Öl, Plastik & Meer

Winfried Wolf. Lunapark21 – Heft 25

Seit 110 Jahren ist Öl die wesentliche stoffliche Triebkraft im Kapitalismus. Das hat auf zweierlei Weise enorme negative Auswirkungen auf die Weltmeere. Je mehr die Quellen zur Ölförderung an Land versiegen, desto größer wird die Zahl der Ölförderanlagen im Meer, zunächst als Ölplattformen in Ufernähe, zunehmend auf offener See und bald in Form des bereits beschriebenen Tiefseebergbaus – mit enormen zerstörerischen Folgen (s. Deepwater Horizon 2010). Gleichzeitig zerstört ein Ölprodukt die Wasserqualität der Ozeane, die Strände und bewirkt den Tod von Millionen Lebewesen: Plastik.

Dass Plastik etwas mit Öl zu tun hat, ist vielen Menschen nicht bewusst. Mindestens acht Prozent der weltweiten Ölförderung dienen heute der Herstellung von Plastik. Das Wachstum der Plastikindustrie ist deutlich größer als das des Ölverbrauchs zur Erzeugung von Energie in Kraftwerken, für Pkw, Lkw, Flugzeuge und Schiffsmotoren. 1950 – zwei Jahrzehnte nach der Erfindung von Plastik-Kunstoffen – wurden weltweit 1,7 Millionen Tonnen Plastikprodukte hergestellt. 1980 waren es 80 Millionen Tonnen und 2013 wurden 300 Millionen Tonnen überschritten. Zwischen 2000 und 2013 wurden mehr Plastikprodukte hergestellt als im gesamten Zeitraum von 1950 bis 2000. Anders als bei der Pkw-Nutzung, die, wenn man den offiziellen Statistiken Glauben schenkt, in einigen hochindustrialisierten Zentren, so in Deutschland, seit einem Jahrzehnt nur noch marginal wächst, ist ein Plastik-Peak nicht in Sicht.

Wenn die Umweltschutzorganisation Nabu den Plastikmüll als „Überbleibsel unserer zivilisierten Wegwerfgesellschaft“ bezeichnet, so ist dies ein Teil der Wahrheit; doch die Kritik wird hier vom Ursprung, der Industrie und dem fossilen, kapitalistischen System, auf den Verbraucher gelenkt. Die wesentliche Ursache für die Plastikflut ist, dass wir in einer künstlich produzierten Plastikwelt leben – ziemlich genau so, wie dies von dem britischen Chemiker Victor Yarsley 1941 als eine Vision des „Wunders der Kunststoffe“ prophezeit wurde: „Der Plastikmensch wird in eine Welt der Farben und der hell leuchtenden Oberflächen eintreten, in der kindliche Hände nichts zum Zerbrechen finden, keine scharfen Kanten, keine Ecken [… ] Die Wände seines Kinderzimmers, […], alle seine Spielzeuge, der geformte, leichte Kinderwagen, in dem er die frische Luft einatmet, der Zahnring, auf den er beißt, die unzerbrechliche Flasche, aus der er trinkt. […] Er reinigt sich die Zähne mit einer Plastikbürste, […] Die Fenster seiner Schule […] aus gespritztem Plastik, leicht und einfach zu öffnen, und sie brauchen nie einen Anstrich.“[1]

Bis auf die Barbie-Puppe und das „flüssige Plastik“ Margarine stimmt das Bild, das Yarsley zeichnete, auch ein Dreivierteljahrhundert später ziemlich genau. Ein anderer Verteidiger der Ölgesellschaft, Daniel Yergin, spricht gar vom „Wasserstoffmenschen“, davon, dass „Öl uns die Kunstoffe und Chemikalien liefert, welche […] der Mörtel unserer Zivilisation sind, dass diese Zivilisation zusammenbräche, würden die Ölquellen der Welt versiegen.“[2]

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass zwar Öl als Energieträger von strategischer Bedeutung ist; dass jedoch dem Ölprodukt Plastik auch im modernen Kapitalismus eine völlig untergeordnete Bedeutung zukommen könnte – immerhin gab es das Auto, Kühlschränke, Waschmaschinen und Telefone mehrere Jahrzehnte bevor es Plastik gab. Es gelang schlicht und einfach, einigermaßen nachhaltige und einem natürlichen Verfall unterliegende Produkte wie Holz, Eisen, natürliche Farben, Wolle, Leinen und sogar ein Nahrungsmittel wie Butter durch das hochproblematische Ölabfallprodukt Plastik ganz oder teilweise zu ersetzen, sodass eine aktuelle Website mit dem Titel „Wissen macht Spaß – Infos für Jugendliche“ nicht ganz zu Unrecht die Kids mit dem Verweis „aufklären“ kann, dass „Öl auch für Körperpflege und Kosmetik verwendet [wird]; [dass] viele Seifen, Parfüms, Lippenstifte und Haarsprays Nebenprodukte der Erdölverarbeitung [sind] und […]auch Aromastoffe und sogar die Inhaltsstoffe Eures Kaugummis aus Stoffen gemacht werden, die aus Erdöl gewonnen wurden.“

Jüngst ließ sich der für Umwelt zuständige EU-Kommissar Janez Potocnik auf der Jahrestagung des Industrieverbandes der Europäischen Plastikindustrie zu dem Ausruf verleiten: „Ich glaube an die Zukunft der europäischen Plastikindustrie.“[3] Auch wenn die 46,6 Kilometer lange Küste, über die das Heimatland von Herrn Potocnik, Slowenien, verfügt, eher knapp bemessen ist, könnte er sicher dort sehr gut studieren, wie kurzsichtig sein Hohes Lied auf die Plastikwelt ist. Denn gut die Hälfte der Plastikproduktion landet auf Müllkippen. Die größte Müllkippe ist das Meer. Pro Jahr müssen die Ozeane nach Schätzung eines UN-Berichtes bis zu 6,4 Millionen Tonnen Plastikmüll aufnehmen; auf jedem Quadratkilometer der Wasseroberfläche treiben inzwischen bis zu 18000 Plastikteile unterschiedlichster Größe. Ein Teil davon schwimmt auf der Oberfläche oder wird an die Küsten gespült; ein großer Teil sinkt auf den Meeresboden, wo er während seines oft mehrere hundert Jahre dauernden Zersetzungsprozesses nach und nach kleinere Bruchstücke und Giftstoffe an die Umgebung abgibt. Es ist verdienstvoll, wenn der zitierte Umweltverband Nabu eine Kampagne „fishing for litter“ durchführt, bei der Tausende meist junge Leute Plastikmüll an den Küstengestaden einsammeln und grüne-punkt-gerecht entsorgen. Allerdings erreichen sie damit nicht einmal das „Plastik-Konfetti“, die mikroskopisch kleinen Plastikteilchen, die längst zu Bestandteilen derselben Küstenstreifen geworden sind. Mit einer solchen Aktion wird auch nicht angesprochen, dass vor allem die mikroskopisch kleinen Plastikteilchen in den Ozeanen auf ihrer Oberschicht Giftstoffe in einer Konzentration angereichert haben, von der Callum Roberts schreibt, dass diese oft „mehr als eine Million Mal höher liegt als im Meereswasser um sie herum.“[4]

Die Bilder von Seelöwen, die als Jungtiere ihren Kopf durch Plastikreifen oder Netze gesteckt haben und dann, wenn sie heranwachsen, langsam wie bei Einsatz des Folter- und Todeswerkzeugs Garotte qualvoll sterben, sind bedrückend.[5] Aber auch hier ist die Tragödie dort größer, wo sie sich unseren Blicken weitgehend entzieht: Tiere wie Albatrosse füttern ihre Jungen inzwischen in großem Maßstab mit Plastikabfällen, da sie nicht zwischen Plastik und Fleisch von Beutetieren unterscheiden können – die Jungen verhungern mit vollem Bauch. Bei über einem Drittel aller untersuchten toten Lederschildkröten – ihre Gattung ist vom Aussterben bedroht – werden inzwischen Plastikabfälle in großen Mengen in deren Darm gefunden.

Callum Roberts: „Lederschildkröten ernähren sich von Quallen und anderen gelatineartigen Zooplanktonorganismen. Für eine vertrauensselige Lederschildkröte sehen Plastiktüten und Bälle ganz ähnlich aus wie ihre bevorzugte Beute. Bei der Untersuchung von toten Lederschildkröten […] entdeckte man Knäuel aus Plastiktüten und Folienballons (die Sorte, die wir, mit Helium gefüllt, an Kinder verschenken) von der Größe eines Fußballs. […] Für eine Lederschildkröte in Französisch-Guayana war die Anstrengung, während sie sich zum Nisten an den Strand schleppte, offensichtlich zu viel: sie schied aus ihrem Darm eine riesige Menge an Plastiktüten aus, die insgesamt mehr als zweieinhalb Kilo wog. […] Ich frage mich: Wie viele andere Plastiktüten haben wohl weit draußen auf dem Meer den Weg durch den Darm der Schildkröten angetreten und wie viele Schildkröten schweben durch das Plastik, das sich in ihrem Bauch zusammenballt, in Lebensgefahr?“[6]

Anmerkungen:

[1] V.E.Yarsley & E. G. Couzens, Plastics, Harmondsworth, (Penguin books), 1941; hier zitiert bei: Callum Roberts, Der Mensch und das Meer, München (DVA/Random House), 2012, S. 220.

[2] Daniel Yergin, Der Preis. Die Jagd nach Öl, Geld und Macht, Frankfurt/M. (Fischer) 1991.

[3] Nach: Patrick Illinger, Zündstoff Kunststoff, in: Süddeutsche Zeitung 25.9.2012.

[4] „In einem japanischen Experiment nahmen Polystyrolperlen, die man mehrere Tage im Meereswasser liegen ließ, PCBs auf. Werden sie dann abgebaut, setzen die Plastikteilchen giftige Verbindungen wie Flammschutzmittel, Styrole, Phtalate und Bisphenol A ins Meer frei. Dort üben die Giftstoffe nun in winzigen Konzentrationen ihre heimtückische Wirkung auf die Tierwelt aus – einschließlich unserer selbst.“ C. Roberts, a. a .O., S. 235.

[5] Die Garotte ist ein Folter- und Hinrichtungsinstrument. Es wurde u.a. in Spanien bis zum Jahr 1974 zur Durchführung der Todesstrafe eingesetzt. Eines der letzten Garotte-Opfer war Salvador Puig Antich, ein katalanischer Anarchist und Kämpfer gegen die Franco-Diktatur.

[6] C. Roberts, a. a. O., S. 232.

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