der von ihnen beworbenen Produkte erzeugt worden ist.

Nicht Regulator, doch Indikator
All das bedeutet nicht, dass der Markt keine Funktion besitzt. Er ist gegenwärtig nicht nur die Vermittlungsinstanz zwischen Anbietern (potentiellen Verkäufern) und Nachfragern (potentiellen Käufern), er zeigt auch an, wenn bestimmte Störungen in diesem Vermittlungsprozess eingetreten sind. Ein Instrument, das einen Missstand anzeigt, ist allerdings kein Regulator, sondern ein Indikator. Wenn der Markt beispielsweise ein Missverhältnis zwischen produziertem Angebot und zahlungsfähiger Nachfrage anzeigt, so ist das zwar sehr wichtig für die auf dem Markt agierenden Unternehmen, aber das Missverhältnis selbst ist damit keineswegs „reguliert“ oder beseitigt. Überdies wird ein solches Missverhältnis vom Markt erst im Nachhinein angezeigt, also erst dann, „wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist“. Die Finanzkrisen der letzten Jahre haben drastisch vor Augen geführt, dass daran auch im Millisekundentakt arbeitende Computersysteme prinzipiell nichts ändern. Eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein, denn die Beträge, zu denen sich in den letzten Jahren die tatsächlich stattgefundenen oder gerade noch vermiedenen Bankenpleiten und Staatsbankrotte „heraufgearbeitet“ haben, bewegen sich auf einem schwindelerregenden Niveau, das die Summe aller „schwarzen Freitage“ der Bank- und Börsengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts bei weitem übertrifft.

Könnte Planung daran etwas ändern? Zunächst ist festzuhalten, dass den oben beispielhaft genannten Standortverlagerungen und Produkteinführungen selbstverständlich sorgfältige Planungen vorausgehen, das Ziel, die „Plusmacherei“, vom einzelnen Unternehmen in der Tat ganz planmäßig angegangen wird. Ob ein solcher Plan aufgeht, ist eine ganz andere Frage, die letztlich durch die tatsächlich realisierten Profite beantwortet wird. Von dieser Warte aus betrachtet, ist die Planung innerhalb eines solchen Unternehmens zunächst eine ziemlich einfache Angelegenheit, weil ihr eine einzige Zielfunktion zu Grunde liegt und das Erreichen des Zieles eindeutig quantifiziert und abgerechnet werden kann. Die eigentliche Schwierigkeit derartiger Unternehmensplanung liegt vielmehr darin, dass die Unternehmen untereinander um höchstmögliche Profite konkurrieren und sich schon von daher die einzelnen Zielfunktionen gegenseitig konterkarieren. Im Resultat dieses Vorgangs entsteht vor unseren Augen jenes regellose Marktgeschehen, das angeblich den Wohlstand der Allgemeinheit erzeugt, in Wahrheit aber Ausdruck des Wirkens von Anarchie und Konkurrenz ist.

Desaster mit Plan als Gesetz
Derartiges Planen ist offenbar nicht gemeint, wenn Plan und Markt in gehabter Weise gegenübergestellt werden. Gesellschaftliche – und das hieß vor allem: staatliche – Planung sollte vielmehr dazu dienen, einerseits gemeinsam zu erreichende Ziele zu formulieren und dann zu verwirklichen, andererseits die schädliche Konkurrenz zwischen den einzelnen Unternehmen sowie die aus ihr resultierende Anarchie in der Produktion zu beseitigen; an die Stelle der Konkurrenz sollte der (sozialistische) Wettbewerb treten. Die Mitte der 1920er Jahre in der Sowjetunion geführte Diskussion, ob der Plan den Charakter einer Voraussage (Prognose) haben solle oder den einer Weisung, wurde zu Beginn des ersten Fünfjahrplans (1929-33) in der Weise entschieden, dass der Plan zum Gesetz erhoben wurde, und zwar im juristischen, nicht im ökonomischen Sinne. Dies sollte fatale Folgen haben, wurde doch damit jeder, der gegen den Plan verstieß, zumindest potentiell, zum Gesetzesbrecher bzw. Straftäter, und dementsprechend, wie die Erfahrungen bis weit in die 1950er Jahre hinein (und teilweise auch darüber hinaus) zeigten, hart bestraft. Für den einzelnen Wirtschaftsleiter war es daher im Allgemeinen viel ungefährlicher, sich an den Plan zu halten und damit einer andernorts stattgefundenen Entwicklung hinterher zu hinken, als selber Entwicklungen anzustoßen, initiativ zu werden und damit gegen den Plan zu verstoßen. Einige interpretierten daher die Formel von der „organischen Verbindung der Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution mit den Vorzügen des Sozialismus“[8] sarkastisch in der Weise, dass es die Errungenschaften „im Westen“ gibt und die Vorzüge „im Osten“ und man beide „nur“ organisch verbinden muss.

So wie der Markt kein Regulator, sondern ein Indikator ist, so war auch der Plan im real nicht mehr existierenden Sozialismus kein Regulator, sondern ein Normativ, eine juristisch fixierte Vorschrift. Einen Regulator aber, wie er sich in der kapitalistischen Wirtschaft, nach einer Jahrhunderte währenden Entwicklung (von der Aufhebung der Leibeigenschaft bis zur Errichtung der großen Industrie), in Gestalt der Profitrate schließlich herausgebildet hatte, den gab es nicht, was angesichts der historisch kurzen Lebenszeit des realsozialistischen Systems auch nicht verwundern kann. Ein solcher Regulator müsste allerdings unabhängig vom Willen und Wollen der Menschen, auch irgendwelcher Institutionen, quasi automatisch funktionieren, vergleichbar mit dem genauso arbeitenden vegetativen Nervensystem des Menschen (auch unser Organismus arbeitet unabhängig von unserem Denken und Fühlen, und nur im Falle von Störungen müssen wir über sein Funktionieren nachdenken und gegebenenfalls Abhilfe schaffen).

Auf welche Weise allerdings ein solches neuartiges System der Selbstregulation bzw. Selbstorganisation jenseits moralischer Appelle entstehen kann, ist eine völlig offene Frage. Ihre Beantwortung setzt aber wohl voraus, sich auch von den alten Denkschablonen über die ja nur scheinbar als Regulatoren funktionierenden Gegensatzpaare „Markt und Staat“ (im Kapitalismus) bzw. „Plan und Markt“ (im Sozialismus) zu verabschieden, und ganz neue, darunter sicherlich auch scheinbar sehr verrückte Gedanken zu diesem Thema zu entwickeln. Vielleicht müssen wir uns auch einiger ganz alter und heute völlig vergessener Ideen erinnern. Beispielsweise gelangte Marx, auf die „fortwährende relative Überproduktion“ als notwendiger Reproduktionsbedingung der Gesellschaft eingehend, zu folgender Überlegung, die er leider nicht näher ausgeführt hat: „Solche Art Überproduktion ist gleich mit Kontrolle der Gesellschaft über die gegenständlichen Mittel ihrer eignen Reproduktion. Innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft aber ist sie ein anarchisches Element.”[9]

Thomas Kuczynski lebt und arbeitet in Berlin. Sein Beitrag zur „Geschichte und Ökonomie“ erscheint regelmäßig seit dem ersten Heft von Lunapark21 im Frühjahr 2008.

Anmerkungen:

[1] N. Gregory Mankiw, Mark P. Taylor: Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. Stuttgart 2012, S. 12.

[2] Emma Rothschild: Adam Smith and the Invisible Hand. In: The American Economic Review, May 1994, Vol. 84, No. 2, pp. 319-322.

[3] Shakespeare, Macbeth, 3. Aufzug, 2. Szene.

[4] Vgl. letztens Hans Thie: Rotes Grün. Pioniere und Prinzipien einer ökologischen Gesellschaft. VSA-Verlag Hamburg 2013.

[5] Wenigstens angemerkt sei die Tatsache, dass die in der Moderne so verschiedenen Worte blind und unsichtbar im Lateinischen noch identisch waren und mit caecus zu übersetzen sind.

[6] Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 23, S. 189 (Marx: Das Kapital. Band I).

[7] MEW, Bd. 42, S. 27 (Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Einleitung).

[8] So der Untertitel des Buches Wissenschaft und Produktion im Sozialismus, Berlin (DDR) 1976.

[9] MEW, Bd. 24, S. 465 (ebenso in der Originalfassung; vgl. Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. II/11, S. 770/71).

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