Ende eines Traums

Ferguson, Missouri
Sebastian Gerhardt. Lunapark21 – Heft 27

Am 9. August 2014 wurde in der Kleinstadt Ferguson, Missouri, der 18-jährige Schüler Mike Brown von dem Polizisten Darren Wilson erschossen. Mike Brown war schwarz, wie die Mehrheit der etwa 21000 Bewohner, Darren Wilson weiß, wie fast alle Polizisten der Stadt. Mike Brown hatte gerade die Schule abgeschlossen.

Die Proteste in den folgenden Wochen legten die Grundlagen des polizeilichen Rassismus ebenso offen wie die Folgen der Militarisierung der US-Polizei. Selbst Angehörige des US-Militärs waren vom Umfang der militärischen Ausrüstung der Polizei wie dem unbefangenen Umgang der Polizisten mit tödlichen Waffen erschrocken. Doch die Geschichte von Ferguson umfasst mehr – und ohne diese Geschichte sind die jüngsten Proteste nicht zu verstehen.

Großkonzern und kleine Stadt
Das US-Wirtschaftsmagazin Fortune titelte am 18. August „Normalbetrieb trotz Unruhen“. Die Wirtschaftsjournalisten wussten, dass in der kleinen Stadt eine große Firma ihre Zentrale hat: Emerson Electric steht auf Platz 121 der „Fortune 500“-Liste der größten US-Unternehmen und hat 2013 mit Rang 482 sogar den Klassenerhalt auf der „Global 500“-Liste desselben Wirtschaftsblattes verteidigen können. Sicher liegt die große Zeit der Industrie im Mittelwesten der USA eine Weile zurück. Weltweit hat Emerson 131600 Beschäftigte, davon 30000 in den USA – und noch etwa 1300 in Ferguson. In dieser Aufzählung liegt ein Schlüssel zur Lage in Ferguson heute: 78 Prozent der Jobs im Ausland; gerade mal noch 0,9 Prozent der Arbeitsplätze am Ort der Konzernzentrale.

Emerson Electric wurde 1890 im nahe gelegenen St. Louis gegründet. Im Rüstungsboom des Zweiten Weltkriegs wurde das Unternehmen zum weltgrößten Produzenten von Waffensystemen für Flugzeuge. Damals eröffnete sie erste Betriebsstätten in Ferguson. Heute ist Emerson ein Konzern mit Schwerpunkt in Energietechnik und Elektronik, der 2013 zwei Milliarden US-Dollar Gewinn machte. Die traditionelle Fertigung von Elektromotoren hat man schon lange aufgegeben. Bis in die 1970er Jahre verliefen die Karriere der Firma und der Aufstieg Fergusons parallel. Die Bevölkerung der Stadt erreichte 1970 fast 29000 Einwohner.

Doch dann begann der Konzern die Produktion in Niedriglohngebiete zu verlagern oder verließ sich ganz auf das Outsourcing. 1980 wohnten in Ferguson nur mehr knapp 25 Tausend Menschen. Ein langsamer Niedergang folgte, in dem die Welten von Emerson Electric und der Stadt sich voneinander trennten. Doch noch 1990 stellten die Weißen die Mehrheit (74 Prozent), denn auch im Ruhestand hielten viele am alten Wohnort fest.
Erst der Anstieg der Immobilienpreise seit den 1990ern eröffnete ihnen eine Alternative. Die alten Eigentümer verkauften ihre Häuser zu guten Preisen und zogen fort. Neue Bewohner erwarben die Häuser auf Kredit. Die Bevölkerung änderte sich: 2010 waren nur noch knapp 30 Prozent der Bewohner weiß, zwei Drittel Afroamerikaner. Es war die bescheidene Ausgabe des amerikanischen Traums: harte Arbeit, Familie, ein eigenes Haus.

Zwei Krisen zugleich
Der Traum ist aus. Die neuen Bewohner von Ferguson wurden von der Krise 2008 doppelt getroffen. Zum einen nahm ihnen der Fall der Immobilienpreise das, was ihr zumeist einziges Vermögen war: Von 6231 Hauseigentümern der Stadt ist heute die Hälfte „underwater“ – ihre Häuser sind weniger wert, als die Hypothek, die auf ihnen lastet. Landesweit trifft das „nur“ für 17 Prozent der US-Hauseigentümer zu. Dabei haben sich die Immobilienpreise auch in Ferguson schon ein bisschen erholt. 2011 kostete ein Haus hier durchschnittlich nur mehr 28499 Dollar. 2013 waren es schon wieder 45032 Dollar. Doch zehn Jahre zuvor, als viele heutige Bewohner ihre Häuser erworben hatten, lag das Preisniveau doppelt so hoch, bei etwa 90000 Dollar.
Die Bedienung der damals aufgenommenen Kredite ist für viele unmöglich geworden, weil sie in der Rezession ihre Jobs verloren haben. Und eine Besserung ist seither zwar für die Reichen eingetreten, nicht aber für die Mehrheit der Lohnabhängigen, selbst wenn sie wieder Arbeit haben. Betrug die offizielle Armutsquote in der Hochkonjunktur im Jahr 2000 noch 5 Prozent, waren es 2012 schon 24 Prozent. Unter Afroamerikanern ist die Arbeitslosenquote heute mit 26 Prozent mehr als viermal so hoch wie unter den Weißen: 6,2 Prozent. Die Hälfte der Haushalte in Ferguson verfügt über ein Einkommen von maximal 44000 Dollar im Jahr – im benachbarten St. Louis liegt dieser Wert, der Median, bei 75000 Dollar.

Immer wieder führte Zahlungsverzug zu Zwangsversteigerungen. Systematisch kaufen Immobilienfirmen diese Häuser auf und vermieten sie – ein neues Geschäftsmodell für die neue Zeit nach der Immobilienkrise. Das Angebot ist so reichlich, dass es die Mieten drückt. Damit ist es vielen möglich, wenn schon nicht in ihrem Haus, so doch in der Gegend zu bleiben.

Nur für die gänzlich weißen, lokalen Eliten in der Stadtverwaltung um Bürgermeister James Knowles liegt in der Krise auch eine Chance. Systematisch erwerben sie billige Grundstücke und spekulieren darauf, sie künftig gut „entwickeln“, also in teure Immobilien verwandeln zu können. Sie verkauften die Geschichte von Ferguson noch im Frühsommer 2014 als Erfolgsstory. Dann kam der 9. August, und sie sahen sich den Protesten der Bevölkerung und den Fernsehkameras gegenüber.

Ressourcen für Protest
Abgesehen von einigen Spuren der Straßenunruhen machte Ferguson Mitte August 2014 einen guten Eindruck auf Teilnehmer der Demonstrationen: Die Häuser aus den 1950ern sind gepflegt, saubere Vorgärten, wenig Leerstand, selbst bei den Geschäften. Neben Fast Food gibt es auch andere Restaurants. Sicher keine reiche Gegend, aber auch kein Verfall. Die Armutsquote im reicheren St. Louis liegt höher als hier, bei 29 Prozent.

Der Protest speist sich nicht aus Verelendung, sondern aus eigenen Ressourcen. Auch Arme haben ihre Möglichkeiten.

So hatten örtliche Initiativen in den letzten Jahren versucht, Zwangsversteigerungen zu verhindern, den Betroffenen die unzureichenden Mittel der öffentlichen Hilfsprogramme zugänglich zu machen oder direkt für soziale Lösungen zu mobilisieren. Netzwerke bildeten sich. In den Tagen der Proteste gegen den Tod von Mike Brown standen diese Aktiven in der ersten Reihe.

Mike Brown hatte seinen Abschluss im Normandy Schuldistrikt geschafft, trotz aller Widrigkeiten. Im Sommer letzten Jahres entzogen die Behörden diesem Schuldistrikt die offizielle Akkreditierung, da die Vergleichstests nur unzureichende Leistungen auswiesen. Von der sozialen Lage des Einzugsgebietes und der erzwungenen Fusion mit einem noch ärmeren Bezirk war da nicht die Rede, auch nicht von den gebrochenen Versprechen auf bessere finanzielle Unterstützung. Nach dem Verlust der Akkreditierung können Eltern ihre Kinder auf die Schulen in anderen Bezirken schicken, was den lokalen Schulen endgültig ihre Basis nehmen soll. Der Protest dagegen war nicht erfolgreich, doch folgenreich: Auch in diesen Gruppen stießen Menschen zu den Demonstrationen, die über Wochen andauerten.

Die Gewerkschaften des Greater St. Louis Central Labor Council konnten sich dagegen nicht zu einer Unterstützung der Proteste gegen die rassistische Polizeigewalt entschließen. Zwar ist die Mutter von Mike Brown, Lesley McSpadden, Gewerkschaftsmitglied. Eine ganze Reihe von Gewerkschaftsmitgliedern nahm an den Protesten teil. Der Local 6355 der Communcations Workers of America brachte einen entsprechenden Vorschlag für kollektive Aktionen ein. Doch nur eine weitere Gewerkschaft, die Busfahrer von der ATU, unterstützte ihn. Denn auch der Todesschütze Darren Wilson ist Gewerkschaftsmitglied.

Die Auseinandersetzung in den Gewerkschaften ist aber nicht zu Ende. Auf dem Kongress des Gewerkschaftsdachverbands AfL-CIO Missouris am 15. September sagte Richard Trumka, Präsident der AfL-CIO: „Wir können uns nicht freisprechen von den Problemen, die Mike Browns Tod aufwirft. … Rassismus ist Teil unseres Erbes als Amerikaner. … Unser Bruder hat den Sohn unserer Schwester getötet. Und wir müssen nicht auf das Urteil der Ermittler oder Gerichte warten, die uns sagen, wie fürchterlich das ist. Was können wir tun?“

Einige Dutzend Beschäftigte bei UPS Minneapolis haben darauf schon eine Antwort gefunden. Sie fanden heraus, dass bei den von ihnen auszuliefernden Paketen sehr spezielle Wünsche von Polizeibehörden erfüllt werden sollen. Die Firma Law Enforcement Targets produziert Schießscheiben aller Art, mit denen Polizisten trainieren sollen – und die nichts anderes als rassistische Feindbilder sind: der böse schwarze Jugendliche mit Waffe. Die Beschäftigten protestierten im laufenden Betrieb, informierten andere und gingen – selbstverständlich unter Pseudonym – an die Öffentlichkeit.

Sebastian Gerhardt lebt und arbeitet in Berlin und macht u.a. Führungen in der „Topographie des Terrors“ und im Deutsch-Russischen Museum Berlin Karlshorst.

Weitere Berichte im Netz: www.labornotes.org
Matthew Goldstein, Another Shadow in Ferguson as Outside Firms Buy and Rent Out Distressed Homes, New York Times, 4. September 2014

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