Brexit und die Börse

Ein Mord trieb die Kurse nach oben, nach dem Volksentscheid stürzten sie ab.

Als die britische Labour-Abgeordnete und EU-Befürworterin Helen Cox am 16. Juni 2016 in der Bibliothek einer kleinen Provinzstadt im mittelenglischen West Yorkshire einem Schuss- und Messerattentat zum Opfer fiel, ging eine Schockwelle nicht nur durch Großbritannien.

Bereits am Tag darauf, einem Freitag, schoss der bedeutendste europäische Aktienindex „FTSE 100“ der Londoner Stock Exchange in die Höhe, um am folgenden Montag nochmals kräftig zuzulegen. Die Börsianer konnten sich die Hände reiben.

„Wenn ein Mord Politik macht“, titelte die österreichische Tageszeitung „Die Presse“ und ließ nach wenigen Sätzen die Trauerarbeit hinter sich, um sich der wichtigsten Schlussfolgerung dieser Tat zu widmen. Seit mehr als einer Woche hatte sich die Londoner Börse auf Talfahrt befunden. Die Chefin der US-Notenbank, Janet Yellen, war am Tag vor dem Mord an Cox mit ihrer Entscheidung, den Leitzinssatz des US-Dollars nicht zu verändern, vor die Presse getreten und hatte diese mit der Angst vor einem Brexit bei der bevorstehenden Volksabstimmung der BritInnen argumentiert. Weltweit gingen die Aktienkurse auf Talfahrt, die Londoner Börse sackte ab. Der Aufschwung für die Börsianer kam in Gestalt eines verwirrten Rechtsradikalen, der nach dem Mord an Helen Cox laut Augenzeugen den Slogan „Britain first“ rief.

Dahinter steckt die Logik eines dem Kapital und seinen Leitindices ergebenen Gesellschaftsbildes. Und die geht folgendermaßen: weil ein Mord mit der – scheinbar – politischen Losung „Britain first“ begangen wird, rechnen „die Märkte“ mit geänderten Bedingungen. Brexit-Befürworter bleiben zu Hause, Brexit-Gegner gehen verstärkt zur Abstimmung, sodass eine Zustimmung zum Verbleib in der Europäischen Union wahrscheinlicher wird. „Das ist der Game-Changer“, meinte dazu der Portfolio-Manager Gary Cloud in der „Presse“, „Das ganze Land wird das Begräbnis dieser wunderbaren Frau und jungen Mutter sehen und noch einmal über ein Votum für den EU-Austritt nachdenken“. Seine Freude darüber konnte er kaum verhehlen.

Es gruselt einem beim Gedanken, diese Logik zu Ende zu denken. Was wäre gewesen, wenn nicht dieser Mord sondern ein anderer, beispielsweise einer von einem arabischen Täter an einem EU-kritischen Tory verübt worden wäre und der Araber dazu „Allah akbar“ gerufen hätte? Und wenn dem tatsächlich so ist, dass eine Untat wie jene vom 16. Juni den weiteren Bestand der Europäischen Union eher sichert als keine solche, dann könnte doch nächstens … Apropos: wie schockiert wären wir eigentlich, wenn ein penibel recherchierender Journalist in fünf Jahren aufdeckte, dass der Mörder von Helen Cox in Kontakt mit einem Geheimdienst gestanden hätte?

Das Referendum zum Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union vom 23. Juni endete anders, als es der Portfolio-Manager nach dem Politmord vorausgesagt hatte. Die Britinnen und Briten ließen sich davon nicht beeindrucken. 52% sprachen sich für ein von Brüssel unabhängigeres Großbritannien aus. Darauf reagierten „die Märkte“ panisch. Der Mord an Helen Cox ließ sie auf Kurssteigerungen hoffen, nach dem Volksentscheid rasselten die Aktienkurse in den Keller und mit ihnen der Pfund Sterling (und der Euro). In einer ersten Reaktion verloren britischen Banken wie Barclays und Lloyds am 24. Juni 20% ihres Börsenwertes. Der Frankfurter DAX gab um 6% nach.

So sieht sie also aus, die Welt des Kapitals, und dies nicht nur in der Rüstungsindustrie: Der Tod ist allemal willkommener als die Stimme des Volkes, wenn diese nicht der Verwertungslogik folgt. Die Debatte um den Brexit hat uns dies wieder einmal deutlich vor Augen geführt.

Mehr zum Brexit in der nächsten Print-Ausgabe von Lunapark21, die am 19.7.2016 erscheint und einige Tage später auch an zahlreichen Kiosken in Deutschland, Österreich der Schweiz und Luxemburg gekauft werden kann.

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