Forschung statt Nachhaltigkeit?

Bernhard Knierim. Lunapark21 – Heft 21

Wer den 264-Seiten-Wälzer „Nationale Nachhaltigkeitsstrategie – Fortschrittsbericht 2012“ der Bundesregierung in die Hand nimmt und darin zu lesen beginnt, darf sich entspannt zurücklehnen: Dem Bericht zufolge sind wir in den meisten Bereichen auf einem guten Weg zu einer nachhaltigen Gesellschaft, und die Kanzlerin stellt zufrieden fest: „Die langfristigen Folgen des eigenen Handelns zu überdenken, ist selbstverständlicher geworden.“

Nur wer sich die Mühe macht, auch die ausführlichen Kapitel weiter hinten zu lesen, findet auch die kritischen Daten: So ist der Energieverbrauch des Landes von einem kleinen Krisen-Einbruch in den Jahren 2008/09 abgesehen nicht gesunken, noch immer versiegeln wir deutschlandweit jeden Tag knapp 80 Hektar neue Flächen durch den Bau von Siedlungen und Straßen, das Artensterben geht trotz aller Beteuerungen unvermindert weiter. Und noch immer werden jedes Jahr mehr Güter und Personen über noch weitere Strecken transportiert, der extrem schädliche Inlandsluftverkehr nahm seit 1999 gar um 21,2 Prozent zu. Das alles muss jeder vernünftig denkende Mensch als das Gegenteil von Nachhaltigkeit erkennen, aber der Bericht lässt sich lieber über die angeblich nachhaltigen wirtschaftlichen und fiskalischen Daten aus, als über die ökologischen und sozialen. So kommt die Regierung zu dem Ergebnis: „Die Richtung stimmt“.

Steuergelder für fortgesetzte Umwelt- und Klimabelastung
Aber es gibt auch andere Interpretationen: So bemängelt der Rat für Nachhaltige Entwicklung in seinem aktuellen Bericht, dass die Umsetzung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie ins Stocken geraten sei und wir in einigen Bereichen sogar Rückschritte machen. Mit dieser Auffassung steht der Rat nicht alleine, denn die Bemühungen der Bundesregierung für mehr Nachhaltigkeit werden auch durch unabhängige Gutachter aus dem Ausland überprüft. Dieser „Peer Review der deutschen Nachhaltigkeitspolitik“ sieht die Entwicklung ebenfalls sehr kritisch: „Deutschland scheint nicht gut darauf vorbereitet zu sein, notwendige Veränderungen zu beschleunigen, um die Probleme einer sich schnell ändernden globalen Umwelt zu bewältigen. Aus unserer Sicht als externe Beobachter sehen wir gute Beispiele für politisches Handeln in Deutschland, aber wir sehen auch erhebliche Möglichkeiten, die unterbewertet, verpasst oder verloren wurden.“ Bemängelt wird insbesondere, dass sich zwar alle Institutionen zur Nachhaltigkeit bekennen, aber immer wieder andere Ziele in den Vordergrund stellen.

Was aber auch hier so deutlich nicht steht: Noch immer leistet sich Deutschland jedes Jahr umwelt- und klimaschädliche Subventionen in Milliardenhöhe, die genau das Gegenteil der vielbeschworenen Nachhaltigkeit bewirken: Diese Subventionen sind in der Tabelle auf Seite 29 aufgeführt. Es geht insgesamt um rund 50 Milliarden Euro – pro Jahr. Dabei ist anzumerken: Diese Zahlen sind zum einen noch sehr konservativ gerechnet; sie untertreiben das tatsächliche Ausmaß der Subventionierung von Zerstörung. Zum anderen können viele der schädlichen Subventionen – beispielsweise die Subventionierung der Atomenergie oder von Agrokraftstoffen – nicht einmal genau quantifiziert werden. Andere kurzfristigere Maßnahmen wie die Abwrackprämie fehlen in der Aufstellung noch. Überdies tauchen auch alle Regelungen, die keine finanziellen Subventionen darstellen – beispielsweise unnötig hohe Grenzwerte mit umweltschädigender Wirkung – in dieser Aufstellung nicht auf. Wer die Bemühungen um Nachhaltigkeit ernst nehmen würde, müsste all diese Subventionen und Regelungen schnellstmöglich abbauen und in vielen Fällen sogar ins Gegenteil verkehren – in eine Art Strafzölle oder Ökosteuern zur Reduktion dieser das Klima, die Umwelt und die Menschen belastenden Prozesse. Die Bundesregierung versucht hingegen die Illusion aufrecht zu erhalten, dass man in vielen Bereichen bislang nichts für eine Verbesserung tun könne, weil man schlichtweg kein ausreichendes Wissen habe – und lenkt damit von der eigenen Untätigkeit ab. Deswegen werden wie als Entschuldigung immer wieder neue Forschungsprogramme zur Nachhaltigkeit aufgesetzt, viele davon unter dem Rahmenprogramm „Forschung für nachhaltige Entwicklung“ (FoNa). Beim Großteil dieser Programme ist jedoch mehr als fraglich, wie viel sie tatsächlich zu einer nachhaltigen Gesellschaft beitragen. Wie so oft gehen die Mittel zum ganz überwiegenden Teil in technische Entwicklungen mit dem Versprechen des „grünen Wachstums“. Riesige Summen laufen in Projekte wie CO2-Speicherung im Untergrund (CCS) oder Elektroautos.

Der Nachhaltigkeits-Jetset
Das Ziel ist offensichtlich eine „Wohlfühl-Nachhaltigkeit“, für die wir an unserem Lebensstil nichts ändern müssen und lediglich neue Technologien einsetzen – die unbequeme Frage nach den notwendigen Verhaltensänderungen bleibt außen vor (siehe dazu auch Lunapark 18, S. 62-65). Kritische Wissenschaftler wie Uwe Schneidewind und Hans-Jochen Luhmann konstatieren entsprechend: „Die Programme […] haben sich fast in allen Fällen als zu eng, zu disziplinär und zu technologieorientiert erwiesen. So vermag die Wissenschaft zwar einen Korb von Lösungsbausteinen anzubieten, es entsteht aber nur ein Flickenteppich, kein besseres Verständnis der komplexen Transformationsprozesse für mehr Nachhaltigkeit. Um es an einem Beispiel auszudrücken: Wir schaffen mit viel Mitteln viel Wissen über neue Elektro-Batteriekonzepte, bleiben aber auf dem Gebiet der Gestaltung grundlegend neuer Mobilitätsmuster weitgehend unbelehrt.“

Gleichwohl ist diese Forschung unter dem Schlagwort Nachhaltigkeit zunehmend zu einem attraktiven neuen Karrierepfad geworden. So schießen in den letzten Jahren die Forschungsinstitute mit dem Nachhaltigkeitslabel wie Pilze aus dem Boden, auch wenn oft im Endeffekt immer wieder die gleichen Personen auf der Leitungsebene dahinterstecken und ähnliche Projekte durchführen. Es hat sich eine eigene Forschungsgemeinde gebildet, die der Postwachstumsökonom Nico Paech treffend als „Nachhaltigkeits-Schickeria“ kritisiert, die „im Namen des Klimaschutzes genauso pausen- wie wirkungslos von Kontinent zu Kontinent jettet, um den immer gleichen Vortrag – manchmal sogar vor den immer gleichen Konferenztouristen – zu halten“, und die „sich mit überlegener theoretischer Nachhaltigkeitsexpertise präsentieren, jedoch unverhohlen eine diametral entgegengesetzte Alltagspraxis vorführen.“ Diese Diskrepanz zwischen den Vorträgen und dem eigenen Tun hat eine fatale Wirkung, weil sich so das Bild von „Nachhaltigkeit“ als Wohlfühlveranstaltung immer mehr festsetzt. Das nährt weiter die Illusion, dass eine nachhaltige Zukunft nichts mit unserem Verhalten, sondern allenfalls mit einem Austauschen und Effizienter-Machen von Technologien zu tun habe. Und das adelt nicht zuletzt auch wieder die Linie der Regierung, dass Nachhaltigkeit immer das ist, wo man es draufschreibt.

Forschung für mehr Nachhaltigkeit bleibt ein wichtiges Anliegen, aber sie muss zum ersten die relevanten und manchmal auch unbequemen Fragen stellen, wie wir unsere Gesellschaft zu mehr Nachhaltigkeit transformieren können, und sie darf zum zweiten nicht zum Ersatz für die tatsächliche Umsetzung werden.

Bernhard Knierim lebt in Berlin und versucht den Verlockungen der Nachhaltigkeits-Schickeria zu widerstehen. Kürzlich erschien im Verlag Promedia, Wien, sein Buch Essen im Tank, in dem er sich mit den angeblich nachhaltigen Technologien im Bereich Mobilität und alternativen Lösungen auseinandersetzt.