Konflikte im Troika-Camp

Griechenland: Trendwende oder lautes Pfeifen im Wald?
Karl Heinz Roth. Lunapark21 – Heft 25

Zu Beginn des neuen Jahrs übernahm die griechische Regierung im halbjährlichen Turnus die Präsidentschaft des EU-Ministerrats. Diesen Wechsel sollte man nicht überschätzen. Seit die beiden wichtigsten Entscheidungszentren der Europäischen Union, der Rat der Staats- und Regierungschefs und die Treffen der Finanzminister der Euro-Zone (Euro-Gruppe), von ständigen Präsidenten geleitet werden, bringt der Vorsitz im EU-Ministerrat nur noch koordinierende und repräsentative Funktionen mit sich. Trotzdem nutzten die Spitzenpolitiker der EU und der griechischen Regierung diesen Anlass, um sich gegenseitig kräftig auf die Schultern zu klopfen. Am 8. Januar zelebrierten sie in der Athener Oper einen aufwändigen Festakt.

EU-Kommissionspräsident Barroso und Ratspräsident Van Rompuy lobten die Fortschritte Griechenlands beim Kampf gegen die Staatschuldenkrise und zur Wiederherstellung seiner Wettbewerbsfähigkeit. Der griechische Regierungschef Samaras und sein Stellvertreter Venizelos erklärten, das Schlimmste sei nun überstanden, die ökonomischen Parameter signalisierten eine beginnende Erholung. Zwar werde es auch noch 2014 und 2015 eine Finanzierungslücke geben, die könne jedoch ohne weitere Austeritätsmaßnahmen – Sozialabbau und Steuererhöhungen – geschlossen werden. Auch die Notwendigkeit eines weiteren Darlehenspakets seitens der Troika schlossen sie aus und dementierten Gerüchte über einen bevorstehenden Schuldenschnitt. Da der Staatshaushalt mittlerweile einen Primärüberschuss ausweise – also vor Berücksichtigung der Zinszahlungen im Plus sei – , seien nur noch einige unspektakuläre Maßnahmen zur Unterstützung des Erholungsprozesses erforderlich. Dazu gehörten vor allem die Senkung der Zinssätze und eine Verlängerung der Tilgungsfristen der Darlehen. Darüber hinaus könne sich Griechenland im Bedarfsfall die erforderlichen Mittel künftig auch wieder auf den freien Kapitalmärkten beschaffen.

Dieser optimistische Blick kam nicht von ungefähr. Seit der Garantieerklärung des EZB-Präsidenten Draghi vom Sommer 2012 zugunsten der notleidenden Staatsanleihen der europäischen Peripherieländer setzen die globalen Investoren wieder auf die griechischen Staatsanleihen. Ihr Zinssatz ist von über 30 Prozent im Juni 2012 auf zuletzt 7,9 Prozent gefallen, und seit dem Herbst 2013 werben einige Hedge Fonds, die derzeit noch etwa 16 Prozent der griechischen Anleihen halten, im Vertrauen auf einen raschen Erholungsprozess in der internationalen Presse für ein besseres Rating Griechenlands. Auch die Aktienkurse der führenden griechischen Großunternehmen sind längst wieder im Aufwind. Die Austeritätspolitik hat sich für sie ausgezahlt, weil sie – bei überwiegend schrumpfenden Umsätzen – massive Kostensenkungen durch Produktivitätssteigerungen, Massenentlassungen und Lohnkürzungen begünstigte. Allein im vergangenen Jahr sind die Kurse der führenden griechischen Unternehmen um durchschnittlich 30 Prozent gestiegen. Für immer größere Investoren- und Unternehmensgruppen präsentiert sich die griechische Wirtschaftsnation somit wieder als risikoarmes Ausbeutungsobjekt. Aber auch die öffentlichen Darlehensgeber, insbesondere die EZB und die nationalen Zentralbanken der EU, erfreuen sich eines reibungslosen Zinsentransfers und heimsen erhebliche Gewinne ein.

Hinzu kommen bemerkenswerte Stabilisierungseffekte auf der Ebene des politischen Regulationssystems. Ende September 2013 hat die durch die konservative Nea Dimokratia dominierte Koalitionsregierung überraschend hart gegen die neofaschistische „Goldene Morgenröte“ durchgegriffen: Inzwischen sitzen sechs ihrer 18 Parlamentsabgeordneten in Untersuchungshaft, und die Finanzpolizei ist gerade erfolgreich dabei, ihre dunklen Finanzierungskanäle aufzudecken. Auch die Justiz hat mittlerweile zugelegt und Dutzende Ermittlungsverfahren gegen korrupte Politiker, Unternehmer und Spekulanten eröffnet. Wenn es so weitergeht, wird sich die Feststellung, dass nur die kleinen Leute für die Krise zahlen, während die Reichen und die politische Kaste ungeschoren davonkommen und noch nicht einmal für ihre Korruptionsexzesse zur Rechenschaft gezogen werden, so eindeutig nicht mehr aufrecht erhalten lassen.

Die aktuelle Lage
Ist somit alles Paletti, und werden nun doch die Akteure der Austeritätspolitik nach vier Jahren der aberwitzigen Krisenverschärfung das Rennen machen? Um es vorweg zu sagen: Es gibt einige Lichtblicke, aber es bedarf schon eines erheblichen Maßes an Wunschdenken, um aus den aktuellen Wirtschaftsdaten eine optimistische Perspektive abzuleiten. Die griechische Wirtschaft schrumpft weiter: Im Jahresdurchschnitt 2013 waren es immer noch gut 4 Prozent. Die industrielle Produktion war sogar um 6 Prozent rückläufig, und die Erwerbslosigkeit ist auf 27 Prozent im Durchschnitt, die Jugendarbeitslosigkeit auf 65 Prozent angestiegen. Die öffentliche Gesamtverschuldung hat mit 180 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ihren bisherigen Gipfelpunkt erreicht. Auch der Deflationsdruck hat sich im vergangenen Jahr verstärkt. Inzwischen ist fast ein Viertel der Privatkredite von Unternehmen und Haushalten notleidend. Allein bei den Bausparkrediten werden 24 Prozent mit einem Wert von 32 Milliarden Euro nicht mehr bedient. Die gerade mit 40 Milliarden Euro rekapitalisierten Banken sind zu einer äußerst restriktiven Kreditvergabe gegenüber Unternehmen und Privathaushalten zurückgekehrt. Zusätzlich wachsen die Steuerschulden gegenüber dem Fiskus seit einem halben Jahr um eine Milliarde Euro monatlich.

Diese Daten lassen wenig Zweifel daran, dass sich Griechenland weiterhin in einer schweren Depression befindet. Sie werden deshalb von den verantwortlichen Akteuren entweder totgeschwiegen oder bagatellisiert. Für sie zählen nur die Effekte ihrer wirtschaftspolitischen Rosskur. So sind beispielsweise die Lohnstückkosten um 12 Prozent gesunken, was zu einem bescheidenen Plus in der Leistungsbilanz führte (1,3 Milliarden Euro bzw. 0,8 Prozent des BIP). Die jährliche Neuverschuldung der öffentlichen Haushalte wurde auf 2,2 Prozent des BIP gesenkt. Auch gab es einen Primärüberschuss – Haushaltssaldo vor Zinszahlungen – in einer Höhe von 1,2 Milliarden Euro, was 0,7 Prozent des BIP entspricht. Als weiterer Lichtblick gilt die sich abzeichnende Abschwächung des gesamtwirtschaftlichen Schrumpfungsprozesses: Während die OECD für 2014 ein Minus von 0,4 Prozent veranschlagt, hat die griechische Regierung ihren Budgetplanungen für 2014 sogar ein leichtes BIP-Wachstum in Höhe von 0,6 Prozent zugrunde gelegt.

Machtkampf um Schuldenschnitt
Die Asymmetrie der Wirtschaftsdaten ist somit offenkundig, und die optimistischen Umdeutungsversuche der griechischen Regierung und der globalen Investoren erinnern bei genauerem Hinsehen an das bekannte Pfeifen im Wald. Tatsächlich sind die hinter der Troika stehenden europäischen und internationalen Machtzentren – die EU-Kommission, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) – ganz anderer Meinung. Aus ihrer Perspektive kann von einer Trendwende noch lange nicht die Rede sein.

Interessanterweise zogen sie in den vergangenen Monaten aus dieser Einschätzung jedoch gegensätzliche Schlussfolgerungen. Vor allem die Analytiker des IWF sind im vergangenen Halbjahr in sich gegangen. Sie haben zugegeben, dass sie die Tiefe der griechischen Krise nicht erkannt hatten, und dass die Fortsetzung des rigorosen Austeritätskurses den völligen Zusammenbruch der griechischen Nationalökonomie herbeiführen könnte. Deshalb fordern sie seit dem Herbst 2013 einen massiven Schuldenschnitt zu Lasten der öffentlichen und privaten Gläubiger, dem ein knapp einjähriges Schuldenmoratorium vorausgehen sollte. Ihr Vorschlag wurde von einem Teil der IWF-Spitze um den stellvertretenden Managing Director David Lipton unterstützt und propagiert – freilich hinter verschlossenen Türen. Denn es ging um eine dramatische Kehrtwende, für die vor allem die Darlehensgeber der EU und die sie abdeckenden Zentralbanken der Mitgliedsländer gerade stehen müssten.

Dabei wurde um viel Geld gepokert. Die griechische Auslandsverschuldung beträgt netto 214 Milliarden Euro. Bei einer Ausweitung auf die übrigen Peripherieländer geht es gar um 340 Milliarden, vor allem aus europäischen Ländern. Dagegen riskiert der IWF „nur“ 79 Milliarden Euro in Europa, allein 64 Milliarden an Krediten in Irland, Portugal und Griechenland. Infolgedessen formierte sich die Oppositionsfronde rasch. Sie wurde von Jörg Asmussen, dem deutschen Repräsentanten im Leitungsgremium der EZB, angeführt. Auch Asmussen und die deutsche Bundesregierung machen sich keine Illusion über den tatsächlichen Zustand der griechischen Nationalökonomie. Aber sie gehen im Gegensatz zu den IWF-Experten davon aus, dass die Übertragung der Krisenfolgen auf die griechischen Unter- und Mittelschichten noch lange nicht an ihre Grenze gestoßen sei.

Es gelang den von den Deutschen angeführten Gegnern der IWF-Initiative erst nach monatelangen Auseinandersetzungen, die Vorschläge zur Schuldenrestrukturierung zu Fall zu bringen. Mit von der Partie waren dabei erstens die EU-Gremien, weil sie negative Rückwirkungen auf die nach wie vor angeschlagenen Kreditmärkte befürchteten, zweitens die globale Banken- und Finanzlobby, die mehr denn je davon ausgeht, die griechische Wirtschaftsnation risikolos ausquetschen zu können, und schließlich auch die US-Regierung. Seit Ende Dezember 2013 ist die IWF-Initiative vorerst vom Tisch, und ihre Blaupausen wanderten in die Schubladen.

Lockerungsübungen in der Protektoratspolitik
Der griechischen Regierung blieben diese Kontroversen selbstverständlich nicht verborgen. Die Phalanx der Troika war nicht mehr einheitlich aufgestellt, und das verhalf ihr zu erweiterten Handlungsspielräumen. Das schien auch dringend geboten, denn seit Herbst 2013 ist die uneingeschränkte Fortsetzung des Austeritätskurses nicht mehr politisch durchsetzbar. Im Interesse des Machterhalts ging die Samaras-Venizelos-Regierung gegenüber den Troika-Teams auf einen begrenzten Konfrontationskurs. Im September 2013 begann eine neue Verhandlungsrunde um ein weiteres „Memorandum“ zur Stabilisierung des öffentlichen Haushalts. Wie in den Jahren zuvor forderten die Troika-Experten zusätzliche Steuererhöhungen, weitere Massenentlassungen aus dem öffentlichen Sektor und die Beschleunigung der Privatisierungen.

Die Verhandlungen zogen sich monatelang hin und konzentrierten sich bis Anfang Dezember auf zwei entscheidende Konfliktpunkte: Die Einführung einer einheitlichen Immobiliensteuer und die Aufhebung des Zwangsräumungsschutzes von überschuldeten Wohnungen und Wohnhäusern. Wegen der zu erwartenden katastrophalen Folgen – innerhalb kürzester Zeit wären die Menschen von rund 500.000 Privathaushalten auf die Straße gesetzt worden – war damit ein Bruchpunkt erreicht. Die Vorgaben der Troika waren nicht mehr 1:1 durchs Parlament zu bringen. Deshalb brachte die Regierung erstmalig einen Haushaltsentwurf für das Jahr 2014 ein, der nicht mit der Troika abgestimmt war. Darin waren immer noch Ausgabenkürzungen im Umfang von 3,1 Milliarden Euro und zusätzliche Steuereinnahmen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro vorgesehen, aber diese Zieldaten waren deutlich niedriger als diejenigen der Troika. Das Budget wurde am 8. Dezember mit knapper Mehrheit verabschiedet.

Kurz vor Weihnachten wurden dann auch die dafür erforderlichen Restriktionsmaßnahmen, eine deutlich abgespeckte Variante der Immobiliensteuer und eine eingeschränkte Freigabe von Zwangsräumungen, durchs Parlament gepeitscht. Obwohl dabei die einkommensschwachen Haushalte verschont wurden, schrumpfte die Regierungsmehrheit nochmals. Es war eine genau kalkulierte Gratwanderung, die die Grenzen des Austeritätsregimes klar aufzeigte. Hätte die Regierung die Troika-Vorgaben durchgewunken wie bisher, dann hätte sie den Jahreswechsel nicht überstanden. Sie konnte jetzt nur noch aus der Not eine Tugend machen und verkünden, dass die politisch nicht mehr tragfähige Sparpolitik auch aus der makroökonomischen Perspektive überflüssig geworden sei.

Bislang haben die hinter der Troika stehenden Machtzentren kein Veto gegen diesen begrenzten Alleingang ihrer Athener Auftragsverwaltung eingelegt. Das ist auch kein Wunder. Sie sind sich – wie wir gesehen haben – seit einigen Monaten nicht mehr einig, und sie müssen darüber hinaus anerkennen, dass eine Fortsetzung ihres harten Restriktionskurses Griechenland politisch destabilisieren würde. Ein Sturz der Regierung und vorgezogene Neuwahlen würden den europäischen Hardlinern der Troika einen neuen und wenig genehmen Verhandlungspartner präsentieren – Alexis Tsipras, den Sprecher der Koalition der Linken (Syriza).

What Happens Next?
Und wie wird es nun weitergehen? Wer die sich jetzt eröffnenden Handlungsoptionen durchspielt, ist gut beraten, von einer entscheidenden Prämisse auszugehen: Die europäische Hegemonial- und Vetomacht Deutschland wird weder einem Schuldenschnitt zustimmen noch eine substanzielle Revision der europäischen Austeritätspolitik zulassen – zumindest nicht aus freien Stücken. Sie kann mit anderen Worten dazu nur gezwungen werden. Das aber heißt: Eine aus vorgezogenen Neuwahlen hervorgehende oder bei den kommenden Europa-Wahlen triumphierende griechische Linkskoalition vermag nicht das Geringste zu bewirken, solange sie auf sich allein gestellt bleibt. Nur wenn eine gut aufgestellte und koordinierte soziale Massenbewegung der europäischen Peripherie- und Kernländer den Impuls aufgreift, der vom schwächsten Kettenglied ausgeht, und diesen weitertreibt, gerät eine Kehrtwende in Reichweite. Das könnte dann das Signal zu einer egalitären und solidarischen Erneuerung des europäischen Integrationsprozesses von unten sein.

Karl Heinz Roth ist Historiker und lebt in Bremen. Noch vor den Europawahlen erscheint – nach der deutschen und griechischen – jetzt auch eine italienische Ausgabe der Flugschrift „Die Katastrophe verhindern – Manifest für ein egalitäres Europa“.

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