Tunnelmania – oder: Über Männlichkeitswahn und Technikfetischismus

In meinem letzten Lunapark21-blog von Ende März 2017 ging ich auf unterschiedliche Großprojekte ein. Ich erklärte, dass bei diesen „grande opere inutili“, diesen großen unnützen Werken, die Kosten deshalb explodierten und die Bauzeiten deshalb sich immer aufs Neue verlängerten, weil es im Kapitalismus die objektive Tendenz der „Finanzialisierung“ gibt: zu geringe Profite in der Realwirtschaft üben einen Druck aus in Richtung  Spekulation und Schaffung von Anlagemöglichkeiten in absurden und zerstörerischen Großprojekten. Ergänzend lässt sich feststellen: Bei diesen Projekten spielen auch irrationale Aspekte, die einiges mit Psychologie zu tun haben, und eine männlich bestimmtes Technikgläubigkeit und ein Naturbeherrschungswahn eine nicht unwichtige Rolle.

 

Ende November 2013 tagte in Stuttgart die STUVA e.V.; die „Studiengesellschaft für unterirdische Verkehrsanlagen – STUVA e.V.“ „Verein“ klingt  nach Gartenlaube oder Kaninchenzüchter. Doch hier geht es um andere Dimensionen: Anwesend bei der STUVA-Tagung waren 1600 Menschen aus mehreren Ländern; überwiegend Vereinsmitglieder oder Vertreter von solchen Mitgliedern. 96 Prozent der Anwesenden waren männlichen Geschlechts. Sie hatten sich im ICS, dem Internationalen Congress Center Stuttgart, versammelt. Das am meisten beachtete Referat auf dieser Tagung hielt Volker Kefer, der damalige Infrastrukturvorstand der Deutschen Bahn AG. Die Deutsche Bahn AG und Kefer fühlten sich damals als Herren der oberirdischen und insbesondere der unterirdischen Schienenwelten. Stuttgart 21 und die Tunnelbauorgie bei diesem Projekt und bei der Neuaustrecke von Stuttgart über die Schwäbische Alb (offizielle Bezeichnung: „NBS Wendlingen – Ulm“) standen im Zentrum des Treffens der internationalen Tunnelbau-Freaks.

Kefer entwickelte in seinem Vortrag die Theorie, wonach in Zukunft immer mehr Menschen in Metropolen wohnen werden. Diese Leute liebten es, sich von Großraum zu Großraum in hoher Geschwindigkeit zu bewegen. Und weil die Leute das so wollten, so Kefer weiter, setze die Bahn auf den Ausbau der Hochgeschwindigkeit-Strecken und auf einen Ausbau der Knoten und Bahnhöfe. Für diese neue Form die Urbanität vernetzender Hochgeschwindigkeitsstrecken benötige man viele Tunnels. Also just das, was all die anwesenden 1600 Vereinsmitglieder der „Studiengesellschaft für unterirdische Verkehrsanlagen“ vereint. Kefer rechnete vor: Ende 2002 habe es im deutschen Schienennetz mit 34.000 km Betriebslänge 692 Tunnel mit einer Gesamtlänge von 492 Kilometern gegeben. In den nächsten zehn Jahren – „bis 2023“ – seien der Bau bzw. die Inbetriebnahme von Tunnelbauten mit 187 weiteren Tunnelkilometern vorgesehen – in Form von Ersatzbauten und vor allem von Aus- und Neubauprojekten. All das zusammen würde – allein für den erforderlichen Tunnelbau – einen Investitionsaufwand von 24,2 Milliarden Euro erfordern. Nicht erwähnt wurde ein Subtext, der allen Anwesenden bewusst war: Es geht dabei so gut wie ausschließlich um Steuergelder.

Hier muss man sich die Proportionen vor Augen halten: In – zum damaligen Zeitpunkt – 178 Jahren deutsche Eisenbahngeschichte wurden auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland Tunnelbauten mit einer addierten Länge von knapp  500 Kilometern gebaut. In den nächsten zehn Jahren sollen – so Kefer – weitere 187 Kilometer oder knapp 40 Prozent hinzukommen. Und dies vor dem Hintergrund eines seit der Bahnreform 1994 um 19 Prozent geschrumpften Netzes, das Jahr für Jahr weiter abgebaut wird. Selbst in der Amtszeit der abgedankt habenden Herren Grube und Kefer, zwischen 2009 und 2016, wurde das betriebene Netz um weitere 341 Kilometer und die Gleislänge sogar um 3134 Kilometer gekappt.[1] Doch der Anteil der in Tunneln verlaufenden Kilometer stieg allein im Zeitraum 2001 bis 2016 um 45 Prozent.

Man fragt sich unwillkürlich: Haben sich in jüngerer Zeit vielleicht neue Mittelgebirge aufgetürmt? Hat sich die Endmoränenlandschaft neu sortiert? Muss die Eisenbahn in Deutschland sich veränderten geologischen Verhältnissen anpassen?

Natürlich geht es hier auch um die finanziellen Interessen der Baulobby und Tunnelbohrer. Und natürlich war die Firma Herrenknecht, der weltweit führende Tunnelbaubohrer-Hersteller und Tunnel-Bauer auf der STUVA-Tagung prominent vertreten. Doch offensichtlich spielt auch anderes eine erhebliche Rolle.

Werfen wir einen Blick auf einen aktuellen Tunnelbau im März 2017 in Stuttgart. Über diesen wird wie folgt berichtet: „Walter Wittke war ebenfalls beim Durchstich [des Tunnels; W.W] dabei – und konnte nebenbei seinen 83. Geburtstag auf der Baustelle feiern.“ Es handelt sich um den Senior-Chef  einer Tunnelbau-Beratungsgesellschaft. Über diesen Herrn Wittke heißt es an anderer Stelle: „Er wandert zwar leidenschaftlich gerne, lieber als oben auf dem Gipfel ist er aber unten im Berg.“[2]

Warum aber feiert ein 83jähriger seinen Geburtstag im feuchten, stickigen, tiefen Tunnelbau? Warum liebt er grundsätzlich den Aufenthalt unter Tage? Die „Tunnelmania“, die hier aufscheint, sollte man psychoanalytisch unter die Lupe nehmen.

Die Tunnelpatronin, die Heilige Barbara, ist weiblichen Geschlechts. Vergleichbares gilt in den meisten männer-dominierten Kulturen – der Berg ist weiblich. Das Bohren im Berg dann war Jahrhunderte lang in Deutschland – und ist auch heute noch in vielen Ländern der Welt – ausschließlich Männersache. Frauen im Tunnel während der Arbeit der Mineure sind in der Regel unerwünscht; ihre Anwesenheit könnte Unglück bringen. Noch 1994 berichtete das Deutsche Forschungs-Magazin: „Geologie-Studentinnen durften bei einer Bergwerksbesichtigung nur in den Lehrstollen und nicht in den Hauptstollen, da ´das Einfahren von Frauen in eine Zeche Unglück brächte´, wie der zuständige Grubenleiter glaubte.“[3]

Die Erde wird als weiblich imaginiert; Männer müssen allein im Stollen oder Tunnel arbeiten. Zumal bei dem gigantischen Herrenknecht-Bohrkopf ein „Erektor“ zum Einsatz kommt, der „die Ausbruchslaibung auskleidet und abdichtet.“[4]  Kommen Frauen hinzu, so grollt die Erde bzw. die Berggöttin wird eifersüchtig; es droht ein Unglück.

In Artikel 2 der Vereinbarung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) von 1935 wurde festgelegt: “No female, whatever her age, shall be employed on underground work in any mine.“ („Keine Frau, welchen Alters auch immer, soll unter Tage in einem Bergwerk arbeiten“). Offiziell heißt es, damit habe man Frauen vor der harten Bergarbeiterarbeit schützen wollen. Das ist insofern absurd, weil im Kapitalismus des 18. und 19. Jahrhunderts die Arbeit unter Tage zu einem erheblichen Teil Sache von Frauen und Kindern war. Dies erfolgte teilweise, weil diese billiger waren; vor allem jedoch, weil diese mit ihren geringeren Körpergrößen auch in enge Schächte vordringen konnten. So konnte man massiv bei den Tunnelprofilen sparen. Das Thema „Schutz der Frauen vor harter Arbeit“ stellte sich erst, als die Arbeiten unter Tage weniger brutal und weniger lebensgefährdend geworden waren.

Das im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts verkündete Privileg der Arbeit unter Tage für Männer galt fast ein Jahrhundert lang. Die Bundesrepublik Deutschland hat das zitierte Abkommen erst 2008 gekündigt.  Offensichtlich geht es hier um „tiefer“ liegende Vorstellungen. Lord Randolph, der Vater von Winston Churchill, verfasste 1899 eine Stellungnahme gegen den Bau einer Tunnelverbindung zwischen Frankreich und England, in der der unterstellte weibliche Charakter der Untergrundes nochmals skurriler und wie folgt thematisiert wurde: „Das Ansehen Englands beruht bis auf den heutigen Tag auf seiner Existenz als intakter Jungfrau (virgo intacta).“[5]

In Japan gab es bis Ende der 1980er Jahre ein Verbot weiblicher Präsenz in Tunneln während deren Bau und bei Einweihungen von Tunnelbauten. Die Eröffnungsfeier des damals längsten Tunnels der Welt, des 53,9 Kilometer langen Seikan-Unterwasser-Tunnels zwischen den Inseln Honshu und Hokkaido, fand im Jahr 1985 zunächst, und damit traditionell, ohne Frauen statt. Als es wegen dieser geschlechtsspezifischen Einschränkung zu heftigen Protesten kam, wurde die Feier sechs Monate später wiederholt; nun durften Journalistinnen teilnehmen. Dabei wurde jedoch strikt darauf geachtet, dass keine Bauarbeiter sich gleichzeitig im Tunnel befanden und dass für die Feier kein Werktag, also kein potentieller Arbeitstag – an dem die Berggöttin besonders wachsam gewesen wäre – gewählt wurde. Die Frauen erhielten darüberhinaus die Auflage, „nicht in Röcken zu erscheinen.“ Es kam zu keinem Unglück; der Tokioter Korrespondent der Deutschen Presse-Agentur (dpa) schrieb damals: „Offensichtlich hatte auch die eifersüchtige Berggöttin ein freies Wochenende genommen.“[6]

Die Tunnelmania kann durchaus darin enden, dass sich ein Großprojekt auch höchst konkret am Ende der Bauzeit als ein „unnützes“ herausstellt. Besagter Seikan-Tunnel, der bis zu 100 Meter unter dem Meeresboden verläuft und dessen Bau den Tod von 34 Mineuren gefordert hatte, erwies sich nach seiner Fertigstellung für die ursprüngliche Funktion einer Hochgeschwindigkeitsverbindung zwischen Tokio und Sapporo als nicht mehr sinnvoll. Das Verkehrsaufkommen wird inzwischen zu 95 Prozent im Luftverkehr abgewickelt. In den drei Jahrzehnten 1985 bis 2016 wurde das Bauwerk kaum genutzt (es gab Planungen, es als riesigen Schutzkeller für den Fall eines atomaren Kriegs einzuplanen). Die Unterhaltskosten für dieses grande opera inutile  überstiegen allein in diesem Zeitraum die Baukosten deutlich. Seit dem 26. März 2016 verkehrt nun doch ein (Kurzstrecken-) Hochgeschwindigkeitszug, der Hokkaidō-Shinkansen, durch den Tunnel; allerdings nur auf einem Teilabschnitt. Eine Auslastung, die die Baukosten und den Aufwand auch nur annähernd rechtfertigen würde, wird wohl nie erreicht werden.

Vergleichbares ist für die 60 Kilometer langen Tunnelbauten beim Projekt Stuttgart 21 zu erwarten. Ihr Verlauf u.a. durch nicht beherrschbare Bodenformationen mit Anhydrit (Gipskeuper) wird dazu führen, dass sich in diesen unterirdischen Bauten Bodenbewegungen ergeben, was einen ständigen hohen Sanierungsbedarf erfordert und die Befähigung für den Betrieb grundsätzlich in Frage stellt – wie dies in jüngeren Gutachten seitens des Bundesrechnungshofs (Juli 2016) und vor allem seitens der Beratungsgesellschaften KPMG und Ernst Basler + Partner (Oktober 2016) ausgeführt  wurde.

Offensichtlich hat die Tunnelbauwut auch etwas zu tun mit einem Machbarkeitswahn und mit einem zwanghaften Umgang mit der Natur, der ein männlich und machistisch geprägter Wille – „dem Ingeniör ist nichts zu schwör“ – aufgezwungen werden soll. Da wird begradigt, eingeebnet, planiert, untertunnelt, durchbohrt und auf diese Weise das höchst problematische Bibel-Wort „Macht Euch die Erde untertan“ umgesetzt. Eine nachhaltige, Ressourcen, Umwelt und das Klima schonende Umgangsweise mit der Natur muss von einem grundsätzlich anderen Grundverständnis ausgehen.

Dem Marxismus wird oftmals eine Technikgläubigkeit und auch ein Fetischismus hinsichtlich des „technologischen Fortschritts“ zugesprochen. Dies trifft zweifellos auf die (mehrheitliche) deutsche Sozialdemokratie seit Ende des 19. Jahrhunderts und in fürchterlichem Maß auf den Stalinismus, also auf die Sowjetunion ab den 1930er Jahren, zu. Auf Marx und Engels trifft dies nicht zu; schon gar nicht auf den „frühen Marx“ (siehe die „Pariser Manuskripte) und auf den „späten Engels“. Der letztgenannte fand vielmehr zum Verhältnis Mensch und Natur Formulierungen, wie sie heute angesichts der sich abzeichnenden dramatischen Klimaveränderung – die von Donald Trump ebenso wie von der AfD geleugnet werden – brandaktuell sind: „So werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern, dass wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehen, und dass unsere ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug zu allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.“[7]

 

Vom Autor erscheint Ende Mai das Buch: „abgrundtief + bodenlos. Stuttgart 21 und sein absehbares Scheitern“ (300 Seiten, 17 Euro; Papyrossa, Köln).

 

 

[1] Bei Amtsantritt von Grube und Kefer 2009 verfügte DB Netz über ein Schienennetz mit einer Betriebslänge von 33.721 km; Ende 2016 waren es 33.380 km. Die Gleislänge betrug 2009 63.914 km; Ende 2016 waren es noch 60.780 km. Nach: Jeweilige Ausgaben von Daten und Fakten; Deutsche Bahn AG.
[2] Bezug. Das Projektmagazin, [herausgegeben von der Deutschen Bahn AG], März 2017, S. 9.
[3] Deutsches Forschungs-Magazin Nr. 12, S. 5.
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Tunnelbohrmaschine.
[5] Peter Haining, Eurotunnel. An Illustrated History oft he Channel Tunnel Scheme, Folkestone 1989, S. 13. Das damals von der ÖBB herausgegebene Magazin Eurocity titelte anlässlich der Eröffnung des Eurotunnels: “Wie ein Inselvolk endlich seine Jungfräulichkeit verliert.” Eurocity, Zeitschrift der Österreichischen Bundesbahnen ÖBB, 1/1991.
[6] Frankfurter Rundschau vom 22. Februar 1988; Der Spiegel 39/1994. Der Autor erlebte als MdB bei einem Besuch einer Bundestagsdelegation in der Tschechischen Republik im Jahr 1999, wie Mineure fluchtartig einen in Bau befindlichen Straßentunnel verließen, als die deutsche Delegation dort – im Tunnel selbst – auftrat. Der Grund: Es gab zwei weibliche Bundestagsabgeordnete in der Delegation. Die ersten Erfahrungen mit dem Tunnelbauwahn u.a. bei Stuttgart 21 veranlassten mich, 1996 ein kleines Buch mit dem Titel „Tunnelmania – Licht und Schatten im Untergrund“ herauszubringen (Köln 1996, ISP-Verlag). Dort kam auch Sigmund Freud zu Wort.
[7] Friedrich Engels, Dialektik der Natur, Marx-Engels-Werke (MEW) Band 20, S. 453.

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