Mindestlohn. lexikon

Georg Fülberth. Lunapark21 – Heft 24

Bei Marx gibt es einen Mindestlohn, der im Kern allerdings nicht gesetzlich festgelegt, sondern ökonomisch zwangsläufig ist. Das ist der Betrag, der gezahlt werden muss, damit die Arbeitskraft auf Dauer in ausreichender Menge und Qualifikation dem Kapital zur Verfügung steht. Wird diese Grenze unterschritten, versiegt die Quelle des Mehrwerts, ja kann sogar die Reproduktion des Kapitals in Frage gestellt sein.

Der Mindestlohn ist also das Entgelt zur Sicherung des Existenzminimums. Diese ist nicht nur physiologisch bestimmt, sondern enthält auch ein „historisch-moralisches“ Moment, das letztlich in der Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit festgelegt wird. Schwankungen der Lohnhöhe aufgrund des Verhältnisses von Angebot an und Nachfrage nach Arbeitskraft können langfristig, soll die Grundlage kapitalistischen Wirtschaftens nicht gefährdet werden, zumindest das physiologische Existenzminimum nicht unterschreiten, es sei denn, eine ständige Zufuhr, also permanentes Überangebot, lässt Raubbau zu.

Schon bei Marx wird der Mindestlohn nicht nur auf dem Arbeitsmarkt und durch die unmittelbare Auseinandersetzung zwischen Lohnarbeitenden und Unternehmern festgelegt, sondern es gab hierfür auch eine politische Instanz. Diese Einsicht erschließt sich allerdings nur auf einem Umweg. Gemeint ist die Zehnstunden-Bill von 1847. Die Länge des Arbeitstages wurde vom britischen Parlament per Gesetz beschränkt. Dass dies letztlich nur mit Lohnausgleich möglich war, ergibt sich aus der Notwendigkeit der Einhaltung des Existenzminimums. Senkung der Tagesarbeitszeit unter Beibehaltung des Entgelts in der bisherigen Höhe bedeutet Anhebung des Stundenlohns, wobei ein Abzug – rein ökonomisch betrachtet – sich dadurch ergeben könnte, dass bei verringerter Arbeitszeit der Verschleiß von Arbeitskraft reduziert ist und so ihre Reproduktionskosten geringer werden. Weil die vorherige Lage großer Teile der Arbeiterklasse damals jedoch das Existenzminimum bereits unterschritten hatte, war Erhöhung der Stundenlöhne zwecks seiner Wiederherstellung vonnöten.

Das berühmte historische Beispiel ist übrigens auch geeignet, das Argument, staatlich verfügte Kürzung der Arbeitszeit und implizite Lohnerhöhung koste Arbeitsplätze, zu widerlegen. Nach der Reform nahm die Beschäftigung in Großbritannien nicht ab, sondern zu: die Industrie dieses Landes trat jetzt in ihr goldenes Zeitalter ein.

Bei noch genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die Zehnstunden-Bill von 1847 nicht eine ausschließliche gesetzgeberische Maßnahme war, sondern das Ergebnis von außerparlamentarischem Druck: „Nach einem dreißigjährigen Kampf, der mit bewundrungswürdiger Ausdauer geführt ward, gelang es der englischen Arbeiterklasse durch Benutzung eines augeblicklichen Zwiespalts zwischen Landlords und Geldlords, die Zehnstunden-Bill durchzusetzen“ (MEW 16:10) – und dies, obwohl damals kein einziger Arbeiter dem Unterhaus angehörte.

So war es dann auch in den folgenden fast eineinhalb Jahrhunderten: Sicherung des Mindestlohns einschließlich seiner historisch-moralischen Komponente war immer von unten erkämpft, nie von oben gewährt. In der Bundesrepublik ist er innerhalb der Tarifautonomie, ohne staatliche Intervention, durchgesetzt worden.

Wenn seit ca. einem Jahrzehnt eine gesetzliche Regelung gefordert wird, dann drückt sich darin auch eine Schwäche von Teilen der Gewerkschaftsbewegung aus. In einigen Branchen sind der Organisationsgrad der Lohnabhängigen und ihre Kampfkraft so niedrig, dass die Lohn- und Gehaltsabhängigen aus eigener Kraft nicht zur Sicherung ihres Existenzminimums imstande zu sein scheinen. Die IG Metall und die IGBCE unterstützten die Vorstöße für einen gesetzlichen Mindestlohn erst nach anfänglichem Zögern, denn ihre Abschlüsse liegen deutlich darüber. Dass insbesondere Gewerkschaften, in deren Branchen nur niedrige Abschlüsse erzielt werden können, für eine solche Reform eintreten, zeigt einen Schwachpunkt dieser Initiativen: die Chance, dass sie von unten durchgesetzt werden können, ist gering. Sie sind auf die problematische Lösung einer Gewährung „von oben“ – durch den Gesetzgeber allein – angewiesen. Dies wird Auswirkungen auf die Höhe eines etwaigen gesetzlichen Mindestlohns haben. Er wird nicht gegen Altersarmut sichern. Wenn sich in den Koalitionsgesprächen zeigte, dass auch in der CDU/CSU Bereitschaft für irgendeine Form von Mindestlohn besteht, mag dies eine Ursache u. a. in ihrer Sparpolitik haben: Sinkt die Zahl der Aufstocker(innen), werden die öffentlichen Kassen entlastet.

Eine strategische Funktion könnte eine höhere Lohnuntergrenze innerhalb eines keynesianischen Konzepts haben: Anhebung der unteren Einkommen schafft höhere Kaufkraft und damit sogar Investitionsmöglichkeiten zur Deckung der dadurch geweckten zusätzlichen Nachfrage und letztlich neue Arbeitsplätze. Gesamtwirtschaftlich wirksam wäre das aber nur, wenn der Mindestlohn durch wirksame zusätzliche Maßnahmen flankiert wird. Keynes trat für eine Niedrigzinspolitik in Zeiten schwacher Binnennachfrage ein. Dass auch dies kein All-Heilmittel ist, zeigt die gegenwärtige Situation: leichtes Geld wird nicht investiert, sondern in der Spekulation eingesetzt. Staatliche Kreditaufnahme zur Belebung der Nachfrage ist durch die Schuldenbremse gehemmt. Damit entfällt ein Moment des ursprünglichen Keynesianismus, das seit langem verschwiegen wird: die Notwendigkeit einer Umverteilung von oben nach unten. Ihre Beförderung durch Steuerpolitik – Änderung der Sekundärverteilung – ist politisch blockiert. Der gesetzliche Mindestlohn wäre ein Stück Primärverteilung, aber nur ein geringfügiges. Hinzutreten müsste ein Schub aus den großen Industrien, der aber gegenwärtig kaum zu erwarten ist.

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