Schwindel

Georg Fülberth. Lunapark21 – Heft 23

Der Begriff „Spekulation“ wird nahezu durchgehend negativ gebraucht, er steht für nicht durch Leistung legitimierten Gewinn: teurer verkaufen als einkaufen. Dass darauf die kapitalistische Produktionsweise nicht beruhen kann, zeigte Marx gleich am Anfang des „Kapital“: Wer ein Produkt mit einem Aufschlag absetzt, muss damit rechnen, dass er (oder sie) diesen als Kunde (oder Kundin) selbst wieder zahlen muss. Mehrwertproduktion bedient sich nicht eines solchen Tricks: Das arbeitslose Einkommen des Unternehmers ist durch Arbeit gedeckt, nämlich durch die Mehrarbeit der Lohnarbeitenden – keine Spekulation, sondern Weitergabe des vollen Arbeitswerts der Ware.

Allerdings steckt eine Erwartung hinter diesem Handel: dass es gelingen werde, die Waren zu ihrem Wert (einschließlich des Mehrwerts) loszuschlagen. „Erwartung“ ist – anders als „Spekulation“ – ein nicht anstößiger Begriff. Spätestens seit Keynes allerdings hat man sich angewöhnt, eine Rahmenbedingung nicht mehr zu übersehen: Unsicherheit. Wirtschaften sei die Kalkulation mit Erwartungen unter Unsicherheit. Letztere hat ihren Grund nicht in der Produktion, sondern in der Zirkulation, bei der Preisbildung im Einkauf und beim Absatz. Die als unseriös geltende Spekulation kann von der akzeptierten Erwartung also nicht ganz säuberlich getrennt werden.

Marx kennt noch einen weiteren Begriff: Schwindel. Dieser kommt im „Kapital“ durchaus häufig vor, findet allerdings nicht dasselbe analytische Interesse wie der Produktions- und Zirkulationsprozess des Kapitals. Hier findet der Verkauf einer Ware losgelöst von ihrem Wert statt. Wer zu teuer kauft, ist betrogen, manchmal auch ein betrogener Betrüger: wenn er das Produkt seinerseits wieder zu einem überhöhten Preis loszuwerden versucht. Misslingt ihm dies, erleidet er Verluste, geschieht dies massenhaft, gibt es hierfür dramatische Bezeichnungen, zum Beispiel Crash, Krach.

Dieser muss nun seinerseits wieder von einer anderen Sache unterschieden werden, mit der er zugleich doch Einiges gemeinsam hat: der Krise. Sie tritt ein, wenn der Markt gesättigt ist und überschüssige Waren nicht abgesetzt werden können. Die Erwartung, sie zu einem vorher kalkulierten Preis verkaufen zu können, hat getrogen. Sie erschien realistisch, geschah aber eben unter jener Bedingung der Unsicherheit, die sich bei Konkurrenz nicht vermeiden lässt. Den abfälligen Begriff „Schwindel“ verwendet Marx hierfür nicht.

Tatsächlich findet er sich bei ihm nur dort, wo nicht mit irgendeiner beliebigen Ware spekuliert wird, sondern mit einer ganz bestimmten: Kapital in der Form des Kredits. Der mögliche Ort des Schwindels ist der Kapitalmarkt, in der Regel die Börse.

Produktionskredit wird in der Erwartung gegeben, dass ein Mehrwert erzielt wird und ein Anteil davon als Zins dem Gläubiger zufällt. Er bleibt an die normale Mehrwerterzeugung mit all ihrer Rationalität und Unsicherheit gebunden. Dies gilt auch für eine Spezialform des Produktionskredits: die Aktie. Allerdings können mit ihr zwei Arten von Gewinn erzielt werden: die Dividende (dem Zins vergleichbar) und der Erlös aus einer Kurssteigerung. Im letzteren Fall gibt der Erwerber einem produzierenden Unternehmen keinen Kredit, sondern kauft diesen von einem anderen Teilnehmer am Kapitalmarkt. Der Zusammenhang mit der Entwicklung der Dividenden ist allenfalls locker (wenn zum Beispiel eine „Gewinnwarnung“ ausgesprochen wird). Angebot und Nachfrage scheinen in einer Art Selbstbewegung den Preis der Aktie zu bestimmen.

Deren Gesamtheit, dargestellt im Börsen-Index, schlägt allerdings am Ende eines Wirtschaftszyklus, kurz vor der Krise, immer nach oben aus: Die Annahme fortgesetzten hohen Wachstums stärkt die Bereitschaft zu Produktionskrediten, und diese nehmen die Preise für die bereits bestehenden Anleihen nach oben mit.

Hier gewinnt das Wort „Schwindel“ eine Bedeutung diesseits des Kriminellen, also der Schwindelei, nämlich: Die Marktteilnehmer sind vom Schwindel befallen, schwindelig. Ihr Erwachen daraus, der Börsensturz, geht jeder Krise in der Produktion voraus, aber nicht jeder Börsensturz führt zu einer Krise. Der Grund: Kurssprünge nach oben oder nach unten können aufgrund der Eigenbewegung der Kapitalmärkte auch unabhängig vom Verlauf des Zyklus auftreten.

Schwindel in diesem Sinn: Kauf- und Verkaufsspekulation ohne Bezug zur sonstigen wirtschaftlichen Situation, kamen bereits vor der Industriellen Revolution vor, so zum Beispiel in der niederländischen Tulpenmanie des 17. und beim Verkauf von Anleihen auf amerikanisches Land durch John Law im 18. Jahrhundert.

Am Ende des 19. Jahrhunderts wurden Aktien auf den projektierten Bau des Panama-Kanals fieberhaft (dies Adjektiv wird im Zusammenhang mit einem solchen Schwindelzustand häufig gebraucht) gekauft und waren wertlos, als sich herausstellte, dass das Vorhaben in absehbarer Zeit nicht realisiert werde.

Seit etwa vierzig Jahren sind diese einst eher periodischen Anfälle eine Art Dauerzustand geworden. Die Märkte, auf denen Schwindelzustände eintreten können, haben sich erweitert. Mit dem Ende des Währungssystems von Bretton Woods im März 1973 sind nicht nur Aktien und Immobilien, sondern auch Währungen zum Gegenstand permanenter Spekulation geworden, später auch Konsumentenkredite. Dies kann zeitweilig sogar die Produktion beflügeln, da die Aufwertung von Aktien, die Geldvermehrung über die Kreditkarte und die Aufwertung von Grundstücken zusätzliche Nachfrage schafft. So erzeugt der Schwindel sich eine eigene Realität, selbst die Produktion ist dann seine abhängige Variable. Er wird zeitweilig – wie bei Marx die Gewalt (MEW 23: 779) – tatsächlich selbst zu einer ökonomischen Potenz.

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