Katalonien, die EU and the rule of law

„Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, die für alle möglich ist.“

„Es kann keine gesetzliche oder gesellschaftlich anerkannte Auslegung dieser Grundsätze geben, die wir stets anzuerkennen moralisch verpflichtet wären, auch nicht die eines obersten Gerichts oder Parlaments. … Letzte Instanz ist weder das Gericht noch die ausführende oder gesetzgebende Gewalt, sondern die ganze Wählerschaft. An diese wendet sich der zivile Ungehorsam auf besondere Weise.“ (John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit)

Kernsätze aus dem Hauptwerk des US-amerikanischen Rechtsphilosophen und Harvard-Professors John Rawls, der den Begriff der ´rule of law´ im 20 Jahrhundert bestimmend geprägt hat. Er steht in der Tradition des naturrechtlichen Menschenrechtsbegriffs der Aufklärung und hat diesen für die anglo-amerikanische Rechtstradition fortgeschrieben.

Einfacher gesagt, wenn wir in diesem Moment den Grundprinzipien der Aufklärung folgen wollen: Die Gesetze und Regeln sind für die Menschen da, sie sind nicht für den Staat da, der damit die Menschen unterdrücken will.

Das Bundesverfassungsgericht, das seine Tradition der Rechtsprechung auf dieser Basis entwickelt hat, sieht die Grundrechte primär als Abwehrrechte der BürgerInnen gegen den Staat.

In Deutschland ist dieser Kerngedanke wenigstens beim Verfassungsgericht angekommen.

Bis zu den obersten Gerichten Spaniens, einschließlich des dortigen Verfassungsgerichts haben sie sich offensichtlich noch nicht herumgesprochen, wie die Entwicklung der Rechtsprechung in den letzten Monaten im Zusammenhang mit der Unabhängigkeitserklärung Kataloniens eindrücklich dokumentiert.

Die spanische Rechtsprechung ignoriert vollständig Art. 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) vom 16.12.1966, in dem das Selbstbestimmungsrecht der Völker niedergelegt ist. „Träger dieses Rechts ist dann, wenn ein Teil des Staatsvolks im Wege der Sezession Unabhängigkeit anstrebt, eben diese Gruppe der Bevölkerung – wollte man auf die Gesamtheit des Staatsvolks abstellen, könnte das Recht praktisch nie realisiert werden. Die maßgebliche Bevölkerungsgruppe allerdings müsste eindeutig definiert sein, ihr Wille, wie im Fall Schottlands, in einem demokratisch legitimierenden Verfahren festgestellt werden – hierfür dürfte das katalanische Referendum vom 1.10. noch nicht ausreichen. Der menschenrechtlichen Qualität des Selbstbestimmungsrechts würde es jedoch entsprechen, ein solches Verfahren zu ermöglichen und nicht mit Hilfe der Justiz zu unterdrücken.“ (Prof. Dr. Christoph Degenhart, NJW 2017, S. 45)

 

Genau dies, das Menschenrecht unterdrücken, tut jedoch die spanische Regierung und Justiz. Die aktuellen Meinungsumfragen legen nahe, dass die Parteien, die für die Unabhängigkeit eintreten, auch nach der Wahl vom 21.12. die Mehrheit im katalanischen Parlament haben werden. Die Anzahl der Unabhängigkeitsbefürworter ist seit Juni um ca. 7,6 Prozentpunkte auf 48,7 % gestiegen. Die Anzahl derjenigen, die sich für ein Referendum über die Unabhängigkeit einsetzen, liegt stabil bei ca. 80 %. Die Parteien, die sich für ein solches Referendum einsetzen, werden am 21.12. sowohl nach Stimmen als auch nach Sitzen eine Mehrheit von 56,4 % erlangen. Dies sind die aktuellen Zahlen der spanischen Statistikbehörde CEO.

Die rechten Parteien Spaniens (das ist die PP von Ministerpräsident Rajoy, die Sozialisten (PSOE) und die noch rechts von der PP stehende Partei Ciudadanos) kennen in der Auseinandersetzung nur ein Mittel, die Gewalt. Die obersten Gerichte, deren Mitglieder praktisch sämtlich ParteigängerInnen der genannten rechten Parteien sind, sind dieser Politik vollkommen zu Willen.

Die Aktivierung des Art. 155, der beschönigend selten als das bezeichnet wird, was er ist, nämlich die Verhängung des Ausnahmezustandes (früher noch treffender Kriegsrecht genannt), hat sämtliche katalanischen politischen Institutionen unter das Kuratel der rechten Zentralregierung Madrids gestellt, die katalanische Regierung ihres Amtes enthoben und das katalanische Parlament entmachtet. Es herrscht jetzt in Katalonien die dort nie gewählte Regierung Madrids. Diese Regierung führt die Auseinandersetzung mit polizeilicher Gewalt (wobei die guardia civil eher eine paramilitärische Einheit ist) und der Gewalt der hörigen Justiz. Diese hat sämtliche Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Referendum und der Unabhängigkeitserklärungen für unwirksam erklärt. Parlamentssitzungen wurden für unzulässig erklärt, bevor sie nur einberufen wurden. Die Mitglieder der katalanischen Regierung sitzen in U-Haft, soweit sie nicht das Land verlassen haben. Sie erwarten 30 Jahre Gefängnis. Diese Urteile werden im Stundentakt, ohne dass auch nur die Möglichkeit der Vorbereitung und Darlegung von Gegenargumenten eingeräumt wird, gefällt. Dass sich PolitikerInnen (in Spanien und der EU) auf die Unabhängigkeit der Justiz berufen, wo doch die Anträge die weisungsabhängige Staatsanwaltschaft stellt und die Entscheidungen teilweise für die Richterin gleich vorformuliert, hat mit unabhängiger Justiz und Gewaltenteilung nichts zu tun. Die Tatbestände der Rebellion und des Aufstandes setzen ein gewaltsames Handeln der Angeklagten, das offensichtlich nicht vorliegt, voraus. Es ist eine Farce.

So leicht werden es die rechten Parteien Madrids in Belgien nicht haben, wohin sich der katalanische Ministerpräsident Puigdemont in weiser Voraussicht geflüchtet hat. Hier werden die Gerichte eine Auslieferung sorgfältig prüfen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die katalanische Regierung immer absolut demokratisch und gewaltfrei gehandelt hat. Die Anordnung der Untersuchungshaft wurde bereits abgelehnt. Wir werden sehen, was am Ende der Europäische Gerichtshof und der europäische Gerichtshof für Menschenrechte zum Verhalten Madrids und seiner (Pseudo-)Justiz sagen werden.

Natürlich weigern sich die rechten Parteien zu erklären, dass sie die Wahlen vom 21.12. anerkennen und damit den Ausnahmezustand aufheben werden, wenn sie die Wahlen, wie abzusehen, verlieren werden. Er bleibt einfach in Kraft, das neu gewählte Parlament ohne Rechte. So offen und dreist kündigt es die spanische Regierung jetzt schon an. Es soll wohl solange gewählt werden, bis die Mehrheit so abstimmt wie es die rechten Madrider Parteien wollen. Ein demokratischer Witz. Allerdings kopiert von der EU, wo über den Vertrag von Maastricht ebenfalls solange abgestimmt wurde bis ihn alle Länder, trotz ursprünglicher Ablehnung, als Vertrag von Lissabon angenommen hatten.

 

Diese Politik der rechten Parteien Spaniens wird von der EU und ihren wichtigen Mitgliedern insbesondere Deutschland und Frankreich (einschließlich derer Leit-Medien) vollständig geteilt. Richtig ist Folgendes: „Der Vertrag von Lissabon (2007) hat die in der Charta der Grundrechte der EU proklamierten Grundrechte und Grundfreiheiten der Unionsbürger für diese unmittelbar geltend gemacht. … Von einer ´neuen Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte auch die Einzelnen sind´, ist, soweit die Katalanen betroffen sind, nichts zu sehen, von den Rechten und Interessen der 7,5 Millionen Unionsbürger in Katalonien nicht die Rede. Stattdessen verteidigt die EU wie eine internationale Organisation alten Stils allein und kompromisslos die Positionen ihres Mitgliedsstaates Spanien. … Wer sich dem nationalen Recht nicht fügt, wird aus dem ´Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts´, den die EU zu bilden behauptet, ausgeschlossen, mag er sich noch so sehr zu Europa bekennen.“ (Prof. Dr. Bardo Fassbender, FAZ, 26.10.2017)

Die EU zeigt sich so als Organisation, die letztlich nur den wirtschaftlichen Interessen ihrer stärksten Mitglieder dient und sich weder für die sozialen noch die demokratischen Rechte ihrer BürgerInnen interessiert. Katalonien stellt sich so in eine Reihe mit der Politik gegen Griechenland, das Vereinigte Königreich, dem erst geraten wurde, eben auch so lange abzustimmen, bis der Austritt zurückgenommen wird und das jetzt mit harten Austrittsbedingungen bestraft werden soll (vgl. Chrsistian Bunke, LP21, Heft 39, S. 8f). Dass die EU sich selbst damit immer tiefer in eine Krise ihrer eigenen Legitimität verstrickt, scheint sie nicht zu sehen oder nicht sehen zu wollen. Die EU macht sich damit, außer für das Kapital, selbst obsolet.

Bisher zeigen sich in dieser Betonwand EU erst kleinste Haarrisse, nicht zuletzt dank des Auftretens von Ministerpräsident Puigdemont in Brüssel. Der Ministerpräsident der belgischen Region Flandern, Geert Bourgeois, dessen Partei stärkster Partner der belgischen Zentralregierung ist, kritisierte Rajoy, dass es entschieden zu weit gehe, dass man mit Repression die katalanische Politik, die im Kern die Ausübung des Rechts auf freie Meinung sei, unterdrückt. Ähnlich Ska Keller und Philippe Lamberts für die Grünen im Europa-Parlament. Die schottische Ministerpräsidentin Nicole Sturgeon verhehlte ihre Sympathie für eine katalanische Unabhängigkeit von Anfang an nicht. Vielleicht kann dies ein Ausgangspunkt für ein Loch in der Betonwand sein. (In Deutschland dagegen schweigen Grüne und Linkspartei eisern im vorauseilenden Gehorsam zukünftiger und bestehender Regierungsbeteiligungen)

 

Die BürgerInnen des Vereinigten Königreichs immerhin können froh sein, dass sie dieser ´Union´ bald nicht mehr angehören. Das Leitorgan des anglo-amerikanischen Kapitals, der Economist, schrieb schon in seinem Leitartikel vom 7.10.2017: (Leaders, How to save Spain) „Gewalt gegen Mengen friedlicher Bürger (gemeint ist die Gewaltanwendung am Referendumstag, TF) mag in Tibet funktionieren, kann jedoch in einer westlichen Demokratie nicht funktionieren. Im Wettbewerb zwischen formalem Recht und Naturrecht, gewinnt wohl immer das Naturrecht. Die Verfassungen existieren um den BürgerInnen zu dienen, nicht anders herum. … Jede Einigung muss ein Referendum mit der Möglichkeit für die Unabhängigkeit zu stimmen, enthalten. … David Cameron hatte Recht, das schottische Unabhängigkeits-Referendum 2014 zu ermöglichen. … Herr Rajoy sollte das gleiche tun.“

Womit sich der Kreis zu John Rawls geschlossen hat.

 

 

Thomas Fruth ist Mitglied in der Redaktion von Lunapark21, Rechtsanwalt und Notar

Zu den historischen Hintergründen der katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen vgl. seinen blog-Beitrag v. 3.10.2017

Auf die ökonomischen Aspekte der Auseinandersetzung zwischen den rechten Parteien Madrids und Katalonien werden wir in Heft 40, das vor Weihnachten erscheinen wird, ausführlich eingehen.

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