lexikon. Gesundheitswirtschaft

Georg Fülberth. Lunapark21 – Heft 22

Der Slogan, Gesundheit sei keine Ware, ist zutreffend, aber trivial. Sie ist entweder ein auf günstiger individueller Konstitution und Umweltbedingungen beruhender Zustand oder Ergebnis medizinischer Dienstleistungen. Dass Dienstleistungen keine Waren sind, steht schon im „Kapital“ (MEW 24: 59 – 61, dort am Beispiel des Transports von Menschen oder Gütern): Man kann sie nicht weiterverkaufen, einen Haarschnitt ebenso wenig wie eine Blinddarmoperation. Allerdings müssen sie finanziert werden. Durch wen?

„Gesundheit ist keine Ware“ läuft, soll die Aussage nicht belanglos sein, auf die Forderung hinaus, dass medizinische Dienstleistungen als öffentliches Gut zu behandeln sind: allen gleichermaßen zugänglich. Hierin dürfte sogar Konsens über die politischen Fronten hin bestehen. Die Einrichtung, die das öffentliche Gut bereitzustellen hat, ist das Gesundheitssystem. Andere Begriffe dafür sind: Gesundheitswesen oder Gesundheitswirtschaft. Alle diese Bezeichnungen sind recht neu. Der Terminus „Gesundheitswesen“ zum Beispiel gehört zum 19. und 20., „Gesundheitswirtschaft“ zum beginnenden 21. Jahrhundert.

Vorher, in der frühen Neuzeit oder gar im Mittelalter, wäre niemand auf die Idee gekommen, sich über solche Begriffe den Kopf zu zerbrechen. Der Arzt war ein individueller Dienstleister (analog zur bei Marx behandelten „einfachen Warenproduktion“ konnte man von „einfacher Dienstleistungs-Erbringung“ sprechen) und rechnete privat ab. Deshalb war er in der Regel nur für Leute da, die ihn bezahlen konnten. Gesundheit war Glückssache, ihre Wiederherstellung eine Frage der persönlichen Zahlungsfähigkeit oder – für den großen Rest – der Wohltätigkeit.

Im 19. Jahrhundert reichte das nicht mehr aus. Die Zusammenballung großer Menschenmassen in industriellen Zentren bedeutete eine Seuchengefahr, die – anders als die mittelalterliche Pest – nicht mehr als Schicksal oder göttliche Fügung hingenommen, sondern durch Hygiene bekämpft wurde. Da Ansteckung von einer Person zur anderen (oder mehreren) erfolgt, kann Vorbeugung nie nur individuell sein und bedarf auch öffentlicher Einrichtungen oder doch zumindest allgemein verbindlicher Vorschriften, deren Einhaltung durch staatliche oder kommunale Instanzen zu gewährleisten ist. In dem Maße, in dem Fabrikarbeit nicht mehr vor allem von Ungelernten erbracht wurde, war ihre Qualifizierung teuer und ihr Ausfall durch Krankheit ein Verlust auch für den Unternehmer. Also waren Aufwendungen für ihren Schutz und ihre Wiederherstellung vonnöten.

Der stärkste Anstoß für ein öffentliches Gesundheitswesen aber kam vom Militär. In Preußen fiel bei der Musterung die große Zahl von Untauglichen auf. Kanonenfutter musste vor dem Verbrauch instand gehalten werden. Das bedeutete u. a. Verbot der Kinderarbeit. Militär und medizinische Forschung fanden früh zueinander. Emil von Behring, der die Impfung gegen Tetanus und Diphterie entwickelte, war zunächst Stabsarzt. Er arbeitete auch mit der Vorläufer-Firma der späteren Farbwerke Hoechst zusammen. Damit wird ein weiterer Akteur neben dem Staat sichtbar: die Industrie.

Die Finanzierung des Gesundheitswesens erfolgte nun nicht mehr nur aufgrund privater, sondern auch öffentlicher Nachfrage, nämlich durch die Pflichtkrankenkassen, in die abhängig Beschäftige und Unternehmer einzahlten. Sie fragten die Angebote von Privaten nach: der Ärzte, der Apotheken und der Pharma-Industrie. Die stationäre Behandlung erfolgte in zunehmend von der Öffentlichen Hand betriebenen Kliniken. Als sie zu Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts stark ausgebaut wurden, waren sie – ebenso wie die Praxen der niedergelassenen Ärzte – ein wachsender Markt für die Medizingeräte-Industrie.

Das Gesundheitswesen war dual organisiert. Auf der einen Seite standen Öffentlich-rechtliche Krankenkassen, kommunale und Landeskrankenhäuser, auf der anderen niedergelassene Ärzte, Pharma- und medizinische Geräte-Industrie sowie kapitalistisch verfasste Versicherungen, die die Nachfrage der Privatpatienten bündelten.

Im 21. Jahrhundert zeichnet sich ein Zug zur Vereinheitlichung ab. Die kapitalbasierten Versicherungen dringen in den bisherigen Markt der gesetzlichen Krankenkassen ein. Indem die Einnahmen und Ausgaben der Letzteren zum Zweck der Senkung von so genannten Lohnnebenkosten gedeckelt werden, entstehen Versorgungslücken. Wer diese nicht hinnehmen will oder kann, muss zuzahlen. Für die Vorsorge durch das sich hiermit ergebende Risiko bieten sich die privaten Versicherungen an. Allerdings können sich das nicht alle Patientinnen und Patienten leisten. Es entsteht eine Zwei-Klassen-Medizin. In engeren Grenzen bestand diese schon früher: zusätzlich bezahlte Leistungen für Privatpatienten. Das betraf aber meist nicht den Kern der medizinischen Versorgung, sondern Extras, z. B. Schönheitsoperationen oder Peripherie-Leistungen (u. a. Ein-Bett-Zimmer). Die Kassenpatienten mussten davon nicht unbedingt Nachteile haben. Die Gefahr, die jetzt von Kritikerinnen und Kritikern gesehen wird, erwächst nicht aus den Privilegien der Bessergestellten, sondern aus den Einschränkungen für die Kassenpatienten.

Die zweite kapitalistische Offensive gilt den Kliniken. Klamme Kommunen und Länder haben Schwierigkeiten mit deren Finanzierung und flüchten in die Privatisierung – den Verkauf an großen Krankenhaus-Konzerne. Einer von diesen – die Rhön-Klinikum AG – versucht mit den Angeboten einer hauseigenen Versicherung zusätzlich Profite zu erzielen.

Es gibt einen neuen Beruf: (Diplom-) Pflegewirt(in). Da studiert man nicht besondere Techniken der Krankenversorgung am Bett, sondern Betriebswirtschaftslehre der Klinik.
Die Ersetzung des Begriffs „Gesundheitswesen“ durch „Gesundheitswirtschaft“ ist somit realistisch und ehrlich.

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