Griechenland – der neue Exodus

Die Meldungen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Griechenland sind seit vielen Jahren trist. Mit einer einzigen Ausnahme: Laut offizieller Statistik gibt es seit 2013 einen Rückgang der Arbeitslosenquote. Doch diese Statistik kommt nur dadurch zustande, dass es inzwischen eine massenhafte Abwanderung aus Griechenland gibt.

Griechenland ist ein Land, das mehrere Schübe von Auswanderungen erlebt hat. Die aktuelle ist besonders dramatisch und bringt dem Land wohl mehr volkswirtschaftliche Verluste als vorausgegangene. Rufen wir uns nochmals ins Gedächtnis: Als die neue Krise in Griechenland Anfang 2010 aufbrach, da lag die Arbeitslosenquote bei 12,7 Prozent. Die Schuldenquote betrug 120 Prozent (die öffentlichen Schulden überstiegen das BIP um 20 % oder sie betrugen 120% des BIP). Das Bruttoinlandsprodukt lag bei 300 Milliarden Euro (2008: 356 Mrd. Euro). Und das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf betrug 26.973 Euro (2008: 32.198 Euro). Diese ökonomischen Indikatoren galten als Krisensymptome – insbesondere, so hieß es, seien die Schulden zu hoch. Auch müssten höhere Wachstumsraten beim BIP erreicht werden. Schließlich gelte es, die Arbeitslosigkeit perspektivisch zurückzuführen.

Mit solchen Begründungen wurde die Souveränität des Landes faktisch abgeschafft; Griechenland wurde der Kontrolle der EU und des Internationalen Währungsfonds unterstellt, konkretisiert und personifiziert mit der Troika (EZB, EU und IWF). Damit übernahmen im Übrigen die EU und der IWF die Verantwortung für die weitere soziale und wirtschaftliche Entwicklung. Mit inzwischen drei umfassenden Kredit- und Wirtschaftsprogrammen, genannt „Memoranden“, wurde der Kurs in der Wirtschafts- und Sozialpolitik vorgegeben.

Sechs Jahre später, Mitte 2016, liegt die Arbeitslosenquote bei 25 Prozent – doppelt so hoch wie 2010. Die Schuldenquote beträgt 185 Prozent – gut 50 Prozent mehr als 2010. Das Bruttoinlandsprodukt beträgt 194 Milliarden Euro – das sind zwei Drittel des 2010er Niveaus (oder auch 54 Prozent des Niveaus von 2008). Das BIP pro Kopf ist auf 18.000 Euro gesunken – ebenfalls zwei Drittel des 2010er Levels (oder 56 % des 2008er Niveaus). Die Zahlen sprechen eigentlich für sich. Sie dokumentieren eine vernichtende Bilanz. Zugleich sind sie die Bestätigung einer an sich bekannten, alten Regel in der Wirtschaftspolitik: Man darf in der Krise nicht zusätzlich „sparen“. Doch der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble erklärte im Mai 2016, er sei „zum ersten Mal optimistisch“ hinsichtlich der Entwicklung in Griechenland. Die Reformen zeigten Wirkung. Verwiesen wird unter anderem darauf, dass die Arbeitslosenquote 2013 bei 27,4 Prozent lag; seither ist sie auf die genannten 25 Prozent gesunken. Das wird auch von Syriza, der führenden Regierungspartei, als Hoffnungsschimmer bezeichnet.

Tatsächlich handelt es sich hier nur um einen künstlichen statistischen Effekt. Seit 2013 haben mehr als 150.000 Griechinnen und Griechen im erwerbsfähigen Alter das Land verlassen. Seit 2008 waren es 425.000. Damit haben seit 2013 mindestens drei Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Alter Griechenland verlassen; seit 2008 waren es knapp zehn Prozent. Mehr als die Hälfte derjenigen, die das Land verließen, waren zum Zeitpunkt ihres Weggangs arbeitslos. Das aber heißt: Die Arbeitslosenquote in Griechenland ist ausschließlich durch diesen Exodus gesunken. Unter Berücksichtigung der erzwungenen Emigration liegt sie auch heute auf dem Rekordniveau von mehr als 27 Prozent.

Es handelt sich nicht um den ersten gewaltigen Exodus. Aber möglicherweise um denjenigen, der das Land am teuersten zu stehen kommt. Griechenland hat gewaltige Migrationsprozesse erlebt. Nach dem Ersten Weltkrieg führte Griechenland einen Krieg gegen die Türkei, damals massiv von Großbritannien und teilweise von Frankreich unterstützt. Der Krieg mündete in einer umfassenden militärischen Niederlage. Darauf wurden, als Resultat des Vertrags von Lausanne (1923) 1,25 Millionen Griechinnen und Griechen aus der Türkei nach Griechenland und 500.000 Türkinnen und Türken aus Griechenland in die Türkei zwangsumgesiedelt.

Im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren, die direkt auf den Krieg folgten, flohen zwischen 500.000 und 750.000 Griechinnen und Griechen ins Ausland. Hier handelte es sich vor allem um politische Flüchtlinge, die aufgrund des Siegs der rechten und reaktionären Kräfte das Land verlassen mussten. Im Zeitraum 1951 bis 1981 verließen mehr als eine Million Griechen ihr Land – dieses Mal handelte es sich vor allem um „Wirtschaftsflüchtlinge“: Das Land war nach Krieg, NS-Besatzung und Bürgerkrieg ausgepowert und verarmt und bot wenig Perspektive. Ein wesentlicher Teil dieser Emigranten ging nach Westdeutschland, wo sie als „Gastarbeiter“ Beschäftigung fanden. Bis zu 500.000 Griechinnen und Griechen kamen in mehreren Wellen in die BRD; ein erheblicher Teil von ihnen blieb bis heute im Land und bildet inzwischen einen festen Teil der Wohnbevölkerung in Deutschland.[1]

Der aktuelle Exodus aus Griechenland weist wesentliche Besonderheiten auf; er unterscheidet sich deutlich von den vorausgegangenen. Diejenigen, die im und nach dem Zweiten Weltkrieg flohen, waren überwiegend politisch Verfolgte. Sozial dürften sie überwiegend der Arbeiterklasse, der Bauernschaft und der unteren Mittelklasse zugehörig gewesen sein. Diejenigen, die vor allem in den 1960er und 1970er Jahren (als „Gastarbeiter“) das Land verließen, waren meist jung; sie zählten zur Arbeiterklasse bzw. zu den wenig Vermögenden und zu den wenig Ausgebildeten. Beim gegenwärtigen Exodus handelt es sich vor allem um gut und sehr gut ausgebildete Griechinnen und Griechen. 75 Prozent der 420.000, die seit 2008 das Land verließen, haben einen Hochschulabschluss. Zwar war rund die Hälfte der neu Emigrierten arbeitslos, als sie das Land verließen. Doch ebenso viele hatten Jobs, wenn auch offensichtlich keine mit befriedigender Bezahlung und ausreichender Perspektive. Insofern handelt es sich bei denjenigen, die in der neuen griechischen Krise das Land verlassen, keineswegs ausschließlich um junge Leute. Das Durchschnittsalter soll bei 30 Jahren liegen, oft sind es aber auch Leute um die 40 und älter.

Es ist sicherlich nicht einfach, den volkswirtschaftlichen Verlust zu berechnen, der durch diesen Exodus entsteht. Eine Nichtregierungsorganisation kam jüngst auf den Betrag von 50 Milliarden Euro, die der neue Exodus das Land gekostet habe.[2] Das scheint mir ausgesprochen realistisch zu sein. Wenn wir davon ausgehen, dass – nach offizieller Statistik – von den 420.000, die das Land verließen, rund 320.000 einen Hochschulabschluss hatten und wenn wir für die durchschnittlich vierjährige universitäre Ausbildung jeweils pro Person 120.000 Euro veranschlagen, dann erhalten wir bereits einen Betrag von 48 Milliarden Euro. Hier sind dann die Ausbildung in den vorausgegangenen Ausbildungsstufen und die Ausbildung der Emigranten ohne Hochschulabschluss nicht eingerechnet.

Der Betrag von 50 Milliarden Euro entspricht einem Viertel des aktuellen Bruttoinlandsprodukts. Er entspricht zugleich dem Betrag, der mit dem neuen – 2015 beschlossenen – Privatisierungsfonds durch Verkauf von griechischem Staatseigentum erzielt werden soll. Einiges spricht davon, dass die Erlöse aus den Privatisierungen deutlich unter der vor allem von Wolfgang Schäuble diktierten Marge von 50 Milliarden Euro liegen werden. Das Land ist zu sehr ausgepowert; die Immobilienpreise im Keller. Doch der 50-Milliarden-Euro-Gewinn aus dem Exodus überwiegend gut ausgebildeter Griechinnen und Griechen – diesen Gewinn konnten die reichen EU-Länder, allen voran die Bundesrepublik Deutschland, bereits einstreichen.


[1] 1967 gab es in der BRD 201.000 Griechinnen und Griechen; 1973 war mit 407.000 ein Höhepunkt erreicht. Seit 1985 liegt die Zahl der griechischstämmigen Bevölkerung in Westdeutschland bzw. in Deutschland bei knapp 300.000. Aufgrund der oft weitreichenden Integration ist eine genaue Abgrenzung kaum möglich; andere Statistiken nennen 350.000 Menschen mit „griechischem Migrationshintergrund“.

[2] Angaben der NGO Endeavor Greece. Übrige Angaben zu Struktur der aktuellen Emigration u.a. nach Lois Labrianidis, Generalsekretär für strategische und private Investitionen in Griechenland; Süddeutsche Zeitung vom 30. Juli 2016.

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