Nachgereichte Ideologie. seziertisch nr. 165

Georg Fülberth. Lunapark21 – Heft 28

Der Bundespräsident, drei von vier Bundestagsfraktionen, sämtliche Leitmedien werben für die Verstärkung der militärischen Komponente in der deutschen Außenpolitik. Es geht um den Beitrag der BRD zum Zweiten Imperialismus. Was es mit Letzterem auf sich hat, soll hier zunächst erklärt werden.

Der Erste Imperialismus (zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1945) war charakterisiert durch die systematische und konkurrierende Ausdehnung der Herrschaft von Industriestaaten über nicht oder nur geringfügig industrialisierte Gebiete in Form von Kolonien, neu einverleibte Teile des Staatsgebietes und Einflusssphären zwecks Bezug von Rohstoffen, Waren- und Kapitalexport sowie Besiedelung.

In der Entkolonisierung und im Kalten Krieg ging dieser Erste Imperialismus zu Ende. Die hochentwickelten kapitalistischen Länder stellten unter Führung der Vereinigten Staaten von Amerika ihre bisherigen Kämpfe gegeneinander ein. Die auch militärische Sicherung des US-Einflusses in Teilen der so genannten Dritten Welt trug Züge des im Übrigen überwundenen Ersten Imperialismus, allerdings nicht mehr (oder kaum noch) in Auseinandersetzung mit anderen kapitalistischen Ländern, wohl aber mit der Sowjetunion und deren Verbündeten.

Nach dem Ende des Systemkonflikts konstatierte der britisch-US-amerikanische marxistische Geograf David Harvey einen „New Imperialism“, von uns hier als der „Zweite“ bezeichnet. Von den Merkmalen des Ersten ist in der neuen Konstellation der Kampf um Einflusssphären zwecks Bezug von Rohstoffen sowie Forcierung des Waren- und Kapitalexports übrig geblieben, wobei die Kontrolle über die Zufuhr von Ressourcen und die Hegemonie (Ausübung von Einfluss mit zumindest teilweiser Zustimmung derer, gegenüber denen dieser Einfluss ausgeübt wird) ein wichtigerer Gesichtspunkt ist als die unmittelbare Beherrschung von Territorien.

Der Zweite Imperialismus ist charakterisiert durch: Sicherung der Rohstoffversorgung für die hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaftern, unverändert Waren- und Kapitalexport sowie Errichtung internationaler Regimes, die Vorteile für diese Zentren sichern sollen, sowie präventive indirekte militärische Kontrolle über das Umfeld dieser Metropolen.

Es können zwei Varianten unterschieden werden: eine globale und eine regionale.

Die Vereinigten Staaten von Amerika stehen für den Versuch eines globalen Imperialismus, China, Russland und die Europäische Union für den regionalen. Letzterer soll die defensive militärische Prävention im Umfeld dieser Mächte gewährleisten. Mit ihren Handelsbeziehungen zu Lateinamerika und Afrika versucht die Volksrepublik China ihre Rohstoffzufuhr auf nichtmilitärische Art und Weise zu sichern. Gegenüber Japan und den Staaten Indochinas betreibt sie eine Politik präventiver Kontrolle. Gleiches gilt für Russland im Verhältnis zu den osteuropäischen ehemaligen Sowjetrepubliken.

Deutschland übt regionale Hegemonie innerhalb der EU aus und betreibt zugleich zusammen mit dieser eine Politik der ebenfalls regionalen Hegemonie z.B. im Verhältnis zur Ukraine.

Die aktuellen Predigten für mehr (auch militärisches) internationales Engagement entsprechen den Maßgaben dieses Zweiten Imperialismus. Wie Umfragen zeigen, folgt ihnen die Mehrheit der Bevölkerung nicht. Besonders deutlich ist die Ablehnung in Ostdeutschland. Hier wirkt die jahrzehntelange Friedenspropaganda der DDR nach. Aber auch im Westen stimmt die Majorität der Befragten dem neuen Kurs nicht zu. Hier findet man, dass die „alte“ Bundesrepublik ja gerade durch relativ geringes eigenständiges militärisches Auftreten groß und stark geworden sei.

Rein formal erinnert diese Situation an die zunächst erfolglosen Versuche des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt (1882-1945), sein Land zu mehr weltpolitischem Engreifen zu führen. Die Ergebnisse aller Umfragen sprachen dagegen. Erst der japanische Überfall auf Pearl Harbour 1941 brachte einen Umschwung.

Ähnliches ist für Deutschland zurzeit nicht in Sicht. Es ist auch nicht nötig. Die militärpolitische Wende hat nämlich schon stattgefunden: Mitte der 90er Jahre zunächst vor allem auf dem Balkan. Die gegenwärtige Agitation liefert also einer schon längst bestehenden Praxis nur noch die Ideologie hinterher.

Georg Fülberth lebt in Marburg an der Lahn. Er war an der dortigen Universität Professor für Politikwissenschaften. Sein „Seziertisch“ erscheint in Lunapark21 seit der ersten Ausgabe Anfang 2008.

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